82

Gegen Mittag war ich zurück in meiner Wohnung und rief unverzüglich Seth an.

»Ich werde mehr Geld brauchen, Mann«, sagte er.

Ich hatte ihm bereits ein paar tausend Dollar gegeben, von dem Konto, das von Wyatt oder wem auch immer gespeist wurde. Ich war überrascht, dass er schon alles ausgegeben hatte.

»Ich wollte keine halben Sachen, kein billiges Zeugs«, sagte er. »Ich habe nur professionelle Ausrüstung.«

»Ich schätze, die brauchen wir auch«, sagte ich. «Auch wenn wir sie nur einmal benutzen.«

»Soll ich auch Uniformen kaufen?«

»Klar.«

»Was ist mit den Ausweisen?«

»Ich arbeite dran«, sagte ich.

»Bist du nervös?«

Einen Moment zögerte ich und wollte schon lügen, um ihm Mut zu machen, aber dann konnte ich nicht. »Total«, sagte ich.

Aber ich wollte nicht darüber nachdenken, was geschah, wenn alles schief ging. Ein exklusiver Teil meines Hirns war von Sorge besetzt und ging immer wieder zwanghaft den Plan durch, den ich nach dem Treffen mit Seths Boss entworfen hatte.

Und dann war da noch ein Teil meines Hirns, der sich einfach in einen Tagtraum flüchten wollte. Ich wollte über Alana nachdenken. Ich wollte darüber nachdenken, welche Ironie des Schicksals doch die ganze Situation war: wie die von vorne bis hinten geplante Verführung zu diesem unerwarteten Ende geführt hatte, dass ich mich – ungerechterweise – für meinen Betrug belohnt fühlte.

Meine Gefühle wechselten von schlechtem Gewissen darüber, was ich ihr antat, und überwältigender Zuneigung zu ihr, was ich bis dahin eigentlich noch nie empfunden hatte. Ständig kamen mir Kleinigkeiten in den Sinn: wie sie sich die Zähne putzte, mit der gewölbten Hand Wasser vom Hahn schöpfte, anstatt einen Becher zu benutzen; wie die anmutige Mulde im Lendenbereich in einer sanften Dünung bis zur Spalte ihres Gesäßes führte; wie unglaublich sexy sie ihren Lippenstift auftrug … Ich dachte an ihre samtweiche Stimme, ihr verrücktes Lachen, ihren Humor, ihre Sanftheit.

Und ich dachte – und das war bei weitem das Seltsamste – über eine gemeinsame Zukunft nach, ein Gedanke, der für einen Mann Ende zwanzig normalerweise Furcht erregend ist, mir sonderbarerweise aber gar nicht mehr Furcht erregend vorkam. Ich wollte diese Frau nicht verlieren. Ich fühlte mich, als wäre ich bei einem Seven-Eleven vorbeigegangen, um mir ein Sixpack Bier und ein Lotterielos zu kaufen, und hätte dann den Hauptgewinn gemacht.

Und deswegen wollte ich, dass sie niemals erfuhr, was ich wirklich im Schilde führte. Es flößte mir Angst ein. Diese düstere, schreckliche Vorstellung tauchte ständig vor mir auf und störte meine alberne Zukunftsvision wie dieses Kinderspielzeug, das Stehaufmännchen mit dem Gewicht am unteren Ende, das immer wieder nach oben schnellt, wenn man es weggedrückt hat.

Ich sah vor mir, wie ein verschwommenes Schwarzweißbild in meinen transparenten Farbfilm geschnitten wurde – ein Foto von einer Überwachungskamera, auf dem ich in ihrem Wagen auf dem dunklen Parkplatz saß, den Inhalt ihres Laptops auf CD-ROM überspielte, Wachsabdrücke von ihren Schlüsseln anfertigte und ihren Ausweis kopierte.

Ich drückte das böse Stehaufmännchen nieder und sah unsere Hochzeit, sah, wie Alana ernst und hinreißend schön den Gang hinunterschritt, geleitet von ihrem Vater, einem Mann mit silbergrauem Haar, kräftigem Unterkiefer und Cutaway.

Bei der Zeremonie fungierte Jock Goddard als Friedensrichter. Alanas gesamte Familie war zugegen. Ihre Mutter sah aus wie Diane Keaton in Der Vater der Braut, ihre Schwestern waren nicht so hübsch wie Alana, aber süß, und alle waren begeistert – schließlich war es ein Tagtraum –, dass sie mich heiratete.

Unser erstes gemeinsames Haus – ein Haus, keine Wohnung – wäre wie in einer Stadt voller alter Bäume im Mittleren Westen; ich stellte mir das großartige Haus vor, in dem Steve Martins Familie in Der Vater der Braut wohnt. Wir beide sind schließlich hoch dotierte Manager. Ich trage sie mühelos über die Schwelle, und sie lacht, weil ich mich so altmodisch und klischeehaft benehme, und dann vögeln wir zur Einweihung in jedem Zimmer des Hauses, einschließlich des Bads und des Wäscheschranks. Wir leihen uns Filme aus und essen im Bett chinesisches Essen, mit Holzstäbchen, aus den Kartons des Lieferservices, und ab und zu werfe ich einen verstohlenen Blick zu ihr, weil ich es nicht fassen kann, dass ich mit dieser unglaublichen Frau verheiratet bin.

Meachams Schläger hatten mir meinen Computer nebst Equipment zurückgebracht, was auch gut war, weil ich es brauchte.

Ich steckte die CD-ROM mit all dem Zeug, das ich von Alanas Laptop kopiert hatte, ins Laufwerk meines Computers. Ich fand eine Menge E-Mails, die davon handelten, welch ungeheures Marktpotential AURORA besaß. Wie es dazu prädestiniert war, den Markt zu dominieren, wie es so schön heißt. Wie es die Leistungsfähigkeit der Computer steigern würde, und wie der AURORA-Chip wirklich die Welt verändern würde.

Eines der interessanteren Dokumente war der Zeitplan der Präsentation von AURORA. Sie sollte am Mittwoch in vier Tagen im Besucherzentrum von Trion stattfinden, einem gigantischen, auf modern getrimmten Hörsaal. Erst einen Tag vorher sollen die Medien per E-Mail, Fax und Telefon benachrichtigt werden. Zweifelsohne würde es ein riesiges öffentliches Event werden. Ich druckte den Zeitplan aus.

Aber am meisten faszinierte mich der Grundriss des Stockwerks und die Sicherheitsmaßnahmen, denen alle Mitarbeiter von AURORA unterworfen waren.

Dann öffnete ich eines der Abfallschubfächer in meiner Küchenzeile. Dort hatte ich ein paar Gegenstände in wiederverschließbaren Beuteln aufbewahrt, die ich zusätzlich in einen Müllbeutel gesteckt hatte. Einer davon war die CD von Ani DiFranco, die ich herumliegen lassen hatte, weil ich hoffte, sie würde sie in die Hand nehmen und sich ansehen. Was sie getan hatte. Ein weiterer Gegenstand war das Wasserglas, das sie hier benutzt hatte.

Meacham hatte mir ein Päckchen zum Abnehmen von Fingerabdrücken gegeben, das ein Fläschchen Puder, durchsichtiges Klebeband und einen Fiberglas-Pinsel enthielt. Ich streifte mir Latex-Handschuhe über und bestäubte die CD und das Wasserglas mit ein wenig schwarzem Graphitpuder.

Der bei weitem beste Daumenabdruck befand sich auf der CD. Ich nahm ihn vorsichtig mit einem Streifen Klebeband ab, den ich in ein steriles Plastikdöschen steckte.

Dann formulierte ich eine E-Mail für Nick Wyatt.

Sie war natürlich an ›Arthur‹ adressiert.

Montagabend/Dienstagmorgen Komplettlieferung einschließlich Mustern. Dienstagmorgen früh Übergabe. Zeitpunkt und Ort bestimmen Sie. Nach Komplettlieferung Ende der Geschäftsbeziehung.

Ich wollte den richtigen Ton treffen. Es sollte klingen, als grollte ich ihnen. Ich wollte nicht, dass sie argwöhnisch wurden.

Aber würde Wyatt persönlich zum Treffen erscheinen?

Ich schätze, das war die große Frage. Es war zwar nicht unbedingt notwendig, dass Wyatt auftauchte, aber mir war es wichtig. Es gab keine Möglichkeit für mich, Wyatt dazu zu zwingen. Im Gegenteil, wenn ich darauf bestand, wäre er wahrscheinlich gewarnt und würde gerade nicht auftauchen. Aber mittlerweile wusste ich genug von Wyatts Psyche, um ganz zuversichtlich zu sein, dass er niemandem sonst diese Sachen anvertrauen würde.

Denn ich würde Nick Wyatt geben, was er wollte.

Ich würde ihm den echten Prototyp vom AURORA-Chip geben, den ich, mit Seths Hilfe, aus dem geschützten fünften Stock von Flügel D stehlen würde.

Ich musste ihm den echten, den wirklichen AURORA-Prototyp geben. Aus einer ganzen Anzahl von Gründen durfte es kein gefälschter sein. Da Wyatt selbst Engineer war, würde er wahrscheinlich sofort erkennen, ob er echt war oder nicht.

Aber der Hauptgrund lag darin, dass der AURORA-Prototyp, wie ich aus Camillettis E-Mails und Alanas Akten ersehen hatte, eine mikroskopisch kleine Identifikationsmarkierung trug, eine Seriennummer und das Logo von Trion, die mit einem Laser eingeätzt worden und nur unter dem Mikroskop zu erkennen waren.

Deshalb wollte ich, dass Wyatt sich im Besitz des gestohlenen Chips befand. Des echten.

Denn sobald er – oder meinetwegen auch Meacham – den geklauten Chip entgegennahm, hatte ich ihn. Das FBI würde früh genug benachrichtigt werden, um eine Spezialeinheit bereitzustellen, aber sie würden erst in der allerletzten Minute Namen, Orte und so weiter erfahren. Ich allein würde alles unter Kontrolle haben.

Howard Shapiro, Seths Boss, hatte einen Anruf für mich getätigt. »Vergessen Sie den Handel mit dem Typ bei der Staatsanwaltschaft«, hatte er gesagt. »Bei so etwas Riskantem wendet der sich glatt an Washington, und dann dauert es eine Ewigkeit. Vergessen Sie’s. Wir wenden uns direkt ans FBI – die sind die Einzigen, die das Spiel auf diesem Niveau mitspielen werden.«

Ohne Namen zu nennen, hatte er einen Deal mit dem FBI ausgehandelt. Wenn alles glatt lief und ich ihnen Nick Wyatt lieferte, würde ich eine Bewährungsstrafe kriegen, mehr nicht.

Nun, ich würde ihnen Wyatt liefern. Aber auf meine Art.

Paranoia
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