27

Ich fuhr in derartiger Hochstimmung von meinem Minidate mit Alana Jennings zur Wohnung meines Vaters, dass ich mich fühlte, als hätte ich eine Rüstung an. Jetzt konnte nichts von dem, was er sagte oder tat, zu mir durchdringen.

Als ich die splittrigen Holzstufen zum Eingang hinaufstieg, konnte ich sie streiten hören – das hohe, nasale Zetern meines Vaters, das mehr und mehr klang wie von einem Vogel, und Antwoines tief und volltönend grollende Antwort. Ich fand sie im ersten Stock im Badezimmer, das mit einem Luftbefeuchter in ein Dampfbad umfunktioniert worden war. Dad lag mit dem Gesicht nach unten auf einer Liege, gestützt von ein paar Kissen unter Kopf und Brust. Antwoine, dessen hellblaue Krankenhauskluft klatschnass war, bearbeitete Dads nackten Rücken mit seinen riesigen Händen. Als ich die Tür öffnete, blickte er auf.

»Hey, Adam.«

»Dieser Hurensohn will mich umbringen«, kreischte Dad.

»So werden Sie Ihren Schleim in den Lungen los«, sagte Antwoine. »Der ganze Mist hat sich wegen der beschädigten Zilien dort aufgestaut.« Mit dumpfen Schlägen widmete er sich wieder seiner Aufgabe. Dads Rücken war kränklich bleich, bläulich weiß, faltig und schlaff. Er schien überhaupt keinen Muskeltonus zu haben. Ich wusste noch, wie der Rücken meines Vaters aussah, als ich ein Kind war: sehnig, voller Muskelstränge und fast Furcht einflößend. Dies hier war die Haut eines alten Mannes, und ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen.

»Dieser Bastard hat mich angelogen«, sagte Dad mit von den Kissen erstickter Stimme. »Er sagte, ich würde nur ein Dampfbad bekommen. Kein Wort davon, dass er mir die gottverdammten Rippen brechen würde. Herrgott, ich nehme Steroide, meine Knochen sind mürbe, Sie verdammter Nigger!«

»Hey, Dad!«, schrie ich. »Das reicht!«

»Ich bin nicht Ihr Knastflittchen, Nigger«, fuhr er fort.

Antwoine zeigte keinerlei Reaktion. Er schlug weiterhin rhythmisch auf Dads Rücken.

»Dad«, sagte ich. »Dieser Mann ist weitaus größer und stärker als du. Ich glaube, es ist keine gute Idee, ihn vor den Kopf zu stoßen.«

Antwoine sah mit schläfrigem, amüsiertem Blick auf. »Hey, Mann. Ich musste im Knast jeden Tag mit der Aryan Nation klarkommen. Glauben Sie mir, dagegen ist ein geschwätziger alter Krüppel gar nichts.«

Ich zuckte zusammen.

»Sie gottverdammter Hurensohn!«, kreischte Dad. Ich bemerkte, dass er nicht das N-Wort benutzt hatte.

Später war Dad vor den Fernseher verfrachtet worden und hing mit dem Schlauch in der Nase an seinem Sauerstoffgerät.

»Das Ganze funktioniert nicht«, sagte er und blickte missmutig auf den Bildschirm. »Hast du gesehen, was für Kaninchenfutter er mir geben will?«

»Das nennt man Obst und Gemüse«, entgegnete Antwoine. Er saß ein paar Meter entfernt auf einem Stuhl. »Ich weiß, was ihm schmeckt – das sehe ich an der Vorratskammer. Rindsgulasch in der Familiendose, Wiener Würstchen und Leberwurst. Tja, nicht mit mir. Sie brauchen was Gesundes, Frank, um Ihr Immunsystem aufzubauen. Wenn Sie sich erkälten, haben Sie ruckzuck eine Lungenentzündung und landen im Krankenhaus, und was mache ich dann? Wenn Sie im Krankenhaus sind, brauchen Sie mich nicht.«

»Herrgott!«

»Cola gibt’s auch nicht mehr, die Zeiten sind vorbei. Sie brauchen Flüssigkeit, um den Schleim zu verdünnen, nichts mit Koffein. Sie brauchen Kalium und Kalzium, wegen der Steroide.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf seine Handfläche, als wäre er ein Trainer für den Weltmeister im Schwergewicht.

»Egal, was Sie für Kaninchenfutter machen, ich esse es jedenfalls nicht«, sagte Dad.

»Dann bringen Sie sich um. Sie brauchen zehnmal so viel Energie zum Atmen wie andere, also müssen Sie essen, Kraftreserven, Muskelmasse aufbauen und so weiter. Wenn Sie unter meiner Obhut schlapp machen, übernehme ich keinerlei Verantwortung.«

»Als würde Sie das überhaupt interessieren«, sagte Dad.

»Glauben Sie vielleicht, ich bin hier, um Ihnen beim Sterben zu helfen?«

»Sieht für mich irgendwie so aus.«

»Wenn ich Sie umbringen wollte, warum sollte ich es dann auf die langsame Tour machen?«, entgegnete Antwoine. »Oder meinen Sie vielleicht, das wäre ein Spaß für mich? Ich würde es genießen

»Das ist mal ’ne Standpauke, wie?«, sagte ich.

»Hey, nun guckt euch die Uhr von dem Mann an«, rief Antwoine plötzlich aus. Ich hatte vergessen, die Panerai abzulegen. Vielleicht hatte ich unterbewusst gemeint, sie würde ihm oder meinem Dad gar nicht auffallen. »Lassen Sie mich mal sehen.« Er kam zu mir und untersuchte sie staunend. »Mann, das ist eine Fünftausend-Dollar-Uhr!« Da lag er ziemlich richtig. Ich war verlegen, das war mehr, als er in zwei Monaten verdiente. »Ist das eine von diesen italienischen Taucheruhren?«

»Yep«, sagte ich hastig.

»Ach, du willst mich doch verarschen«, meldete sich Dad mit einer Stimme, die klang wie ein rostiges Scharnier. »Das glaub ich doch nicht, verflucht noch mal.« Jetzt starrte er ebenfalls auf meine Uhr. »Du hast fünftausend Dollar für eine gottverdammte Uhr ausgegeben? Du Versager! Hast du eigentlich eine Ahnung, wie ich mir für fünftausend Dollar den Arsch aufreißen musste, um dich durch die Schule zu bringen? Und du gibst das für eine verfickte Uhr aus?«

»Es ist mein Geld, Dad.« Dann fügte ich schwach hinzu: »Es ist eine Investition.«

»O Gott, glaubst du vielleicht, ich bin ein Idiot? Eine Investition

»Dad, hör mal, ich habe gerade eine riesige Beförderung hinter mir. Ich arbeite jetzt bei Trion Systems für etwa das Doppelte von dem, was ich bei Wyatt bekommen habe, okay?«

Er warf mir einen abschätzenden Blick zu. »Was zahlen sie dir denn, dass du fünftausend – Herrgott, ich kann’s gar nicht aussprechen – einfach so aus dem Fenster werfen kannst?«

»Sie zahlen mir eine Menge, Dad. Und wenn ich mein Geld aus dem Fenster werfen will, dann tue ich es eben. Ich habe es verdient.«

»Du hast es verdient«, wiederholte er mit triefender Ironie. »Solltest du mir zufällig die« – er holte tief Luft – »ich weiß nicht wie viel Zehntausende von Dollars, die ich in dich gesteckt habe, zurückzahlen wollen, dann nur zu!«

Fast hätte ich ihm gesagt, wie viel Geld ich in ihn steckte, konnte mich aber gerade noch zurückhalten. Der kurze Sieg wäre es nicht wert gewesen. Stattdessen sagte ich mir wieder und wieder: Dies ist nicht dein Dad, dies ist ein böser Cartoon von ihm, animiert von Hanna-Barbera, verzerrt bis zur Unkenntlichkeit von Prednisone und anderen persönlichkeitsverändernden Substanzen. Aber natürlich wusste ich, dass das im Grunde nicht stimmte, dass er eigentlich immer schon ein altes Arschloch gewesen war und jetzt nur noch ein bisschen aufgedreht hatte.

»Du lebst in einer Phantasiewelt«, fuhr Dad fort und holte röchelnd Luft. »Du meinst, wenn du dir Zweitausend-Dollar-Anzüge und Fünfhundert-Dollar-Schuhe und Fünftausend-Dollar-Uhren kaufst, wirst du einer von ihnen, stimmt’s?« Er holte wieder Luft. »Tja, dann will ich dir mal was verraten. Du trägst ein verficktes Halloween-Kostüm, das ist alles. Du hast dich verkleidet. Ich sag dir das, weil du mein Sohn bist und dir sonst niemand die Wahrheit sagt. Du bist nichts als ein Affe in einem verfickten Smoking.«

»Was willst du damit sagen?«, murmelte ich. Ich bemerkte, dass Antwoine taktvoll das Zimmer verließ. Mein Gesicht war hochrot.

Er ist ein kranker Mann, sagte ich zu mir. Er hat ein Emphysem im Endstadium. Er stirbt. Er weiß nicht, was er sagt.

»Du glaubst, du würdest einer von ihnen werden? Das würde dir doch gefallen, Junge, oder? Du glaubst, sie werden dich in ihre Privatclubs einladen, dich ihre Töchter vögeln und dich mit ihnen ihr bepisstes Polo spielen lassen?« Er sog eine winzige Menge Luft ein. »Aber sie wissen, wer du bist, mein Sohn, und woher du kommst. Vielleicht darfst du eine Weile in ihrem Sandkasten spielen, aber sobald du anfängst zu vergessen, wer du wirklich bist, wird irgendein Arschloch kommen und dich daran erinnern.«

Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Er machte mich rasend. »So läuft das nicht in der Geschäftswelt, Dad«, sagte ich mit geduldiger Stimme. »Das ist kein Club. Hier geht’s ums Geldverdienen. Wenn du ihnen hilfst, Geld zu verdienen, dann erfüllst du ein Bedürfnis. Ich bin dort, wo ich bin, weil sie mich brauchen.«

»Oh, sie brauchen dich«, wiederholte Dad nickend und zog das Wort in die Länge. »Na, das ist gut. Sie brauchen dich, wie jemand beim Scheißen ein Stück Klopapier braucht, verstehst du mich? Aber wenn der Arsch dann sauber ist, ziehen sie ab! Ich will dir mal eins sagen, die sind nur an Gewinnern interessiert, und sie wissen, dass du ein Versager bist, und werden es dich nicht vergessen lassen.«

Ich rollte mit den Augen, schüttelte den Kopf und schwieg. An meiner Schläfe pochte eine Ader.

Wieder holte er Luft. »Und du bist zu dämlich und zu eingebildet, um dir darüber im Klaren zu sein. Du lebst in einer gottverdammten Fantasiewelt, genau wie deine Mutter. Sie dachte immer, sie sei zu gut für mich, aber das stimmte kein Stück. Sie träumte nur. Und du bist auch kein Stück besser als ich. Du warst ein paar Jahre auf einer schicken Privatschule und hast einen teuren Versager-Collegeabschluss, aber du bist immer noch kein Stück besser.«

Er holte tief Luft, dann schien seine Stimme etwas sanfter zu werden. »Ich sag dir das, weil ich nicht will, dass sie dich verarschen, so, wie sie mich verarscht haben, mein Sohn. In dieser Softie-Privatschule haben all die reichen Eltern auf mich herabgesehen, da war ich keiner von ihnen. Tja, so war’s. Ich brauchte zwar eine Weile, um es klar zu kriegen, aber sie hatten Recht. Ich war keiner von ihnen. Und du bist es auch nicht, und je früher du das klar kriegst, desto besser bist du dran.«

»Besser dran. Wie du?«, sagte ich. Es war mir einfach so rausgerutscht.

Er starrte mich mit seinen Knopfaugen an. »Zumindest weiß ich, wer ich bin«, antwortete er. »Du weißt ja verfickt noch mal nicht, wer du bist.«

Paranoia
00000000000_cover.html
b9783841207012_000017.xhtml
b9783841207012_000043.xhtml
b9783841207012_000108.xhtml
b9783841207012_000564.xhtml
b9783841207012_000577.xhtml
b9783841207012_000650.xhtml
b9783841207012_000729.xhtml
b9783841207012_001020.xhtml
b9783841207012_001373.xhtml
b9783841207012_001402.xhtml
b9783841207012_001558.xhtml
b9783841207012_001812.xhtml
b9783841207012_001950.xhtml
b9783841207012_002126.xhtml
b9783841207012_002210.xhtml
b9783841207012_002301.xhtml
b9783841207012_002314.xhtml
b9783841207012_002434.xhtml
b9783841207012_002687.xhtml
b9783841207012_002810.xhtml
b9783841207012_003016.xhtml
b9783841207012_003288.xhtml
b9783841207012_003352.xhtml
b9783841207012_003525.xhtml
b9783841207012_003648.xhtml
b9783841207012_003768.xhtml
b9783841207012_004037.xhtml
b9783841207012_004260.xhtml
b9783841207012_004272.xhtml
b9783841207012_004350.xhtml
b9783841207012_004582.xhtml
b9783841207012_004682.xhtml
b9783841207012_004859.xhtml
b9783841207012_005051.xhtml
b9783841207012_005178.xhtml
b9783841207012_005278.xhtml
b9783841207012_005382.xhtml
b9783841207012_005570.xhtml
b9783841207012_005642.xhtml
b9783841207012_005896.xhtml
b9783841207012_006127.xhtml
b9783841207012_006139.xhtml
b9783841207012_006495.xhtml
b9783841207012_006623.xhtml
b9783841207012_006753.xhtml
b9783841207012_007063.xhtml
b9783841207012_007261.xhtml
b9783841207012_007436.xhtml
b9783841207012_007582.xhtml
b9783841207012_007658.xhtml
b9783841207012_007764.xhtml
b9783841207012_008172.xhtml
b9783841207012_008237.xhtml
b9783841207012_008250.xhtml
b9783841207012_008357.xhtml
b9783841207012_008531.xhtml
b9783841207012_008616.xhtml
b9783841207012_008679.xhtml
b9783841207012_008836.xhtml
b9783841207012_008924.xhtml
b9783841207012_009042.xhtml
b9783841207012_009242.xhtml
b9783841207012_009405.xhtml
b9783841207012_009453.xhtml
b9783841207012_009730.xhtml
b9783841207012_009742.xhtml
b9783841207012_009843.xhtml
b9783841207012_009925.xhtml
b9783841207012_010060.xhtml
b9783841207012_010100.xhtml
b9783841207012_010339.xhtml
b9783841207012_010485.xhtml
b9783841207012_010613.xhtml
b9783841207012_010863.xhtml
b9783841207012_011118.xhtml
b9783841207012_011131.xhtml
b9783841207012_011355.xhtml
b9783841207012_011618.xhtml
b9783841207012_011818.xhtml
b9783841207012_012086.xhtml
b9783841207012_012231.xhtml
b9783841207012_012458.xhtml
b9783841207012_012638.xhtml
b9783841207012_012672.xhtml
b9783841207012_012809.xhtml
b9783841207012_012903.xhtml
b9783841207012_013095.xhtml
b9783841207012_013107.xhtml
b9783841207012_013235.xhtml
b9783841207012_013423.xhtml
b9783841207012_013570.xhtml
b9783841207012_013836.xhtml
b9783841207012_013982.xhtml
b9783841207012_014139.xhtml
b9783841207012_014242.xhtml
b9783841207012_014435.xhtml
b9783841207012_014575.xhtml
b9783841207012_014789.xhtml
b9783841207012_015198.xhtml
b9783841207012_015251.xhtml
b9783841207012_015264.xhtml
b9783841207012_015376.xhtml
b9783841207012_015459.xhtml
b9783841207012_015537.xhtml
b9783841207012_015871.xhtml
b9783841207012_015993.xhtml
b9783841207012_016018.xhtml
b9783841207012_016032.xhtml