40

Alana Jennings wohnte in einer zweistöckigen Wohnung in einem Backsteinhaus nicht weit von Trion entfernt. Ich erkannte es sofort vom Foto wieder.

Wissen Sie, wie es ist, wenn man gerade etwas mit einem Mädchen anfängt und einem alles auffällt – wo sie wohnt, wie sie sich anzieht, ihr Parfüm – und alles so anders und neu scheint? Nun, das Seltsame daran war nur, dass ich so viel über sie wusste, mehr, als manche Männer über ihre Ehefrauen wissen, und doch nicht mehr als ein, zwei Stunden mit ihr verbracht hatte.

Ich fuhr mit meinem Porsche vor ihrem Haus vor – sind Porsches nicht auch dafür gemacht, um den Mädels zu imponieren? –, ging die Treppe hinauf und klingelte. Ihre Stimme zirpte durch die Sprechanlage, sie wäre gleich unten.

Alana trug eine weiße, bestickte Bauernbluse, schwarze Leggins, hatte die Haare hochgesteckt und ihre Furcht einflößende schwarze Brille zu Hause gelassen. Ich fragte mich, ob Bauern wirklich je Bauernblusen getragen hatten und ob es irgendwo auf der Welt überhaupt noch Bauern gab und wenn ja, ob sie sich selbst als Bauern betrachteten. Sie sah einfach umwerfend aus. Sie roch großartig, ganz anders als die Mädels, mit denen ich normalerweise ausging. Es war ein blumiger Duft namens Fleurissimo; ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass sie ihn immer, wenn sie nach Paris flog, in einem Laden namens House of Creed kaufte.

»Hey«, sagte ich.

»Hi, Adam.« Sie hatte glänzend roten Lippenstift aufgelegt und trug über einer Schulter eine winzige, quadratische schwarze Handtasche.

»Mein Wagen steht direkt hier«, sagte ich und versuchte so zu tun, als wäre es ganz normal, dass ein brandneuer, glänzend schwarzer Porsche direkt vor uns wartete. Sie bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick, sagte aber nichts. Wahrscheinlich fügte sie ihn im Stillen zu der Hose und dem Jackett von Zegna und dem offenen schwarzen Freizeithemd und vielleicht auch zu der Fünftausend-Dollar-Taucheruhr aus Italien hinzu. Und dachte, dass ich entweder ein Angeber war oder mich zu sehr bemühte. Sie trug eine Bauernbluse; ich trug Ermenegildo Zegna. Perfekt. Sie tat so, als wäre sie arm, und ich versuchte, reich zu wirken, und übertrieb es wahrscheinlich.

Ich öffnete für sie die Beifahrertür. Ich hatte vorher den Sitz zurückgeschoben, so dass sie viel Platz für ihre Beine hatte. Drinnen war die Luft angefüllt vom Geruch des neuen Leders. Am linken Heck des Wagens prangte ein Trion-Aufkleber, den sie noch nicht bemerkt hatte. Sie konnte ihn vom Inneren des Wagens aus auch nicht sehen, aber bald genug, wenn wir am Restaurant ausstiegen, würde sie ihn bemerken, und das war auch ganz gut so. Auf die eine oder andere Art würde sie ohnehin bald herausfinden, dass ich ebenfalls bei Trion arbeitete und eingestellt worden war, um ihren früheren Job zu machen. Der Zufall würde ein bisschen komisch wirken, schließlich hatten wir uns noch nicht auf der Arbeit gesehen, und je eher es zur Sprache käme, desto besser. Tatsächlich hatte ich schon ein paar alberne Sprüche vorbereitet: »Du willst mich auf den Arm nehmen. Im Ernst? Ich auch! Das ist ja komisch!«

Als ich sie zu ihrem Lieblingsthailänder fuhr, herrschte ein paar Minuten verlegenes Schweigen. Sie warf einen Blick auf das Tacho und dann wieder auf die Straße. »Du solltest hier besser aufpassen«, sagte sie. »Hier ist eine Radarfalle. Die Cops warten nur darauf, dass du über fünfzig fährst, dann sacken sie dich ein.«

Ich lächelte und nickte, erinnerte mich dann aber an eine Textzeile aus einem ihrer Lieblingsfilme, Frau ohne Gewissen, den ich mir am Abend zuvor ausgeliehen hatte: »Wie schnell war ich, Officer«, sagte ich in der künstlich-lakonischen Stimme von Fred MacMurray.

Sie sprang sofort darauf an. Kluges Mädchen. Sie grinste. »Ich würde sagen: etwa neunzig.« Sie hatte die Vampstimme von Barbara Stanwyck perfekt drauf.

»Wahrscheinlich steigen Sie jetzt von Ihrem Motorrad und verpassen mir einen Strafzettel.«

»Wahrscheinlich lasse ich Sie dieses Mal mit einer Verwarnung davonkommen«, antwortete sie und spielte mit schalkhaft blitzenden Augen mit.

Ich stockte ein paar Sekunden, aber dann fiel es mir wieder ein. »Wahrscheinlich wird das nichts nützen.«

»Wahrscheinlich werde ich Ihnen dann eins auf die Finger geben müssen.«

Ich lächelte. Sie war gut, und sie fuhr drauf ab. »Wahrscheinlich brech ich dann in Tränen aus und weine mich an Ihrer Schulter aus.«

»Wahrscheinlich können Sie sich dann an der Schulter meines Mannes ausweinen.«

»Das ist zu viel«, sagte ich. Ende der Szene. Schnitt, Kopie, Aufnahme im Kasten.

Sie lachte entzückt. »Woher kanntest du das?«

»Hab zu viel Zeit vor alten Schwarzweißfilmen verbracht.«

»Ich auch! Und Frau ohne Gewissen ist wahrscheinlich mein Lieblingsfilm.«

»Bei mir ist er gleichauf mit Sunset Boulevard.« Ein weiterer Lieblingsfilm von ihr.

»Genau! ›Ich bin groß. Die Filme sind klein geworden.‹«

Ich wollte damit aufhören, solange es so gut lief, denn mein Vorrat an gespeicherten Schwarzweißtrivialitäten ging langsam zur Neige. Ich lenkte das Gespräch auf Tennis, was sicherer war. Als ich vor dem Restaurant vorfuhr, leuchteten ihre Augen erneut auf. »Du kennst das? Das ist das beste!«

»Was mich betrifft, so kommt kein anderer Thailänder in Frage.« Ein Angestellter des Restaurants parkte den Wagen – ich konnte nicht glauben, dass ich die Schlüssel von meinem brandneuen Porsche einem Achtzehnjährigen aushändigte, der wahrscheinlich eine kleine Spritztour damit machen würde, wenn mal nicht viel zu tun war – und sie bekam den Trion-Aufkleber nicht zu Gesicht. Ich würde bald das Wo-arbeitest-du-denn-Thema anschneiden müssen. Besser ich schnitt es an, als dass sie es mir aus der Nase zog.

Eine Weile lief es tatsächlich großartig. Die Sache mit Frau ohne Gewissen hatte ihr die Befangenheit genommen und das Gefühl gegeben, es mit einem Seelenverwandten zu tun zu haben. Außerdem stand ich auf Ani DiFranco – was konnte sie mehr verlangen? Vielleicht ein wenig Tiefe – Frauen schien Tiefe oder zumindest hier und da ein Moment der Selbstreflexion bei einem Mann zu gefallen, aber darüber war ich längst hinaus.

Wir bestellten Papayasalat und vegetarische Frühlingsrollen. Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, ich wäre auch Vegetarier, aber dann beschloss ich, dass das wohl zu viel des Guten wäre, und außerdem wusste ich nicht, ob ich den Schwindel länger als eine Mahlzeit lang durchhalten konnte. Also bestellte ich Masaman Curry Chicken, und sie bestellte ein vegetarisches Curry ohne Kokosmilch – ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass sie gegen Krabben allergisch war – und wir beide tranken Thaibier.

Über Tennis kamen wir zum Tennis and Racquet Club, aber aus diesen gefährlichen Gewässern steuerte ich uns rasch wieder hinaus, sonst wäre vielleicht die Frage aufgekommen, wie und warum ich an jenem Tag dort gelandet war, also gingen wir zum Thema Golf über und dann zu Sommerferien. Sie benutzte »Sommer« als Verb: »sommern«. Sie merkte ziemlich rasch, dass wir nicht aus der gleichen Schicht kamen, aber das war okay. Sie wollte mich ja nicht heiraten oder ihrem Vater vorstellen, und ich hatte auch keine Lust, meinen familiären Hintergrund zu modifizieren, was eine Menge Arbeit bedeutet hätte. Außerdem schien es nicht notwendig zu sein – anscheinend fuhr sie sowieso auf mich ab. Ich erzählte ihr ein paar Geschichten über Ferienjobs in Tennisclubs und Nachtschichten in einer Tankstelle. Tatsächlich wirkte sie sogar, als sei ihr ihre privilegierte Herkunft etwas peinlich, denn sie erzählte mir eine kleine Notlüge, behauptete, ihre Eltern hätten sie gezwungen, einen Teil ihrer Ferien als Mädchen für alles zu arbeiten, »in der Firma, in der mein Dad gearbeitet hat«, wobei sie zu erwähnen vergaß, dass ihr Dad dort der CEO war. Außerdem wusste ich zufällig, dass sie nie in der Firma ihres Vaters gearbeitet hatte. Ihre Sommerferien verbrachte sie auf einer Ranch für reiche Pinkel in Wyoming, auf einer Safari in Tansania, mit ein paar anderen Freundinnen in einer von Daddy bezahlten Wohnung im sechsten Arrondissement in Paris oder im Peggy-Guggenheim-Museum am Canale Grande in Venedig. Sie hatte nicht die Wagen anderer voll getankt.

Als sie die Firma erwähnte, wo ihr Vater ›arbeitete‹, wappnete ich mich innerlich vor dem unvermeidlichen Thema Was-machst-du-wo-arbeitest-du. Aber das kam erst viel später. Ich war überrascht, als sie es auf eher merkwürdige Weise anging und eine Art Ratespiel daraus machte. Sie seufzte. »Nun, ich nehme an, wir müssen jetzt über unsere Jobs sprechen, oder?«

»Tja …«

»Dann können wir endlos darüber reden, was wir tagsüber gemacht haben, oder? Ich arbeite im High-Tech-Bereich, okay. Und du – warte, ich weiß es, sag’s mir nicht.«

Mir krampfte sich der Magen zusammen.

»Du hast eine Hühnerfarm.«

Ich lachte. »Wie kommst du darauf?«

»Yep. Ein Hühnerfarmer, der Porsche fährt und Klamotten von Fendi trägt.«

»Eigentlich von Zegna.«

»Wie auch immer. Tut mir Leid, du bist ein Mann, also möchtest du wahrscheinlich am liebsten über deine Arbeit sprechen.«

»Eigentlich nicht.« Ich modulierte meine Stimme zu einem Tonfall verschämter Aufrichtigkeit. »Ich ziehe es wirklich vor, im gegenwärtigen Moment zu leben und so achtsam wie möglich zu sein. Weißt du, da gibt es in Frankreich einen vietnamesischen Buddhisten namens Thich Nhat Hanh ((sic)), der sagt –«

»Oh, mein Gott«, sagte sie. »Das ist ja unheimlich. Ich fasse es nicht, dass du Thich Nhat Hanh kennst!«

In der Tat hatte ich noch nichts von diesem buddhistischen Mönch gelesen, aber nachdem ich gesehen hatte, wie viele Bücher von ihm sie bei Amazon bestellte, hatte ich mir ein paar buddhistische Webseiten angesehen.

»Klar«, sagte ich, als müsste jeder die gesammelten Werke von Thich Nhat Hanh gelesen haben. »Das Wunder besteht nicht darin, auf dem Wasser zu gehen, sondern darin, auf der Erde zu gehen.« Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das richtig zitiert hatte, aber genau in diesem Augenblick vibrierte mein Handy in der Jackentasche. »Entschuldige kurz«, sagte ich, nahm es hervor und prüfte die Nummer des Anrufers.

»Eine Sekunde«, entschuldigte ich mich und ging dran.

»Adam«, hörte ich Antwoines tiefe Stimme. »Sie kommen besser hierher. Es geht um Ihren Dad.«

Paranoia
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