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Die offizielle Nachricht kam kurz vor Mittag über E-Mail: Goddard hatte eine Galgenfrist für Maestro angeordnet. Das Maestro-Team sollte im Schnellverfahren ein Angebot für eine kleinere Umrüstung und Neuverpackung entwerfen, die den Erfordernissen des Militärs entgegenkämen. In der Zwischenzeit würde Trions Kontaktabteilung zur Regierung anfangen, einen Vertrag mit dem Pentagon – genauer mit dem Defense Information Systems Agency Department of Acquisition and Logistics – auszuhandeln.
Im Klartext: Volltreffer. Nicht nur, dass das alte Produkt keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr benötigte, es hatte außerdem eine Herztransplantation und eine massive Bluttransfusion bekommen.
Und die Kacke war am Dampfen.
Ich stand gerade in der Männertoilette vor dem Pissoir und öffnete den Reißverschluss meiner Hose, als Chad hereingeschlendert kam. Mir war aufgefallen, dass Chad einen sechsten Sinn dafür zu haben schien, dass ich nicht gerne in Gesellschaft pinkelte. Er folgte mir ständig in die Männertoilette, um über die Arbeit oder Sport zu reden, und sorgte bei mir für Harnverhalt. Dieses Mal stellte er sich an das Pissoir direkt neben meinem, mit leuchtendem Gesicht, als wäre er begeistert, mich zu sehen. Ich hörte, wie er seinen Reißverschluss aufzog. Meine Blase verkrampfte sich. Ich starrte wieder die Fliese über dem Pissoir an.
»Hey«, sagte er. »Gute Arbeit, Goldjunge. So bringt man’s ganz weit!« Er schüttelte langsam den Kopf und schnalzte anerkennend mit der Zunge. Sein Urin platschte geräuschvoll gegen die kleine Raute ganz unten im Pissoir. »Meine Güte.« Seine Stimme troff vor Ironie. Er hatte eine unsichtbare Grenze überschritten – spielte mir nichts mehr vor.
Ich dachte: Könntest du bitte abhauen, damit ich mich erleichtern kann? Laut sagte ich: »Ich habe immerhin das Produkt gerettet.«
»Jah, und dabei Nora verheizt. War es das wert, nur damit du ein paar Punkte beim CEO machst und deine kleine Show abziehen kannst? So läuft das hier nicht, Kumpel. Du hast gerade einen verdammt großen Fehler gemacht.« Er schüttelte die letzten Tropfen ab, zog den Reißverschluss hoch und verließ die Toilette, ohne sich die Hände gewaschen zu haben.
Als ich zu meinem Schreibtisch zurückkehrte, wartete eine Nachricht von Nora auf mich.
»Nora«, sagte ich, als ich in ihr Büro trat.
»Adam«, erwiderte sie leise. »Setzen Sie sich bitte.« Sie lächelte, traurig und sanft. Das war beunruhigend.
»Nora, ich möchte sagen –«
»Adam, wie Sie wissen, haben wir bei Trion uns immer gerühmt, darauf zu achten, dass die richtigen Mitarbeiter am richtigen Platz sitzen – um so sicherzustellen, dass unsere hochtalentierten Angestellten die Verantwortung bekommen, die sie verdienen.« Sie lächelte erneut, und diesmal glitzerten ihre Augen. »Deshalb habe ich gerade ein Gesuch um Versetzung ausgefüllt und Tom gebeten, sich darum zu kümmern.«
»Versetzung?«
»Wir sind alle schrecklich von Ihren Fähigkeiten, Ihrer Findigkeit und Ihrem umfangreichen Wissen beeindruckt. Das hat gerade das Meeting an diesem Morgen noch einmal eindrucksvoll gezeigt. Wir haben das Gefühl, dass jemand von Ihrem Format Großes in unserer RTP-Einrichtung leisten könnte. Das Versorgungsnetz-Management dort unten könnte einen starken Teamspieler wie Sie gut gebrauchen.«
»RTP?«
»Unser Research-Triangle-Park-Außenposten. In Raleigh-Durham, North Carolina.«
»North Carolina?« Hatte ich richtig gehört? »Sie wollen mich nach North Carolina versetzen?«
»Adam, Sie sagen das so, als ginge es nach Sibirien. Waren Sie jemals in Raleigh-Durham? Dort ist eine wirklich schöne Gegend.«
»Ich – aber ich kann nicht umziehen, ich habe hier Verpflichtungen, ich habe –«
»Die Abteilung für Mitarbeitertransfer wird alles für Sie koordinieren. Ihre Umzugskosten werden von uns übernommen – innerhalb vernünftiger Grenzen natürlich. Ich habe mich schon mit der Personalabteilung in Verbindung gesetzt. Umzüge sind natürlich stets ein wenig stressbesetzt, aber die Abteilung macht es immer überraschend problemlos.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Es wird Ihnen dort gefallen, und Sie werden ihnen gefallen.«
»Nora«, sagte ich. »Goddard hat mich um meine ehrliche Meinung gebeten, und ich bin ein großer Fan von allem, was Sie für Maestro getan haben, das habe ich nicht geleugnet. Ich wollte Sie auf gar keinen Fall verärgern.«
»Mich verärgern?«, sagte sie. »Im Gegenteil, Adam – ich war dankbar für Ihr Input. Ich wünschte nur, Sie hätten mir Ihre Meinung vor dem Meeting mitgeteilt. Aber das gehört jetzt der Vergangenheit an. Wir wenden uns Größerem und Besserem zu. Und Sie auch.«
Die Versetzung sollte innerhalb der nächsten drei Wochen stattfinden. Ich drehte vollkommen durch. Das Werk in North Carolina war nur für Hintergrundzeug. Und eine Million Meilen von der Forschungsabteilung entfernt. Dort wäre ich für Wyatt vollkommen nutzlos. Und er würde mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Ich hörte praktisch schon, wie die Guillotine in ihrer Führung herabsauste.
Seltsam: Erst als ich Noras Büro verließ, fiel mir mein Dad ein, und der Gedanke traf mich wirklich wie ein Blitz. Ich konnte nicht umziehen. Ich konnte den alten Mann nicht allein hier lassen. Aber wie sollte ich mich weigern, Noras Versetzungsbefehl zu folgen? Da ich nicht die ganze Hierarchie hinaufgehen konnte – mich über sie hinwegsetzen, es zumindest versuchen, was mit Sicherheit nur zu meinem Nachteil wäre – welche andere Wahl hatte ich dann? Wenn ich mich weigerte, nach North Carolina zu gehen, müsste ich bei Trion kündigen, und dann wäre die Hölle los.
Ich hatte das Gefühl, als würde das ganze Gebäude sich langsam drehen; ich musste mich hinsetzen, nachdenken. Als ich an Noah Morddens Büro vorbeiging, winkte er mir mit dem Finger, ich sollte hereinkommen.
»Ah, Cassidy«, sagte er. »Trions firmeneigener Julien Sorel. Sie müssen nett sein zu Madame de Renal.«
»Verzeihung?«, sagte ich. Ich wusste nicht, wovon zum Teufel er eigentlich sprach.
Mit seinem typischen Hawaiihemd und seiner großen, runden schwarzen Brille wirkte er mehr und mehr wie die Karikatur seiner selbst. Sein IP-Phone klingelte, aber natürlich war es kein normaler Klingelton. Es war eine Zeile aus David Bowies ›Suffragette City‹: Oh wham bam thank you ma’am!
»Ich nehme an, Sie haben Goddard beeindruckt«, sagte er. »Aber Sie müssen gleichzeitig darauf achten, nicht Ihren unmittelbaren Vorgesetzten zu arg vor den Kopf zu stoßen. Vergessen Sie Stendhal. Vielleicht sollten Sie besser Sun Tzu lesen.« Er runzelte die Stirn.
Morddens Büro war mit allem möglichen seltsamen Kram dekoriert. Es gab ein Schachbrett, auf dem die Figuren so arrangiert waren, als wäre das Spiel in der Mitte abgebrochen, ein Poster von H. P. Lovecraft und eine große Puppe mit blondem Lockenhaar. Ich wies fragend auf das Schachbrett.
»Tal-Botvinnik, 1960«, sagte er, als müsste mir das irgendwas sagen. »Einer der größten Schachzüge aller Zeiten. Jedenfalls meine ich, man sollte befestigte Städte nur dann belagern, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Außerdem, und diese Weisheit stammt nicht von Sun Tzu, sondern vom römischen Herrscher Domitian: Wenn man einen König angreift, muss man ihn auch töten. Aber Sie haben Nora angegriffen, ohne vorher für Rückendeckung zu sorgen.«
»Ich hatte nicht vor, sie anzugreifen.«
»Was auch immer Sie erreichen wollten, es war eine schwer wiegende Fehlkalkulation, mein Freund. Sie wird sie sicher vernichten wollen.«
»Sie versetzt mich zu Research Triangle.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Das hätte aber noch schlimmer kommen können. Waren Sie je in Jackson, Mississippi?«
Das war ich, und mir gefiel der Ort, aber ich war deprimiert und hatte keine Lust auf ein längeres Gespräch mit diesem seltsamen Typ. Er machte mich nervös. Ich zeigte auf die hässliche Puppe auf dem Regal und fragte: »Ist das Ihre?«
»LoveMeLucille«, antwortete er. »Ein riesiger Flop und einer, wie ich stolz verkünden darf, den ich selbst initiiert hatte.«
»Sie haben … Puppen konstruiert?«
Er langte hinüber und drückte die Hand der Puppe, woraufhin sie zum Leben erwachte, auf unheimlich echt wirkende Weise die Augen öffnete und dann sogar wie ein menschliches Wesen blinzelte. Ihr gerundeter Mund öffnete sich und verzog sich Furcht erregend mürrisch.
»So was haben Sie bei einer Puppe noch nie gesehen.«
»Und ich denke auch nicht, dass ich das noch mal sehen will«, erwiderte ich.
Mordden erlaubte sich den Anflug eines Lächelns. »Lucille hat eine ganze Reihe menschlicher Gesichtsausdrücke auf Lager. Sie ist vollkommen ferngesteuert und eigentlich ziemlich beeindruckend. Sie quengelt, wird reizbar und nervig, genau wie ein echtes Baby. Sie muss Bäuerchen machen. Sie gluckst, gurrt, macht sogar in die Windel. Sie zeigt alarmierende Anzeichen einer Drei-Monats-Kolik. Sie kann alles außer Windelsor bekommen. Sie hat sogar eine Sprecherlokalisation, was bedeutet, dass sie immer in die Richtung blickt, aus der gesprochen wird. Sie können ihr das Sprechen beibringen.«
»Ich wusste nicht, dass Sie auch Puppen entwerfen.«
»Hey, ich kann hier alles tun, was ich will. Ich bin ein Engineer für besondere Aufgaben. Die Puppe habe ich für meine kleine Nichte erfunden, die aber nicht damit spielen wollte. Sie fand sie irgendwie gruselig.«
»Sie ist schon etwas unheimlich«, sagte ich.
»Die Modellplastik war schlecht. Aber hey, jetzt können Sie sie für neunzehn neunundneunzig bei KB Toys und Toys ›R‹ Us kaufen.« Er wandte sich zur Puppe und sagte langsam: »Lucille? Sag ›Hallo‹ zu unserem CEO.«
Lucille wandte ihren Kopf langsam zu Mordden. Ich hörte ein feines mechanisches Surren. Sie blinzelte, verzog wieder mürrisch den Mund und sprach dann mit der tiefen Stimme eines James Earl Jones. »Leck mich am Arsch, Goddard.«
»Ach du Scheiße!«, rief ich aus.
Lucille wandte sich langsam zu mir, blinzelte wieder und lächelte süß.
»Die Technologie im Innern dieser potthässlichen Puppe war ihrer Zeit voraus«, sagte Mordden. »Ich habe ein vollständiges multifunktionales Betriebssystem entworfen, das mit einem Acht-Bit-Prozessor läuft. Hochmoderne künstliche Intelligenz nach einem wirklich komprimierten Code. Die Konstruktion ist ziemlich clever. Drei verschiedene ASICs in ihrem dicken Bäuchlein, die ich entworfen habe.«
Ich wusste, dass ein ASIC die Insiderbezeichnung für einen raffinierten, nicht seriellen Computerchip ist, der eine ganze Reihe verschiedener Dinge kann.
»Lucille?«, sagte Mordden, und die Puppe wandte sich blinzelnd zu ihm. »Verpiss dich, Lucille.« Lucille presste langsam die Augen zusammen, verzog die Lippen nach unten und gab ein gequältes Wä-äh von sich. Eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange. Er zog ihr rüschenbesetztes Pyjamaoberteil hoch und wies auf eine kleine, rechteckige LCD-Anzeige. »Mommy und Daddy können sie hier programmieren und die Funktionen auf dieser kleinen Trion-LCD-Anzeige ablesen. Einer der ASICs steuert diese Anzeige, ein anderer den Motor und der dritte die Sprechfunktion.«
»Unglaublich«, sagte ich. »Und all das für eine Puppe.«
»Korrekt. Und dann hat die Spielzeugfirma, mit der wir zusammenarbeiteten, die Lancierung versaut. Lassen Sie sich das eine Lehre sein. Die Verpackung war grässlich. Sie lieferten erst in der letzten Novemberwoche aus, was ungefähr acht Wochen zu spät ist – bis dahin haben Mommy und Daddy nämlich ihre Weihnachtsliste schon fertig. Außerdem war der Preis eine Katastrophe – in diesem Bereich wollen Mommy und Daddy nicht über hundert Dollar für ein verdammtes Spielzeug ausgeben. Natürlich dachten die Marktforschungsgenies bei Trion Consumer and Educational, ich hätte ein zweites Beanie Baby entworfen, daher lagerten wir mehrere hunderttausend dieser Chips ein, die wir mit ungeheuren Kosten für nichts und wieder nichts in China hatten produzieren lassen. Was heißt, dass Trion auf fast einer halben Million hässlichen Puppen sitzen blieb, die niemand wollte, zusätzlich zu dreihunderttausend Puppenersatzteilen, die bis heute in einem Lagerhaus in Van Nuys darauf warten, zusammengebaut zu werden.«
»Autsch.«
»Ist schon okay. Mir kann niemand was. Ich habe Kryptonit.«
Er erklärte nicht, was er damit meinte, aber das war typisch für Mordden, immer an der Grenze zum Verrückten, also fragte ich nicht weiter nach. Ich kehrte zu meinem Arbeitsplatz zurück, wo ich mehrere Nachrichten auf meiner Voicemail vorfand. Als ich die zweite abspielte, erkannte ich mit leichtem Schreck die Stimme, noch bevor sich der Sprecher vorstellte.
»Mr. Cassidy«, sagte die kratzige Stimme. »Ich war wirklich … Oh, hier spricht Jock Goddard. Ich war sehr beeindruckt von Ihren Ausführungen bei dem Meeting heute, und ich wollte fragen, ob Sie nicht mal bei mir vorbeikommen könnten. Könnten Sie vielleicht meine Sekretärin Flo anrufen und etwas ausmachen?«