74

Mein Handy klingelte am nächsten Morgen, noch bevor ich ins Trion-Parkhaus einfuhr. Es war Flo.

»Jock möchte Sie sehen«, sagte sie mit eindringlicher Stimme. »Sofort.«

Goddard saß in seinem Hinterzimmer, zusammen mit Camilletti, Colvin und Stuart Lurie, dem Leiter des Corporate Development, den ich bei Jocks Barbecue kennen gelernt hatte.

Als ich eintrat, hatte Camilletti gerade das Wort.

» … Nein, ich habe gehört, dass der Scheißkerl gestern einfach mit einem fertigen Vertrag nach Palo Alto geflogen ist. Er aß mit Hillman, dem CEO, zu Mittag, und beim Abendessen unterschrieben sie dann. Er bot genau das Gleiche wie wir – ich meine: auf den Penny genau – aber in bar!«

»Wie zum Teufel konnte das passieren!«, explodierte Goddard. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. »Herrgott, Delphos hat doch den Vorvertrag unterschrieben!«

»Aber der gilt erst ab morgen – er ist noch nicht gegengezeichnet worden. Deshalb ist er auch so schnell rübergeflogen. So konnte er den Handel abschließen, bevor wir ihn in trockenen Tüchern hatten.«

»Von wem sprechen wir?«, fragte ich leise, als ich mich setzte.

»Nicholas Wyatt«, antwortete Stuart Lurie. »Er hat uns Delphos gerade für fünfhundert Millionen in bar vor der Nase weggeschnappt.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich wusste zwar, was Delphos war, dachte aber noch rechtzeitig daran, dass ich es nicht wissen durfte. Wyatt hat Delphos gekauft?, dachte ich fassungslos.

Ich wandte mich fragend an Goddard.

»Das ist die Firma, die wir kaufen wollten – ich habe Ihnen doch davon erzählt«, erklärte er ungeduldig. »Unsere Anwälte waren gerade damit fertig, den endgültigen Übernahmevertrag aufzusetzen …« Er verstummte kurz, wurde dann aber lauter: »Ich hätte nicht gedacht, dass Wyatt überhaupt so viel Bargeld zur Verfügung steht!«

»Sie hatten knapp eine Millarde flüssig«, sagte Jim Colvin. »Achthundert Millionen, um genau zu sein. Also ist ihr Sparschwein nach der Zahlung von fünfhundert Millionen ziemlich leer, denn sie haben drei Milliarden Schulden, und die Zinsen dafür betragen pro Jahr leicht zweihundert Millionen.«

Goddard ließ seine Hand auf den runden Tisch sausen. »Gottverdammte Scheiße!«, brüllte er. »Was zum Teufel will Wyatt mit einer Firma wie Delphos? Er hat doch AURORA nicht … Es ergibt nicht den geringsten Sinn, dass Wyatt derart sein Unternehmen gefährdet, es sei denn, er versucht uns einfach nur zu schaden.«

»Was er gerade erfolgreich getan hat«, sagte Camilletti.

»Herrgott noch mal, ohne AURORA ist Delphos wertlos!«, donnerte Goddard.

»Aber ohne Delphos ist AURORA gestorben«, entgegnete Camilletti.

»Vielleicht weiß er von AURORA«, sagte Colvin.

»Unmöglich«, widersprach Goddard. »Und selbst wenn er davon weiß, dann hat er es noch nicht!«

»Was, wenn doch?«, fragte Stuart Lurie.

Langes Schweigen trat ein.

Dann sagte Camilletti langsam und bedächtig: »Wir haben AURORA mit allen Sicherheitsmaßnahmen geschützt, die das Verteidigungsministerium von seinen Vertragspartnern fordert, wenn es um heikle Verschlusssachen geht.« Er starrte Goddard grimmig an. »Ich spreche von Brandschutzwänden, Sonderausweisen, verstärktem Datenschutz, Zugangsbeschränkungen auf vielen verschiedenen Ebenen – von jeder bekannten Sicherheitsmaßnahme. Ein gottverdammter Cone of Silence. Es besteht nicht die allergeringste Möglichkeit.«

»Tja«, sagte Goddard, »und doch hat Wyatt Einzelheiten unserer Verhandlungen erfahren –«

»Es sei denn«, unterbrach Camilletti ihn, »er hatte einen Spion.« Ihm schien eine Idee zu kommen, und er blickte mich direkt an. »Sie haben doch früher für Wyatt gearbeitet, nicht wahr?«

Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, und täuschte Empörung vor. »Ich habe früher bei Wyatt gearbeitet«, fauchte ich ihn an.

»Stehen Sie noch mit ihm in Kontakt?«, fragte er mit bohrendem Blick.

»Was wollen Sie damit sagen?« Ich erhob mich.

»Ich stelle Ihnen eine simple Frage, die Sie mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantworten müssen – stehen Sie mit Wyatt in Kontakt?«, schoss Camilletti zurück. »Sie waren doch vor nicht allzu langer Zeit mit ihm im Auberge zum Abendessen, stimmt das nicht?«

»Das reicht, Paul«, sagte Goddard. »Adam, setzen Sie sich auf der Stelle wieder hin. Adam hatte überhaupt keinen Zugang zu AURORA. Oder zu Einzelheiten der Verhandlungen mit Delphos. Ich glaube, er hat heute sogar zum ersten Mal den Namen der Firma gehört.«

Ich nickte.

»Dann machen wir jetzt weiter«, sagte Goddard. Er schien sich ein wenig beruhigt zu haben. »Paul, ich möchte, dass du mit unseren Anwälten besprichst, ob wir noch irgendwelche Möglichkeiten haben. Frag, ob wir Wyatt stoppen können. Und nun: Es ist geplant, in vier Tagen AURORA der Öffentlichkeit vorzustellen. Sobald die Welt weiß, was wir geschafft haben, wird es ein wildes Gerangel um die Rohstoffe und die Hersteller die gesamte gottverdammte Versorgungskette rauf und runter geben. Entweder verschieben wir die Lancierung, oder … ich will mich nicht ins Gerangel stürzen. Wir müssen jetzt die Köpfe zusammenstecken und uns nach einer vergleichbaren Firma umsehen –«

»Niemand außer Delphos hat die Technologie«, sagte Camilletti.

»Wir sind doch alle ziemlich schlau«, sagte Goddard. »Es gibt immer Alternativen.« Er stemmte sich auf die Lehnen seines Stuhls und stand auf. »Sie kennen doch die Geschichte, die Ronald Reagan immer von dem Kind erzählte, das einen riesigen Scheißhaufen sah und sagte: ›Hier muss irgendwo ein Pony sein‹.« Er lachte und die anderen lachten aus Höflichkeit mit. Sie schienen seinen schwachen Versuch, Spannung abzubauen, zu begrüßen. »Dann machen wir uns mal an die Arbeit. Finden wir das Pony.«

Paranoia
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