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Glücklicherweise schien sich Jocelyn immer öfter Auszeiten für Kaffeepausen und Ausflüge in die Mädchentoilette zu nehmen, je länger sie für mich arbeitete. Als sie das nächste Mal ihren Schreibtisch verließ, nahm ich Goddards Unterlagen über Delphos – ich wusste, dass es sich um Delphos handeln musste, auch wenn der Name nirgendwo zu sehen war – und fotokopierte sie rasch auf dem Apparat hinter ihrem Schreibtisch. Dann schob ich die Kopien in einen braunen Umschlag.
Ich sandte kurz eine E-Mail an ›Arthur‹, in der ich ihm verschlüsselt mitteilte, ich hätte ihm was zu geben – ich wollte ›die Kleidung‹, die ich online gekauft hatte, ›umtauschen‹.
Ich wusste, es war riskant, von der Arbeit aus zu mailen. Selbst wenn ich einen Code benutzte, was Camilletti nicht getan hatte. Aber meine Zeit war knapp. Ich wollte nicht erst warten, bis ich zu Hause war und dann noch mal losmüssen …
Meachams Antwort kam fast ohne Verzug. Er forderte mich auf, die Ware nicht ans Postfach, sondern an die normale Adresse zu senden. Das hieß: Ich sollte die Unterlagen nicht einscannen und per Mail versenden, sondern er wollte die Originale sehen, auch wenn er mir nicht den Grund nannte. Wollte er sichergehen, dass die Originale echt waren? Hieß das, dass man mir nicht traute?
Er wollte sie außerdem sofort, und aus irgendeinem Grund hatte er etwas gegen ein persönliches Treffen. Ich fragte mich, warum. Hatte er Angst, dass ich beschattet wurde, oder was? Was auch immer er dachte, ich sollte die Dokumente für ihn in einem der Verstecke hinterlassen, die wir Wochen zuvor ausgeklügelt hatten.
Kurz nach sechs verließ ich mein Büro und fuhr zu einem McDonald’s, das etwa zwei Meilen von Trion entfernt lag. Die Herrentoilette hier war klein, nur für einen gedacht und hatte eine abschließbare Tür. Ich verriegelte sie, suchte den Papierhandtuchspender, öffnete ihn, legte den zusammengerollten braunen Umschlag hinein und schloss den Spender wieder. Bis die Rolle mit den Papierhandtüchern gewechselt werden musste, würde niemand dort hineinsehen – niemand, bis auf Meacham.
Bevor ich zum Wagen zurückging, kaufte ich mir einen Viertelpfünder – nur zur Tarnung, wie man mir beigebracht hatte, Appetit hatte ich keinen. Etwa eine Meile weiter befand sich ein Seven-Eleven, dessen Parkplatz zur Straße hinausging und mit einem niedrigen Betonmäuerchen versehen war. Ich parkte, ging hinein, kaufte mir eine Diät-Pepsi und trank davon, so viel ich konnte. Den Rest goss ich in einen Gully auf dem Parkplatz. Dann steckte ich ein Senkblei zum Angeln, das ich in meinem Handschuhfach gelagert hatte, in die leere Dose und stellte diese auf die Betonmauer.
Die Pepsi-Dose war ein Zeichen für Meacham, der regelmäßig an diesem Seven-Eleven vorbeifuhr. Dadurch wusste er, dass ich Briefkasten Nummer drei, die McDonald’s-Filiale, genutzt hatte. Mit diesem simplen Agententrick konnte Meacham die Dokumente bekommen, ohne mit mir gesehen zu werden.
Die Übergabe verlief, so weit ich sehen konnte, reibungslos. Ich hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.
Okay, ich fühlte mich schon ziemlich mies durch das, was ich tat. Aber gleichzeitig empfand ich unwillkürlich doch so etwas wie Stolz: Langsam wurde ich in diesem Spionagezeugs ziemlich gut.