65

Am nächsten Tag, dem Samstag, fand Goddards Barbecue statt. Ich brauchte eineinhalb Stunden, um zu seinem Haus am See zu gelangen, und musste weite Strecken über kleine Nebenstraßen fahren. Auf der Fahrt rief ich von meinem Handy aus Dad an, was ein Fehler war. Ich sprach ein bisschen mit Antwoine, und dann übernahm Dad, keuchend und schnaufend, so charmant wie immer, und verlangte, dass ich jetzt zu ihm käme.

»Ich kann nicht, Dad«, entgegnete ich. »Ich habe was Geschäftliches zu tun.« Ich wollte ihm nicht von dem Barbecue im Landhaus des CEO erzählen. Ich war im Kopf schon Dads Antworten durchgegangen und hatte wegen Überlastung aufgeben müssen. Da gab es seinen ›Korrupter Geschäftsführer‹-Sermon, seinen ›Adam, der erbärmliche Arschkriecher‹-Sermon, seinen ›Du weißt nicht wer du bist‹-Sermon, seinen ›Die Reichen reiben dir ihren Reichtum unter die Nase‹-Sermon, seinen ›Warum willst du nicht etwas Zeit mit deinem todkranken Vater verbringen‹-Sermon und so weiter und so fort.

»Brauchst du etwas?«, fragte ich noch, weil ich wusste, dass er niemals ein Bedürfnis zugeben würde.

»Ich brauche nichts«, antwortete er gereizt. »Nicht, wenn du so viel zu tun hast.«

»Ich komme morgen früh mal rüber, okay?«

Dad schwieg und bedeutete mir dadurch, dass ich ihn verärgert hatte, und dann übernahm erneut Antwoine. Mein Vater war wieder ganz das alte Arschloch.

Als ich das Haus erreichte, beendete ich das Gespräch. Das Grundstück war mit einem schlichten Holzschild an einem Pfosten ausgewiesen, auf dem nur GODDARD und eine Nummer stand. Dann führte eine lange, unbefestigte Straße mit tiefen Furchen durch einen dichten Wald, der sich plötzlich zu einer großen, kreisförmigen Auffahrt mit knirschendem Muschelkies lichtete. Ein Junge in einem grünen Hemd hatte vorübergehend den Parkservice übernommen. Zögernd reichte ich ihm die Schlüssel vom Porsche.

Das Anwesen war ein lang gestrecktes, mit grauen Schindeln bedecktes, gemütlich wirkendes Haus, das aussah, als stammte es aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Es war auf einem Steilhang mit Blick über den See erbaut, hatte vier gedrungene Schornsteine und war mit Efeu bewachsen. Davor befand sich eine riesige, sanft geschwungene Rasenfläche, die roch, als wäre sie gerade erst gemäht worden, und die hier und da von mächtigen alten Eichen und knorrigen Kiefern geziert wurde.

Auf dem Rasen standen zwanzig, dreißig Personen in Shorts und T-Shirts und mit Getränken in der Hand. Eine Schar Kinder spielte dort, rannte hin und her und warf sich Bälle zu. Ein hübsches blondes Mädchen saß an einem Kartentisch vor der Veranda. Sie lächelte, suchte mein Namensschild heraus und überreichte es mir.

Das eigentliche Geschehen schien auf der anderen Seite des Hauses stattzufinden, auf dem rückwärtigen Rasen, der sanft zu einem Holzanleger am See abfiel. Dort war die Menge dichter. Ich sah mich nach einem vertrauten Gesicht um, entdeckte aber keines. Eine kräftige Frau um die sechzig, die einen burgunderfarbenen Kaftan trug, schneeweißes Haar und ein sehr runzliges Gesicht hatte, kam auf mich zu.

»Sie wirken so verloren«, sagte sie freundlich. Ihre Stimme war tief und heiser, und ihr Gesicht sah genauso verwittert und eindrucksvoll aus wie das Haus.

Ich wusste sofort, dass dies Goddards Frau sein musste. Sie war genauso bodenständig, wie sie mir beschrieben worden war. Mordden hatte Recht: Sie sah wirklich aus wie ein Shar-Pei-Welpe.

»Ich bin Margaret Goddard. Und Sie müssen Adam sein.«

Ich streckte die Hand aus und fühlte mich geschmeichelt, dass sie mich erkannt hatte, bis mir wieder einfiel, dass ich ein Namensschild trug. »Schön, Sie kennen zu lernen, Mrs. Goddard«, sagte ich.

Sie korrigierte mich nicht, sagte nicht, ich sollte sie ›Margaret‹ nennen. »Jock hat mir schon viel von Ihnen erzählt.« Sie ließ meine Hand nicht los und nickte, während sie ihre schmalen braunen Augen aufriss. Sie wirkte beeindruckt, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Dann trat sie näher zu mir. »Mein Mann ist ein zynischer alter Knacker, der sich nicht so leicht beeindrucken lässt. Also müssen Sie gut sein.«

Die Rückseite des Hauses war von einer überdachten Veranda umgeben. Ich ging an ein paar großen schwarzen Cajun-Grillgeräten vorbei, aus deren glühenden Kohlenbecken große Rauchschwaden emporstiegen. Ein paar Mädchen in weißer Uniform kümmerten sich um zischende Burger, Steaks und Hähnchen. In der Nähe war eine lange, mit einem weißen Leinentuch bedeckte Theke aufgestellt worden, wo ein paar Jungen im Collegealter Mixgetränke, Softdrinks und Bier in durchsichtige Plastikbecher einschenkten. An einem anderen Tisch öffnete jemand Austern und legte sie auf Eis.

Als ich mich der Veranda näherte, erblickte ich hier und da vertraute Personen, meist ziemlich hochrangige Mitarbeiter von Trion mit ihrer Familie. Nancy Schwartz, Senior Vice President der Business Solutions, eine kleine dunkelhaarige Frau, die stets besorgt wirkte und jetzt ein phosphoreszierend orangefarbenes T-Shirt von den Betriebsspielen des Vorjahrs trug, spielte Krocket mit Rick Durant, dem Marketingchef, einem großen, gebräunten Mann mit dunkler Föhnfrisur. Beide wirkten bedrückt. Goddards Sekretärin Flo trug ein hawaiianisches Seidenkleid mit auffälligem Blumenmuster und schlenderte von Grüppchen zu Grüppchen, als wäre sie die Gastgeberin.

Dann entdeckte ich Alana, ihre langen, gebräunten Beine in weißen Shorts. Sie sah mich zur gleichen Zeit, und ihre Augen schienen aufzuleuchten. Sie wirkte überrascht. Sie lächelte, winkte mir rasch und verstohlen zu und wandte sich ab. Ich hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, wenn es überhaupt etwas heißen sollte. Vielleicht wollte sie unsere Beziehung geheim halten, wegen der altbekannten ›Kein Sex unter Arbeitskollegen‹-Sache.

Ich ging an Tom Lundgren, meinem alten Chef, vorbei, der eines dieser grässlichen Golfhemden mit grauen und grellrosa Streifen trug. Er hielt eine Flasche Wasser und zupfte nervös das Etikett in einem langen perfekten Streifen ab, während er mit angeklebtem Lächeln einer attraktiven Farbigen zuhörte, die wahrscheinlich Audrey Bethune war, Leiterin des Guru-Teams. Dicht hinter ihm stand eine Frau, von der ich annahm, dass sie Lundgrens Frau war, da sie ein identisches Golferoutfit trug und ihre Gesichtshaut fast so gerötet und wund war wie seine. Ein dünner, kleiner Junge zog an ihrem Ellbogen und quengelte mit schriller Stimme.

Etwa zwanzig Meter davon entfernt stand Goddard in einer kleinen Gruppe vertraut wirkender Männer und lachte. Er hatte eine Flasche Bier in der Hand und trug ein blaues Button-down-Hemd mit aufgerollten Ärmeln, eine ordentlich gebügelte Leinenhose mit Aufschlag, einen dunkelblauen Stoffgürtel, auf dem Wale abgebildet waren, und alte braune Mokassins. Der ultimative Landadel-Look. Ein kleines Mädchen rannte zu ihm, und er beugte sich zu ihr und zog ihr auf wundersame Weise eine Münze aus dem Ohr. Sie quiekte überrascht, er gab ihr die Münze, und sie rannte aufgeregt kreischend davon.

Dann sagte er wieder etwas, worauf seine Zuhörer lachten, als wäre er Jay Leno, Richard Pryor und Rodney Dangerfield in einer Person. Neben ihm stand Paul Camilletti in ordentlich gebügelten, ausgeblichenen Jeans und einem weißen Button-down-Hemd, dessen Ärmel ebenfalls aufgerollt waren. Im Gegensatz zu mir kannte er die Kleiderordnung – ich trug Leinenshorts und Polohemd.

Ihm gegenüber stand Jim Colvin, der COO, dessen dünne, teigig weiße Beine in einfachen grauen Bermudas staken. Eine richtige Modenschau hatten wir hier. Goddard blickte auf, sah mich und winkte mich zu sich.

Als ich zu ihm hinüberging, tauchte jemand aus dem Nichts auf und packte mich am Arm. Nora Sommers, in überdimensionalen Leinenshorts und einem pinkfarbenen Strickhemd mit aufgestelltem Kragen, die hocherfreut wirkte, mich zu sehen. »Adam!«, rief sie aus. »Wie schön, Sie hier zu sehen. Ist das nicht ein wundervolles Anwesen?«

Ich nickte und lächelte höflich. »Ist Ihre Tochter auch hier?«

Plötzlich wirkte sie peinlich berührt. »Megan macht gerade eine schwierige Phase durch, das arme Ding. Sie möchte überhaupt nicht mehr Zeit mit mir verbringen.« Komisch, dachte ich, ich mache gerade genau dieselbe Phase durch. »Sie geht lieber mit ihrem Vater zum Reiten, als einen Nachmittag mit ihrer Mutter und deren langweiligen Geschäftsfreunden zu verschwenden.«

Ich nickte. »Entschuldigen Sie mich –«

»Haben Sie schon Jocks Wagen gesehen? Sie stehen dort drüben in der Garage.« Sie wies über die Wiese auf ein scheunenähnliches Gebäude, das etwa hundert Meter entfernt lag. »Die müssen Sie sich ansehen. Sie sind großartig

»Das werde ich, danke«, sagte ich und machte einen Schritt auf Goddards Grüppchen zu.

Doch Noras Griff verstärkte sich. »Adam, ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich mich sehr über Ihren Erfolg freue. Es ist wirklich bezeichnend für Jock, dass er bereit war, Ihnen diese Chance zu geben, finden Sie nicht auch? Dass er so viel Vertrauen in Sie setzt. Ich bin so glücklich darüber!« Ich dankte ihr herzlich und entzog mich ihrem Griff.

Ich trat zu Goddard und blieb höflich neben ihm stehen, bis er mich bemerkte und näher heranwinkte. Er stellte mir Stuart Lurie vor, den Leiter von Corporate Development, der sagte: »Alles klar, Mann?«, und mir herzhaft die Hand schüttelte. Er war ein sehr gut aussehender Mann um die vierzig, der mit vorzeitigem Haarausfall geschlagen war und daraufhin alles so kurz geschoren hatte, dass es nun gewollt und cool wirkte.

»Adam ist Trions Zukunft«, sagte Goddard.

»Tja dann, schön, die Zukunft zu treffen«, sagte Lurie mit einem winzigen Anflug von Sarkasmus. »Aber ihm werden Sie doch keine Münze aus dem Ohr ziehen, Jock, oder?«

»Das ist nicht nötig«, antwortete Jock. »Adam zieht selbst schon ständig Kaninchen aus dem Hut, nicht wahr, Adam?« Goddard legte seinen Arm um meine Schultern, eine unbeholfene Geste, da ich so viel größer war als er. »Kommen Sie mal mit«, sagte er leise.

Er führte mich zu der überdachten Veranda. »Bald werde ich meine kleine traditionelle Zeremonie abhalten«, sagte er, als wir die Holztreppe hinaufstiegen. Ich hielt die Fliegentür für ihn auf. »Ich verteile kleine Geschenke, lustige Sachen – eigentlich Scherzartikel.« Ich lächelte und fragte mich, warum er mir das erzählte.

Wir gingen über die Veranda, auf der alte Korbmöbel standen, dann durch einen Vorraum und kamen in den Haupttrakt des Hauses. Die Böden waren mit breiten, alten Dielen aus Kiefernholz bedeckt, die bei jedem Schritt knarrten. Die Wände waren in cremeweiß gehalten, und alles wirkte hell, fröhlich und gemütlich. Ein undefinierbarer Geruch lag in der Luft, der typisch für alte Häuser ist. Alles wirkte behaglich, bewohnt und echt. Das Haus eines reichen, aber unprätentiösen Mannes, dachte ich. Wir gingen einen breiten Flur hinunter, an einem Wohnzimmer mit großem gemauertem Kamin vorbei und bogen dann um eine Ecke in einen schmaleren Flur mit gefliestem Boden. Beide Wände des Flurs waren bedeckt mit Regalen, auf denen unzählige Pokale und Ähnliches standen. Dann betraten wir einen kleinen Raum voller Bücherregale, in dessen Mitte ein langer Bibliothekstisch mit einem Computer, einem Drucker und einigen riesigen Pappkartons darauf stand. Das war offensichtlich Goddards Arbeitszimmer.

»Meine alte Schleimbeutelentzündung macht mir wieder zu schaffen«, sagte er entschuldigend und wies auf die großen Kartons auf dem Tisch, die voll gestopft waren mit eingeschlagenen Päckchen. »Sie sind doch ein strammer, junger Mann. Würden Sie mir die bitte nach draußen zum Podium neben der Theke tragen …«

»Natürlich«, sagte ich, ohne meine Enttäuschung zu zeigen. Ich hob einen der Riesenkartons an, der nicht nur schwer war, sondern auch sperrig und unhandlich, weil die Gewichte darin ungleich verteilt waren, so dass ich vor mir kaum etwas sehen konnte, als ich mich in Bewegung setzte.

»Ich führe Sie hinaus«, sagte Goddard. Ich folgte ihm in den schmalen Flur. Der Karton schrappte an den Regalen auf beiden Seiten entlang, und ich musste mich seitwärts drehen, um ihn durch den Flur zu manövrieren. Dann spürte ich, wie der Karton an etwas stieß. Es folgte ein lautes Krachen und das Geräusch von zerplitterndem Glas.

»Ach du Scheiße«, stieß ich hervor.

Ich drehte den Karton so, dass ich sehen konnte, was passiert war. Ich starrte auf die Bescherung: Irgendwie musste ich eine der Trophäen vom Regal gefegt haben. In einem Dutzend goldener Scherben verteilt lag sie auf dem Fliesenboden. Es war eine der Statuen, die aussahen, als wären sie aus massivem Gold, die in Wirklichkeit aber aus vergoldeter Keramik gemacht waren.

»O Gott, das tut mir Leid«, sagte ich, setzte den Karton ab und ging in die Hocke, um die Scherben aufzusammeln. Obwohl ich so vorsichtig mit dem Karton hantiert hatte, war ich wohl irgendwie dagegen gestoßen, ich hatte keine Ahnung, wie.

Goddard drehte sich um und wurde bleich. »Vergessen Sie’s«, sagte er mit angespannter Stimme.

Ich sammelte so viele Scherben wie möglich auf. Es war – vor dem Stoß – eine goldene Statuette gewesen, die einen rennenden Footballspieler zeigte. Hier war ein Bruchstück vom Helm, dort eine Faust, hier ein kleiner Football. Der Sockel war aus Holz und trug ein Messingschild mit der Aufschrift: 1995 CHAMPIONS – LAKEWOOD-SCHOOL-ELIJAH GODDARD – QUARTERBACK.

Elijah Goddard, so hatte Judith Bolton gesagt, war Goddards gestorbener Sohn.

»Jock«, sagte ich. »Es tut mir unendlich Leid.« Eine scharf gezackte Scherbe schnitt mir schmerzhaft in die Handfläche.

»Ich sagte: Vergessen Sie’s«, entgegnete Goddard mit stählernder Stimme. »Es ist unwichtig. Und jetzt kommen Sie, machen wir weiter.«

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fühlte mich beschissen, weil ich ein Andenken an seinen toten Sohn kaputtgemacht hatte. Ich wollte die Bescherung wegräumen, mochte ihn aber nicht noch wütender machen. So viel zu der Wertschätzung, die ich mir bei dem alten Mann aufgebaut hatte. Aus dem Schnitt in meiner Handfläche sickerte nun Blut.

»Mrs. Walsh wird sich darum kümmern«, sagte er mit hartem Unterton. »Kommen Sie schon, bringen wir die Geschenke raus.« Er ging den Flur hinunter und verschwand. Daraufhin hob ich den Karton hoch und trug ihn mit äußerster Vorsicht den schmalen Flur hinunter und aus dem Haus. Auf der Pappe hinterließ ich einen blutverschmierten Abdruck.

Als ich zurückkehrte, um den zweiten Karton zu holen, sah ich, dass Goddard auf einem Stuhl in der Ecke seines Arbeitszimmers saß. Er war vornübergebeugt, sein Kopf lag im Schatten, und er hielt den Holzsockel der Statue in seinen Händen. Ich zögerte, wusste nicht, was ich tun sollte, ob ich verschwinden und ihn allein lassen oder weiter die Kartons hinaustragen und so tun sollte, als hätte ich ihn nicht gesehen.

»Er war ein wunderbarer Junge«, sagte Goddard plötzlich und anfangs so leise, dass ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. Ich blieb stehen. Seine Stimme war leise, heiser und schwach und gab kaum ein Flüstern von sich. »Ein Sportler, groß und breitschultrig wie Sie. Und er hatte … ein Talent zum Glücklichsein. Wenn er in einen Raum trat, konnte man spüren, wie die Stimmung stieg. Er bewirkte, dass Menschen sich wohl fühlten. Er war schön, und er war freundlich, und er hatte dieses – dieses Funkeln in seinen Augen.« Langsam hob Goddard den Kopf und starrte vor sich hin. »Sogar als Baby quengelte oder weinte er fast nie …«

Goddards Stimme verlor sich in der Stille, und ich stand dort erstarrt, mitten im Raum und hörte einfach nur zu. Ich hielt eine zusammengeknüllte Serviette gegen meine Handfläche gepresst, um das Blut aufzusaugen, und spürte nun, wie sie feucht wurde. »Sie hätten ihn gemocht«, sagte Goddard. Er sah in meine Richtung, blickte aber irgendwie nicht mich an, so als sähe er an meiner Stelle seinen Sohn. »Das ist wahr. Ihr beide wäret Freunde geworden.«

»Es tut mir Leid, dass ich ihn nie kennen gelernt habe.«

»Alle mochten ihn. Er war ein Junge, der auf die Erde gekommen war, um jedermann glücklich zu machen – er hatte dieses Funkeln und das schönste Läch –« Ihm brach die Stimme. »Das schönste – Lächeln …« Goddard senkte den Kopf, und seine Schultern zuckten. Nach einer Weile sagte er: »Eines Tages bekam ich im Büro einen Anruf von Margaret. Sie weinte … Sie hatte ihn in seinem Zimmer gefunden. Ich fuhr nach Hause, konnte nicht mehr klar denken … Ich werde nie den Tag vergessen, natürlich … achtundzwanzigster August neunzehnhundertachtundneunzig. Elijah hatte in diesem Jahr das College in Haverford sausen lassen – eigentlich hatten sie ihn rausgeworfen, seine Noten waren katastrophal geworden, er ging nicht mehr in seine Seminare. Aber ich konnte ihn einfach nicht dazu bringen, mit mir darüber zu sprechen. Natürlich ahnte ich, dass er Drogen nahm, und ich versuchte, mit ihm zu reden, aber es war, als würde man gegen eine Wand sprechen. Er zog wieder zu uns und verbrachte die meiste Zeit auf seinem Zimmer oder trieb sich mit Leuten herum, die ich nicht kannte. Später hörte ich von einem seiner Freunde, dass er zu Beginn seines vorletzten Collegejahres mit Heroin angefangen hatte. Dies war nicht irgendein jugendlicher Delinquent, dies war ein begabter, freundlicher Mensch, ein guter Junge … Aber zu irgendeinem Zeitpunkt fing er an … wie heißt der Ausdruck: zu drücken? Und das veränderte ihn. Das Leuchten in seinen Augen verschwand. Er fing an, nur noch zu lügen. Es war, als versuchte er alles, was er war, auszulöschen. Wissen Sie, was ich meine?« Goddard sah mich wieder an. Nun rannen ihm Tränen übers Gesicht.

Ich nickte.

Ein paar lange Sekunden verstrichen, bevor er weitersprach. »Ich schätze, er suchte irgendwas. Er brauchte etwas, das die Welt ihm nicht geben konnte. Vielleicht ging ihm aber auch alles zu nahe, und er beschloss, diesen Teil von sich abzutöten.« Er sprach nun wieder mit erstickter Stimme. »Und dann den Rest von sich.«

»Jock«, setzte ich an, weil ich nicht wollte, dass er weitersprach.

»Der Gerichtsmediziner sagte, es hätte sich um eine Überdosis gehandelt. Er sagte, sie sei zweifelsfrei bewusst genommen worden, Elijah wusste, was er tat.« Er bedeckte sich mit seiner dicklichen Hand die Augen. »Man fragt sich: Was hätte ich anders machen können? Was habe ich falsch gemacht? Ich habe ihm ja sogar mal gedroht, ihn einsperren zu lassen. Wir versuchten, ihn zu einer Entziehungskur zu bewegen. Ich stand kurz davor, ihn wegzuschicken, ihn dazu zu zwingen, hatte aber nicht mehr die Möglichkeit dazu. Und dann habe ich mich immer und immer wieder gefragt: War ich zu hart, zu streng? Oder nicht hart genug? War ich zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt? – Ich glaube schon. Damals war ich wie ein Besessener. Ich war zu beschäftigt, meine gottverdammte Firma aufzubauen, als dass ich ihm ein echter Vater hätte sein können.«

Nun blickte er mich direkt an, und ich konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. Es fuhr mir wie ein Dolch in die Glieder. Meine Augen wurden ebenfalls feucht.

»Man geht zur Arbeit und baut sein kleines Königreich auf«, sagte er, »und vergisst, was wirklich zählt.« Er blinzelte heftig. »Ich möchte nicht, dass Sie das vergessen, Adam. Niemals.«

Goddard wirkte nun kleiner und runzliger, als wäre er um hundert Jahre gealtert. »Er lag auf seinem Bett, hatte sich voll geseibert und gepinkelt wie ein Baby, und ich wiegte ihn auch wie ein Baby in meinen Armen. Wissen Sie, wie es ist, sein eigenes Kind in einem Sarg zu sehen?«, flüsterte er. Ich bekam eine Gänsehaut und musste den Blick abwenden. »Ich dachte, ich könnte nie wieder zur Arbeit gehen. Ich dachte, ich würde nie darüber hinwegkommen. Margaret sagt ja, ich wäre nie darüber hinweggekommen. Fast zwei Monate blieb ich zu Hause. Ich wusste nicht, warum ich überhaupt noch lebte. Wenn so etwas passiert, dann – dann stellt man alles in Frage.«

Er schien sich daran zu erinnern, dass er ein Taschentuch in seiner Hosentasche hatte, also holte er es hervor und wischte sich damit übers Gesicht. »Ach, jetzt sehen Sie mich an«, sagte er mit einem tiefen Seufzer, und plötzlich entfuhr ihm unerwartet ein leises Lachen. »Sehen Sie mich alten Narren an. Als ich in Ihrem Alter war, dachte ich, wenn ich erst mal so alt wäre, wie ich jetzt bin, würde ich den Sinn des Lebens gefunden haben.« Er lächelte traurig. »Und jetzt weiß ich genauso wenig, was der Sinn des Lebens ist, wie eh und je. Oh, ich habe schon herausgefunden, was er nicht ist. Durchs Ausschlussverfahren. Und ich musste einen Sohn verlieren, um das zu lernen. Man bekommt ein großes Haus und ein schickes Auto, und vielleicht kommt man sogar auf die Titelseite von Fortune, und dann denkt man, man hätte es erfasst, nicht wahr? Bis Gott einem ein kleines Telegramm schickt, auf dem steht: ›Oh, ich vergaß zu erwähnen, dass all dies nichts bedeutet.‹ Und alle, die man auf dieser Erde liebt, – sind im Grunde nur geliehen, verstehen Sie. Und man liebt sie besser, solange man die Gelegenheit hat.« Eine Träne rollte ihm langsam über die Wange. »Bis heute noch frage ich mich, ob ich Eli wirklich gekannt habe. Vielleicht nicht. Obwohl ich es dachte. Ich weiß, dass ich ihn wirklich liebte, mehr, als ich je gedacht hätte, jemanden lieben zu können. Aber habe ich meinen Jungen wirklich gekannt? Ich könnte es Ihnen nicht sagen.« Er schüttelte langsam den Kopf, und ich sah, dass er langsam seine Fassung wiedergewann. »Wer auch immer Ihr Dad sein mag, er hat gottverdammtes Glück, so gottverdammtes Glück, und er wird es nie wissen. Er hat einen Sohn wie Sie, einen Sohn, der noch bei ihm ist. Ich weiß, er muss stolz auf Sie sein.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich leise.

»Oh, aber ich«, erwiderte Goddard. »Denn ich weiß, ich wäre es.«

Paranoia
00000000000_cover.html
b9783841207012_000017.xhtml
b9783841207012_000043.xhtml
b9783841207012_000108.xhtml
b9783841207012_000564.xhtml
b9783841207012_000577.xhtml
b9783841207012_000650.xhtml
b9783841207012_000729.xhtml
b9783841207012_001020.xhtml
b9783841207012_001373.xhtml
b9783841207012_001402.xhtml
b9783841207012_001558.xhtml
b9783841207012_001812.xhtml
b9783841207012_001950.xhtml
b9783841207012_002126.xhtml
b9783841207012_002210.xhtml
b9783841207012_002301.xhtml
b9783841207012_002314.xhtml
b9783841207012_002434.xhtml
b9783841207012_002687.xhtml
b9783841207012_002810.xhtml
b9783841207012_003016.xhtml
b9783841207012_003288.xhtml
b9783841207012_003352.xhtml
b9783841207012_003525.xhtml
b9783841207012_003648.xhtml
b9783841207012_003768.xhtml
b9783841207012_004037.xhtml
b9783841207012_004260.xhtml
b9783841207012_004272.xhtml
b9783841207012_004350.xhtml
b9783841207012_004582.xhtml
b9783841207012_004682.xhtml
b9783841207012_004859.xhtml
b9783841207012_005051.xhtml
b9783841207012_005178.xhtml
b9783841207012_005278.xhtml
b9783841207012_005382.xhtml
b9783841207012_005570.xhtml
b9783841207012_005642.xhtml
b9783841207012_005896.xhtml
b9783841207012_006127.xhtml
b9783841207012_006139.xhtml
b9783841207012_006495.xhtml
b9783841207012_006623.xhtml
b9783841207012_006753.xhtml
b9783841207012_007063.xhtml
b9783841207012_007261.xhtml
b9783841207012_007436.xhtml
b9783841207012_007582.xhtml
b9783841207012_007658.xhtml
b9783841207012_007764.xhtml
b9783841207012_008172.xhtml
b9783841207012_008237.xhtml
b9783841207012_008250.xhtml
b9783841207012_008357.xhtml
b9783841207012_008531.xhtml
b9783841207012_008616.xhtml
b9783841207012_008679.xhtml
b9783841207012_008836.xhtml
b9783841207012_008924.xhtml
b9783841207012_009042.xhtml
b9783841207012_009242.xhtml
b9783841207012_009405.xhtml
b9783841207012_009453.xhtml
b9783841207012_009730.xhtml
b9783841207012_009742.xhtml
b9783841207012_009843.xhtml
b9783841207012_009925.xhtml
b9783841207012_010060.xhtml
b9783841207012_010100.xhtml
b9783841207012_010339.xhtml
b9783841207012_010485.xhtml
b9783841207012_010613.xhtml
b9783841207012_010863.xhtml
b9783841207012_011118.xhtml
b9783841207012_011131.xhtml
b9783841207012_011355.xhtml
b9783841207012_011618.xhtml
b9783841207012_011818.xhtml
b9783841207012_012086.xhtml
b9783841207012_012231.xhtml
b9783841207012_012458.xhtml
b9783841207012_012638.xhtml
b9783841207012_012672.xhtml
b9783841207012_012809.xhtml
b9783841207012_012903.xhtml
b9783841207012_013095.xhtml
b9783841207012_013107.xhtml
b9783841207012_013235.xhtml
b9783841207012_013423.xhtml
b9783841207012_013570.xhtml
b9783841207012_013836.xhtml
b9783841207012_013982.xhtml
b9783841207012_014139.xhtml
b9783841207012_014242.xhtml
b9783841207012_014435.xhtml
b9783841207012_014575.xhtml
b9783841207012_014789.xhtml
b9783841207012_015198.xhtml
b9783841207012_015251.xhtml
b9783841207012_015264.xhtml
b9783841207012_015376.xhtml
b9783841207012_015459.xhtml
b9783841207012_015537.xhtml
b9783841207012_015871.xhtml
b9783841207012_015993.xhtml
b9783841207012_016018.xhtml
b9783841207012_016032.xhtml