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Nora Sommers war eine etwa fünfzigjährige Blondine mit weit auseinander liegenden, starr wirkenden Augen. Sie hatte den Blick eines wilden, Fleisch fressenden Rudeltiers. Vielleicht war ich durch ihr Dossier voreingenommen, in dem sie als rücksichtslos und tyrannisch beschrieben wurde. Sie hatte eine leitende Funktion, war Kopf des Teams, das sich mit Maestro beschäftigte, einer Art kleineren, billigeren Blackberry-Version, die kurz davor stand, den Bach runterzugehen. Sie war berüchtigt für ihre Meetings um sieben Uhr morgens. Niemand wollte in ihr Team, deshalb war es ein Problem, die offene Stelle intern zu vergeben.

»So, es ist sicher kein Spaß, für Nick Wyatt zu arbeiten, wie?«, setzte sie an.

Ich brauchte keine Judith Bolton, um zu wissen, dass man sich nie über seinen früheren Arbeitgeber beklagen sollte. »Er ist zwar wirklich anspruchsvoll«, antwortete ich, »aber er hat auch das Beste aus mir herausgeholt. Er ist ein Perfektionist. Ich empfinde ihm gegenüber reinste Bewunderung.«

Sie nickte verstehend und lächelte, als hätte ich in einem Multiple-Choice-Test die richtige Antwort angekreuzt. »Lässt einen nicht einrosten, wie?«

Was sollte ich jetzt sagen, etwa die Wahrheit über Nick Wyatt? Dass er ein rücksichtsloses Arschloch war? Das doch wohl nicht. Also variierte ich mein angestimmtes Thema noch ein wenig: »Wenn man bei Wyatt arbeitet, erwirbt man in einem Jahr die Erfahrung von zehn Jahren – anstatt die eines Jahres in zehn Jahren.«

»Hübsche Antwort«, sagte sie. »Es gefällt mir, wenn meine Marketingleute mich zu beeindrucken versuchen. Das ist eine der wesentlichen Fähigkeiten, die hier erforderlich sind. Wenn Sie es schaffen, mich zu beeindrucken, schaffen Sie es auch beim Journal

Achtung, Will Robinson. In diese Falle würde ich nicht tappen. Ich sah schon ihre metallenen Fangzähne. Also blickte ich sie nur ausdruckslos an.

»Nun«, fuhr sie fort, »das ist Ihnen ja sicher schon zu Ohren gekommen. Was war Ihr härtester Kampf beim Lucid-Projekt?«

Ich polierte noch einmal die Geschichte auf, die ich gerade bei Tom Lundgren zum Besten gegeben hatte, aber sie schien nicht gerade überwältigt. »Hört sich für mich kaum nach einem Kampf an«, beschied sie. »Ich würde das einen Handel nennen.«

»Vielleicht hätten Sie dabei sein müssen«, sagte ich. Lahm. Ich scrollte durch meine mentale CD-ROM mit Anekdoten bei der Entwicklung von Lucid. »Es gab auch ein ziemliches Gerangel beim Entwurf des Joy-Pads. Das ist ein Fünf-Wege-Navigator mit eingebauten Lautsprechern.«

»Ich bin damit vertraut. Und worum ging die Kontroverse?«

»Nun, unsere ID-Leute betrachteten es als Focus des ganzen Produkts – es zog wirklich alle Blicke auf sich. Aber ich bekam ziemlich negative Rückmeldungen von den Engineers, die meinten, es wäre nahezu unmöglich, viel zu kompliziert; sie wollten den Lautsprecher vom Navigator abkoppeln. Die ID-Leute hingegen waren überzeugt, dass bei einer Abkopplung das ganze Design unstimmig würde, asymmetrisch. Da wurde es eng. Ich war als Spielführer gefragt. Ich sagte, jetzt ginge es ums Ganze. Das Design würde nicht nur ein visuelles Statement abgeben, sondern auch ein bedeutendes technologisches – weil der Markt somit sähe, dass wir etwas zustande brächten, was die Konkurrenz nicht schaffte.«

Sie bedachte mich mit einem Laserblick aus ihren weit auseinander stehenden Augen, als wäre ich ein lahmes Hühnchen. »Entwickler«, bemerkte sie erschauernd. »Manchmal sind sie wirklich unmöglich. Überhaupt keinen Geschäftssinn.«

Jetzt glitzerte Blut an den Zähnen des Fangeisens. »Eigentlich habe ich nie Probleme mit Entwicklern«, entgegnete ich. »Für mich sind sie wirklich das Herz eines Unternehmens. Ich meide jede Konfrontation mit Ihnen, inspiriere sie lieber oder versuche es zumindest. Mentale Führung und Gedankenaustausch, das ist der Schlüssel. Und das ist auch eines der Dinge, die mir am meisten bei Trion gefallen: Die Produktentwickler können hier souverän arbeiten, genau wie es sein sollte. Das ist wahre Innovationskultur.«

So, jetzt plapperte ich fast wörtlich nach, was Jock Goddard mal in einem Interview mit Fast Company von sich gegeben hatte, aber ich hatte den Eindruck, dass es funktionierte. Die Produktentwickler von Trion waren dafür bekannt, dass sie Goddard liebten, weil er einer von ihnen war. Sie fanden es cool, für ihn zu arbeiten, weil ein beträchtlicher Teil von Trions Geldern in die Abteilung für Forschung und Entwicklung floss.

Nora war für eine Sekunde lang sprachlos. Dann sagte sie: »Am Ende ist Innovation alles entscheidend.« Meine Güte, ich dachte ja schon, ich sei schlecht, aber die Frau sprach in Wirtschaftsklischees, als wäre es eine Fremdsprache, die sie aus einem Berlitz-Buch gelernt hatte.

»Absolut«, stimmte ich ihr zu.

»Nun sagen Sie mir, Adam – was ist Ihre größte Schwäche?«

Ich lächelte, nickte und sandte Judith Bolton im Stillen ein kleines Dankgebet.

Volltreffer.

Mann, das Ganze schien fast zu einfach.

Paranoia
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