29

Früh an diesem Abend fuhr ich zu Trion. Die Tiefgarage war fast leer, die Einzigen, die hier parkten, waren wahrscheinlich Leute vom Sicherheitsdienst, die Leute vom Operating-Center, der vierundzwanzig Stunden am Tag im Betrieb war, und der eine oder andere Arbeitssüchtige – der ich ja auch zu sein vorgab. Ich kannte die Empfangsbeauftragte nicht, eine Hispanoamerikanerin, die nicht gerade glücklich wirkte, hier zu sein. Sie würdigte mich kaum eines Blickes, als ich eintrat, aber ich grüßte sie dennoch und versuchte, gestresst oder so zu wirken. Ich ging zu meinem Arbeitsplatz und arbeitete wirklich ein bisschen an ein paar Tabellen über Maestro-Verkaufszahlen in einer Region der Erde, die wir ENOA nannten, für Europa/Naher Osten/Asien. Die Zahlen waren nicht besonders gut, aber Nora wollte, dass ich sie trotzdem auf irgendwas überprüfte, was auch nur im Ansatz ermutigend aussah.

Ein Großteil des Stockwerks war dunkel. Ich musste in meinem Bereich sogar die Lichter anschalten. Es war nervenaufreibend.

Meacham und Wyatt wollten die Personalakten von jedem, der mit AURORA zu tun hatte. Sie wollten, dass ich den beruflichen Hintergrund von jedem herausfand, damit sie erfuhren, in welcher Firma und welcher Position sie in der letzten Zeit gearbeitet hatten. Das war eine gute Möglichkeit, einen Eindruck zu bekommen, um was es sich bei AURORA eigentlich handelte.

Aber man konnte nicht einfach bei der Personalabteilung reinschneien, ein paar Schubladen in den Aktenschränken aufziehen und sich herausnehmen, was man wollte. Die Abteilung für Human Resources war bei Trion im Gegensatz zu fast allen anderen Abteilungen der Firma ein geschützter Bereich. Erst einmal waren ihre Computer nicht über die firmeneigene Datenbank zugänglich; es war ein vollkommen eigenes Netzwerk. Ich schätze, das war ganz sinnvoll – Personalakten enthielten schließlich alle möglichen Privatinformationen wie Zeugnisse, Angaben über den Wert von Rentenversicherungen, Aktien und so weiter. Vielleicht befürchtete man in der HR auch, ein einfacher Angestellter würde dahinter kommen, wie viel mehr die Führungsetage von Trion kriegte, und es käme daraufhin zu Aufständen in den niederen Rängen.

Die Personalabteilung lag im dritten Stock von Flügel E, das war vom New Product Marketing eine ganz schöne Strecke. Auf dem Weg gab es ziemlich viele verschlossene Türen, aber wahrscheinlich konnte ich sie mit meinem Ausweis öffnen.

Dann fiel mir wieder ein, dass irgendwo aufgezeichnet wurde, wer wann welche Kontrollpunkte betrat. Die Information wurde gespeichert, das bedeutete allerdings nicht notwendigerweise, dass sich das irgendjemand ansah oder etwas damit machte. Doch wenn es später Ärger gäbe, würde es nicht gut aussehen, dass ich an einem Sonntagabend aus irgendeinem Grunde von meiner zur Personalabteilung spaziert war und digitale Brotkrumen hinterlassen hatte.

Also verließ ich das Gebäude, nahm einfach den Aufzug nach unten und ging durch einen der Hinterausgänge. Der Trick bei diesen Sicherheitssystemen war nämlich, dass nur aufgezeichnet wurde, wenn jemand das Gebäude oder einen Bereich betrat, nicht, wenn er sie verließ. Wenn man hinausging, benutzte man seinen Ausweis nicht. Das hatte vielleicht was mit feuerpolizeilichen Bestimmungen zu tun, keine Ahnung. Aber es bedeutete, ich konnte das Gebäude verlassen, ohne dass es jemand mitbekam.

Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Das Trion-Gebäude war erleuchtet, seine Oberfläche aus gebürstetem Stahl leuchtete, die Fensterscheiben waren dunkelblau. Es war relativ ruhig hier draußen, man hörte nur hier und da das Zischen eines vorbeifahrenden Wagens.

Ich ging rüber zum E-Flügel, wo alle möglichen Verwaltungsabteilungen untergebracht zu sein schienen – Zentraleinkauf, Systemmanagement und so weiter – und sah, dass jemand aus einem Hintereingang herauskam.

»Hey, können Sie die Tür aufhalten?«, rief ich. Mit meinem Trion-Ausweis winkte ich dem Typ zu, der aussah, als gehörte er zu den Reinigungskräften oder so. »Der verdammte Ausweis funktioniert nicht richtig.«

Der Mann hielt mir, ohne mich auch nur anzusehen, die Tür auf, und ich marschierte einfach hinein. Nichts wurde aufgezeichnet. Soweit es das zentrale Überwachungssystem betraf, war ich noch immer oben an meinem Arbeitsplatz.

Ich nahm die Treppe zum dritten Stock. Die Tür zu dieser Etage war nicht verschlossen. Das hatte bestimmt ebenfalls mit der Feuerpolizei zu tun; in Gebäuden über einer bestimmten Höhe musste man im Notfall über eine Treppe zu den verschiedenen Stockwerken kommen können. Wahrscheinlich befand sich auf manchen Stockwerken unmittelbar hinter dem Ausgang zur Treppe ein Kontrollpunkt, wo die Ausweise gelesen wurden. Aber im dritten Stockwerk nicht. Ich marschierte direkt in den Empfangsbereich der Personalabteilung.

Die Wartezone hatte genau die richtige HR-Atmosphäre: viel würdiges Mahagoni, das einem bedeutete: Wir sind ein ernst zu nehmendes Unternehmen und hier geht’s um Ihre Karriere – und viele bunte, einladend bequeme Stühle. Was bedeutete, dass man hier immer damit rechnen musste, sich endlose Zeiten den Hintern platt sitzen zu dürfen.

Ich sah mich nach Überwachungskameras um, entdeckte aber keine. Nicht, dass ich welche erwartet hätte; dies war hier schließlich keine Bank – oder ein Geheimprojekt. Ich wollte nur sichergehen. Zumindest so sicher, wie es möglich war.

Die Lichter waren gedimmt, was den Bereich noch Ehrfurcht gebietender wirken ließ. Oder gespenstischer.

Ein paar Sekunden lang stand ich einfach nur da und dachte nach. Nirgendwo waren Reinigungskräfte in Sicht, die mich hätten einlassen können; wahrscheinlich kamen sie spät abends oder früh morgens. Das wäre die beste Möglichkeit gewesen. Jetzt musste ich stattdessen die alte Mein-Ausweis-funktioniert-nicht-Masche versuchen, die mich bis hierher gebracht hatte. Ich ging wieder nach unten, zurück zur Eingangshalle, wo sich eine Empfangsbeauftragte mit leuchtend messingrotem Haar auf einem der Überwachungsmonitore eine Wiederholung von Survivor ansah.

»Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige, der am Sonntag arbeiten muss«, sagte ich zu ihr. Sie blickte auf, lächelte höflich und wandte sich wieder ihrer Serie zu. Ich sah aus, als gehörte ich hierher, ich hatte meinen Ausweis am Gürtel und ich kam aus dem Gebäude, also war wohl alles in Ordnung, oder? Sie war nicht der gesprächige Typ, aber das konnte mir nur nutzen – sie wollte einfach in Ruhe Survivor gucken. Also würde sie alles tun, um mich loszuwerden.

»Hey, hören Sie«, sagte ich, »tut mir Leid, dass ich Sie störe, aber haben Sie diesen Apparat, mit dem man die Ausweise repariert? Ich bin zwar nicht gerade scharf darauf, wieder ins Büro zurückzugehen, aber ich muss, sonst bin ich den Job los, und das verdammte Ausweislesegerät lässt mich nicht rein. Es ist, als wüsste es, dass ich eigentlich zu Hause sein und Football gucken müsste, verstehen Sie?«

Sie lächelte. Sie war vielleicht nicht gewohnt, dass die Angestellten von Trion sie überhaupt zur Kenntnis nahmen. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie. »Aber tut mir Leid, die Zuständige ist erst morgen wieder da.«

»O Mann. Wie soll ich dann reinkommen? Ich kann nicht bis morgen warten. Ich bin total am Arsch.«

Sie nickte und griff zum Telefon. »Frank«, sagte sie, »könntest du uns mal helfen?«

Frank, der Wachmann, tauchte ein paar Minuten später auf. Er war ein kleiner, drahtiger Schwarzer in den Fünfzigern, der über seinem bereits ergrauenden Haarkranz ganz offensichtlich ein Toupet trug, denn in diesem Bereich war sein Haar pechschwarz. Ich habe nie verstanden, warum sich die Leute mit einem Haarteil nicht die Mühe machen, es in regelmäßigen Abständen auf den neuesten Stand zu bringen, damit es wenigstens halbwegs echt aussieht. Wir fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock. Ich lieferte dem Wachmann irgendeinen komplizierten Quatsch darüber, dass die Personalabteilung gemäß ihrer Hierarchie unterschiedliche Ausweissysteme hätte, aber er war nicht besonders daran interessiert. Er wollte über Sport sprechen, und den Gefallen konnte ich ihm tun, kein Problem. Er war deprimiert über die Denver Broncos, also tat ich, als ginge es mir ebenso. Als wir zur HR kamen, nahm er seinen Ausweis, der ihm wahrscheinlich Zugang zu allen Bereichen des Gebäudes verschaffen konnte. Mit dem wedelte er vor dem Kartenleser. »Arbeiten Sie nicht so lange«, sagte er.

»Danke, Bruder«, antwortete ich.

Er drehte sich noch einmal nach mir um. »Lassen Sie den Ausweis besser bald reparieren«, sagte er.

Und ich war drinnen.

Paranoia
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