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Also arbeitest du jetzt wirklich für Jock Goddard höchstpersönlich?«, fragte Alana. »Gott, ich hoffe, ich habe in deiner Gegenwart nichts Negatives über ihn gesagt. Oder?«

Wir fuhren mit dem Aufzug zu meiner Wohnung hinauf. Sie hatte nach der Arbeit kurz in ihrer eigenen Wohnung Halt gemacht, um sich umzuziehen, und sah jetzt großartig aus – schwarzes Oberteil mit U-Boot-Ausschnitt, schwarze Leggins, schwarze, klobige Schuhe. Sie hatte auch dasselbe blumige Parfüm wie bei unserer letzten Verabredung aufgelegt. Ihr langes schwarzes Haar, das sie offen trug, glänzte und bildete einen reizvollen Kontrast zu ihren strahlend blauen Augen.

»Ja, du hast wirklich vom Leder gezogen, was ich ihm auch unverzüglich gemeldet habe.«

Sie lächelte und ließ kurz ihre perfekten Zähne schimmern.

»Dieser Aufzug ist etwa so groß wie meine Wohnung.«

Ich wusste, dass das nicht stimmte, lachte aber trotzdem. »Dieser Aufzug ist größer als meine letzte Wohnung, wirklich«, sagte ich. Als ich erwähnt hatte, dass ich kurz zuvor in die Harbor Suites eingezogen war, hatte sie gesagt, sie hätte schon von den Apartments gehört, und dabei so fasziniert gewirkt, dass ich sie eingeladen hatte, es sich mal anzusehen. Wir konnten unten im Hotelrestaurant zu Abend essen, was ich noch nicht ausprobiert hatte.

»Meine Güte, schon allein die Aussicht«, sagte sie, kaum hatte sie die Wohnung betreten. Im Hintergrund spielte leise eine CD von Alanis Morissette. »Das ist ja fantastisch.« Sie sah sich um und bemerkte die Plastikhüllen an einem der Sofas und einem Stuhl und sagte ironisch: »Und wann ziehst du ein?«

»Sobald ich ein, zwei Stunden erübrigen kann. Kann ich dir was zu trinken bringen?«

»Mhm. Ja, das wäre nett.«

»Einen Cosmopolitan? Ich kann auch ganz toll Gin Tonic mixen.«

»Gin Tonic klingt gut, danke. Also, du hast gerade erst angefangen, für ihn zu arbeiten?«

Natürlich hatte sie mich auf der Website der Firma gesucht. Ich ging hinüber zur frisch eingerichteten Hausbar in der Nische neben der Küche und langte nach der Flasche Tanqueray Malacca Gin.

»Diese Woche.« Sie folgte mir in die Küche. Ich holte ein paar Limonen aus dem fast leeren Kühlschrank und fing an, sie in zwei Hälften zu schneiden.

»Aber bei Trion warst du schon einen Monat.« Sie neigte den Kopf auf eine Seite und versuchte, sich aus meiner plötzlichen Beförderung einen Reim zu machen. »Schöne Küche. Kannst du kochen?«

»Nein, alles nur Fassade«, sagte ich. Ich drückte die Limonenhälften auf den elektrischen Entsafter. »Übrigens stimmt es, ich wurde für die Marketingabteilung der neuen Produkte eingestellt, aber dann hatte Goddard etwas mit einem der Projekte zu tun, bei denen ich mitarbeitete, und ich schätze, er mochte meine Sichtweise, meine Ideen oder so.«

»Das nenn ich mal ’ne Chance«, sagte sie und versuchte, mit ihrer Stimme das Heulen des Entsafters zu übertönen.

Ich zuckte die Achseln. »Das wird sich noch rausstellen.« Ich füllte zwei Wassergläser, die man in französischen Bistros findet, mit Eis, einem Spritzer Gin, einem großzügigen Schuss Tonic aus dem Kühlschrank und einer gesunden Menge Limonensaft. Dann gab ich ihr ein Glas.

»Also hat Tom Lundgren dich für Nora Sommers’ Team eingestellt. Hey, der ist ja köstlich. Der Limonensaft macht was Besonderes draus.«

»Danke. Das stimmt, Tom Lundgren hat mich eingestellt«, sagte ich und tat so, als sei ich überrascht, dass sie ihn kannte.

»Weißt du, dass du angestellt wurdest, um meine Stelle auszufüllen?«

»Was soll das heißen?«

»Die Stelle, die frei wurde, als ich zu AURORA versetzt wurde.«

»Ist das wahr?« Ich blickte verblüfft drein.

Sie nickte. »Unglaublich.«

»Wow, wie klein die Welt ist. Aber was ist ›Aurora‹?«

»Ach, ich dachte, das wüsstest du.« Sie warf mir über den Rand ihres Glases einen Blick zu, der mir ein bisschen zu beiläufig vorkam.

Ich schüttelte arglos den Kopf. »Nein …«

»Ich dachte, du hättest auch auf der Firmenwebsite nachgesehen, wo ich stecke. Ich bekam die Stelle im Marketing für die Disruptive Technologies.«

»Und die nennt man ›Aurora‹?«

»Nein, AURORA ist das spezielle Projekt, dem ich zugeteilt wurde.« Sie zögerte kurz. »Ich hab wohl gedacht, weil du für Goddard arbeitest, hättest du auch überall deine Finger mit drin.«

Ein taktischer Fehler von mir. Ich hatte ihr eigentlich den Eindruck vermitteln wollen, dass wir offen über ihre Arbeit sprechen konnten. »Theoretisch habe ich zu allem Zugang. Aber ich versuche noch immer herauszubekommen, wo der Kopierer steht.«

Sie nickte. »Magst du Goddard?«

Was sollte ich jetzt sagen: Nein? »Er ist ein beeindruckender Mann.«

»Beim Barbecue sah es so aus, als würdet ihr euch ziemlich nahe stehen. Ich sah, dass er dich zu sich rief, damit du seinen engeren Kreis kennen lernst, und dann hast du was für ihn getragen und so.«

»Ja, ein Beweis, dass wir uns wirklich nahe stehen«, entgegnete ich sarkastisch. »Ich bin sein Botenjunge, sein Muskelpaket. Hat dir das Barbecue gefallen?«

»Zuerst war es ein bisschen seltsam mit all den großen Tieren da rumzuhängen, aber nach ein paar Bier wurde es leichter. Ich war zum ersten Mal dort.« Weil sie mit AURORA, seinem Lieblingsprojekt, zu tun hatte, dachte ich. Aber das wollte ich ihr nicht auf die Nase binden, also wechselte ich das Thema. »Ich rufe jetzt mal unten im Restaurant an und reserviere uns einen Tisch.«

»Weißt du, ich dachte, Trion würde keine Externen mehr einstellen«, sagte sie, während sie die Speisekarte studierte. »Wenn sie derart die Regeln biegen, müssen sie wirklich scharf auf dich gewesen sein.«

»Ich glaube, sie meinten, sie würden mich abwerben. Dabei war ich nichts Besonderes.« Wir waren von Gin Tonics zu Sancerre übergegangen, den ich bestellt hatte, weil ich aus ihren Spirituosenrechnungen ersehen hatte, dass es ihr Lieblingswein war. Sie wirkte angenehm überrascht, als ich darum ersuchte. Langsam gewöhnte ich mich an diese Reaktion.

»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Was hast du bei Wyatt gemacht?«

Ich lieferte ihr die Version, die ich für das Vorstellungsgespräch gepaukt hatte, aber das reichte ihr nicht. Sie wollte Details über das Lucid-Projekt. »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich nicht über meine Arbeit bei Wyatt sprechen«, sagte ich und versuchte, nicht zu tugendhaft zu klingen.

Sie wirkte verlegen. »O Gott, natürlich, ich begreife vollkommen«, antwortete sie.

Der Kellner erschien. »Haben Sie sich entschieden?«

Alana sagte: »Du zuerst«, und studierte weiter ihre Speisekarte, während ich Paella bestellte.

»Die wollte ich auch nehmen«, sagte sie. Okay, dann war sie also keine Vegetarierin.

»Wir dürfen hier auch dasselbe bestellen«, erwiderte ich.

»Dann nehme ich ebenfalls die Paella«, teilte sie dem Kellner mit. »Aber wenn sie mit Fleisch ist, zum Beispiel Wurst oder so, könnten Sie das dann rauslassen?«

»Natürlich«, meinte der Kellner und machte sich eine Notiz.

»Ich liebe Paella«, sagte sie. »Zu Hause mache ich mir fast nie Fisch oder Meeresfrüchte. Das ist jetzt was ganz Besonderes für mich.«

»Möchtest du beim Sancerre bleiben?«, fragte ich sie.

»Aber ja.«

Als sich der Kellner zum Gehen wandte, fiel mir plötzlich wieder ein, dass Alana gegen Krabben allergisch war, und sagte: »Warten Sie mal, sind in der Paella Krabben?«

»Äh, ja«, antwortete der Kellner.

»Dann könnte es ein Problem geben«, sagte ich.

Alana starrte mich an. »Woher weißt du …?«, setzte sie an und kniff die Augen zusammen.

Dann folgte dieser lange, lange Augenblick qualvoller Spannung, während ich mir das Hirn zermarterte. Ich fasste es nicht, dass ich es dermaßen vermasselt hatte. Ich schluckte hart, und alles Blut wich mir aus dem Gesicht. Schließlich sagte ich: »Soll das heißen, du bist auch dagegen allergisch?«

Schweigen. Dann: »Ja, das bin ich. Tut mir Leid. Das ist aber komisch.« Die Wolke des Argwohns schien sich aufgelöst zu haben. Wir beide wechselten zu gebratenen Jakobsmuscheln.

»Wie auch immer«, sagte ich. »Jetzt haben wir genug von mir geredet. Ich möchte was über AURORA hören.«

»Nun, das Projekt soll geheim gehalten werden«, antwortete sie entschuldigend.

Ich grinste sie an.

»Nein, das ist keine Retourkutsche«, protestierte sie. »Wirklich nicht!«

»Okay«, erwiderte ich skeptisch. »Aber willst du jetzt, da du meine Neugier geweckt hast, mich wirklich zwingen, herumzuschnüffeln und es selbst herauszufinden?«

»So interessant ist es nun auch nicht.«

»Das glaube ich nicht. Kannst du mir nicht wenigstens eine Kurzbeschreibung liefern?«

Sie blickte unbehaglich drein und seufzte tief auf. »Also gut, es ist so: Hast du je was von der Haloid Company gehört?«

»Nein«, sagte ich langsam.

»Natürlich nicht. Es besteht auch kein Grund, warum du von ihr gehört haben solltest. Aber die Haloid Company war eine kleine Firma, die in den späten vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Fotopapier herstellte und dann die Rechte einer neuen Technologie kaufte, die von allen großen Firmen wie IBM, RCA und GE abgelehnt worden war. Die Erfindung nannte sich Xerographie. Innerhalb von zehn, fünfzehn Jahren wurde aus der Haloid Company die Xerox Corporation, aus einem kleinen Familienbetrieb ein riesiges Unternehmen. Alles nur, weil sie ihre Chance ergriffen und eine Technologie nutzten, an der niemand sonst interessiert war.«

»Alles klar.«

»Oder nimm die Galvin Manufacturing Corporation in Chicago, die zuerst Motorola-Autoradios herstellte und bei Halbleitern und Handys landete. Oder eine kleine Ölförderungsgesellschaft namens Geophysical Service, die sich vergrößerte, zuerst in Transistoren und dann in integrierte Schaltkreise investierte und schließlich zu Texas Instruments wurde. Du verstehst, was ich sagen will. Die Geschichte der Technologie ist voll von Beispielen, bei denen Firmen sich veränderten, indem sie die richtige Technologie zum richtigen Zeitpunkt nutzten und damit ihre Konkurrenten in Grund und Boden stampften. Das versucht Jock Goddard jetzt mit AURORA. Er meint, AURORA würde die Welt und die amerikanische Wirtschaft so verändern wie einst Transistoren, Halbleiter oder die Fotokopiertechnologie.«

»Disruptive Technologies.«

»Ganz genau.«

»Aber das Wall Street Journal meint doch, Jock sei am Ende.«

»Wir beide wissen es doch besser. Er ist nur seiner Zeit voraus. Sieh dir die Geschichte der Firma an. Es gab bereits drei oder vier Zeitpunkte, da alle Welt dachte, Trion wäre am Boden, am Rande des Bankrotts, und plötzlich überraschte es alle und kehrte stärker als je zuvor zurück.«

»Du meinst also, dies ist wieder mal so ein Zeitpunkt, wie?«

»Wenn AURORA der Öffentlichkeit präsentiert werden kann, dann wird er es tun. Und dann werden wir sehen, was das Wall Street Journal dazu sagt. Durch AURORA werden all die Probleme in letzter Zeit praktisch irrelevant.«

»Faszinierend.« Ich blickte angelegentlich in mein Weinglas und fragte ach-so-beiläufig: »Und wie sieht diese Technologie aus?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Wahrscheinlich habe ich dir ohnehin schon zu viel erzählt.« Dann neigte sie den Kopf zur Seite und fragte neckisch: »Unterziehst du mich gerade einem Sicherheitstest?«

Paranoia
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