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Goddard raste den Gang zum Konferenzraum hinunter, und ich musste mich anstrengen, mit ihm Schritt zu halten, ohne zu rennen. Meine Güte, der alte Mann hatte ein Tempo am Leib wie eine Schildkröte auf Amphetaminen. »Dieses verflixte Meeting wird das reinste Affentheater werden«, murmelte er. »Direkt nachdem ich hörte, dass sie ihren Auslieferungstermin zu Weihnachten nicht schaffen, habe ich ein Status-Meeting einberufen. Sie wissen, dass ich stinksauer bin, und werden sich aufführen wie eine Truppe russischer Ballerinas beim ›Tanz der Zuckerfeen‹. Adam, Sie werden mich jetzt mal von einer weniger angenehmen Seite kennen lernen.«
Ich antwortete nicht – was sollte ich auch sagen? Ich hatte schon Wutanfälle von ihm mitbekommen, und die waren nichts im Vergleich zu denen des einzigen anderen CEO, den ich kannte. Neben Nick Wyatt war er Mister Rogers.
Außerdem war ich immer noch erschüttert, gerührt von der kleinen intimen Szene im Arbeitszimmer seines Hauses am See – ich hatte wirklich noch nie einen Menschen gesehen, der sich so nackt gezeigt hatte. Bis zu diesem Moment hatte ich mich immer gefragt, warum Goddard ausgerechnet mich ausgesucht hatte, warum er sich zu mir hingezogen fühlte. Jetzt wusste ich es, und das erschütterte mein Weltbild. Ich wollte den alten Mann nicht mehr nur noch beeindrucken, ich wollte seine Anerkennung, und vielleicht sogar etwas Tiefergehendes.
Immer wieder fragte ich mich, warum zum Teufel Goddard auch so ein anständiger Kerl sein musste. Es war auch schon ohne diese Komplikation unerfreulich genug, für Nick Wyatt zu arbeiten. Jetzt arbeitete ich gegen den Dad, den ich nie gehabt hatte, und das stellte in mir alles auf den Kopf.
»Die Leiterin von Guru ist Audrey Bethune, eine sehr clevere junge Frau, die wirklich eine große Zukunft vor sich hat«, murmelte Goddard. »Aber dieses Desaster könnte ihre Karriere gefährden. Auf diesem Niveau habe ich für Murks wirklich keinerlei Verständnis mehr.« Als wir uns dem Konferenzraum näherten, wurde er langsamer. »Und nun, wenn Sie irgendwelche Ideen haben, zögern Sie nicht zu sprechen. Aber ich warne Sie: Dies ist eine hochkarätige und sehr eigenwillige Truppe, und sie wird Ihnen keine Vorschusslorbeeren gewähren, nur weil ich Sie ins Spiel gebracht habe.«
Das Guru-Team hatte sich um den großen Konferenztisch herum versammelt und wartete nervös. Als wir eintraten, blickten alle auf. Ein paar von ihnen lächelten und sagten »Hi, Jock« oder »Hallo, Mr. Goddard.« Sie sahen aus wie verschreckte Kaninchen. Ich konnte mich gut daran erinnern, dass ich vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls an solch einem Tisch gesessen hatte. Es gab ein paar verwirrte Blicke in meine Richtung und leises Getuschel. Goddard setzte sich ans Kopfende des Tischs. Neben ihm saß eine Farbige Ende dreißig, die Frau, die ich auch beim Barbecue mit Tom Lundgren und seiner Frau gesehen hatte. Goddard klopfte neben sich auf den Tisch, damit ich mich neben ihn setzte. Die letzten zehn Minuten hatte mein Handy in meiner Hosentasche vibriert, also nahm ich es jetzt verstohlen heraus und blickte auf die Digitalanzeige. Ich hatte ein paar Anrufe von einer Nummer, die ich nicht kannte. Also schaltete ich das Handy aus.
»Tag«, sagte Goddard. »Dies ist mein Referent, Adam Cassidy.« Hier und da wurde höflich gelächelt, und dann sah ich, dass eines der Gesichter meiner alten Freundin Nora Sommers gehörte. Ach du Scheiße, sie war auch im Guru-Team? Sie trug ein schwarzweiß gestreiftes Kostüm und hatte ihr Power-Make-up aufgelegt. Sie erhaschte meinen Blick und strahlte mich an, als wäre ich eine lang vermisste Sandkastenliebe. Ich lächelte höflich zurück und genoss den Augenblick in vollen Zügen.
Audrey Bethune, die Teamleiterin, trug ein wunderschönes blaues Kostüm mit weißer Bluse und dazu kleine goldene Ohrstecker. Sie hatte dunkle Haut und trug ihr Haar in einer perfekt frisierten und wie gelackt glänzenden Kuppel. Ich hatte ein paar rasche Nachforschungen über sie angestellt und wusste, dass sie aus einer Familie der oberen Mittelklasse stammte. Ihr Vater war genau wie ihr Großvater Arzt gewesen, und sie hatte jeden Sommer auf dem Familienanwesen in Oak Bluffs auf Marthas Vineyard verbracht. Sie lächelte mich an und enthüllte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Dann streckte sie hinter Jocks Rücken den Arm aus, um mir die Hand zu schütteln. Ihre Handfläche war trocken und kühl. Ich war beeindruckt. Ihre Karriere stand auf dem Spiel.
Guru – das Projekt trug den Codenamen TSUNAMI – war ein multifunktionaler Handheld Digital Assistant mit echter Killer-Technologie und Trions einziges Kombigerät. Es war ein PDA, ein Kommunikator, ein Handy. Es hatte die Kapazitäten eines Laptops, und das bei einem Gewicht von 250 Gramm. Mit ihm konnte man E-Mails und SMS verschicken, Tabellenkalkulation anstellen, es hatte einen richtigen HTML-Internetbrowser und einen großartigen TFT-Farbbildschirm mit Aktivmatrix.
Goddard räusperte sich. »Wir haben also eine kleine Herausforderung zu meistern«, sagte er.
»So kann man es auch ausdrücken, Jock«, entgegnete Audrey trocken. »Gestern bekamen wir die Ergebnisse unserer internen Prüfung, die zeigte, dass wir eine fehlerhafte Komponente haben. Das LCD ist vollkommener Müll.«
»Aha«, sagte Goddard mit einer Ruhe, von der ich wusste, dass sie erzwungen war. »Schlechte LCD-Anzeige, wie?«
Audrey schüttelte den Kopf. »Offenbar ist der LCD-Treiber defekt.«
»In jedem einzelnen Gerät?«, fragte Goddard.
»Genau.«
»Eine Viertelmillion Geräte haben einen schlechten LCD-Treiber«, sagte Goddard. »Ich verstehe. Das Auslieferungsdatum ist in – wie viel Wochen? – in drei Wochen. Mhm. Nun, soweit ich mich erinnere – und korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre –, hatten Sie geplant, die Geräte vor Ende des Quartals auf den Markt zu bringen, um die Einnahmen des dritten Quartals zu steigern und uns die gesamten dreizehn Wochen des Weihnachtsquartals zum Scheffeln dringendst benötigter Gelder zu geben.«
Sie nickte.
»Audrey, ich glaube, wir waren uns einig, dass Guru der große Wurf dieser Abteilung ist. Und wie wir alle wissen, hat Trion im Moment einige Schwierigkeiten auf dem Markt. Was bedeutet, es ist umso wichtiger, dass Guru pünktlich ausgeliefert wird.« Ich bemerkte, dass Goddard übertrieben bedächtig sprach, und wusste, dass er versuchte, seine große Verärgerung im Zaum zu halten.
Rick Durant, der glatt wirkende Marketingleiter, mischte sich mit betrübter Stimme ein: »Wir befinden uns in einer großen Klemme. Wir haben bereits eine Riesenkampagne vorab gestartet und überall Anzeigen geschaltet. ›Der Digital Assistant der nächsten Generation‹.« Er rollte mit den Augen.
»Jah«, murmelte Goddard. »Und jetzt sieht es so aus, als würden wir erst in der nächsten Generation ausliefern.« Er wandte sich an den Chef-Engineer, Eddie Cabral, einen rundgesichtigen, dunkelhäutigen Mann mit altmodischer Kurzhaarfrisur. »Gibt es ein Problem mit der Maske?«
»Ich wünschte, es wäre so«, gab Cabral zurück. »Nein, der ganze verdammte Chip muss neu gemacht werden, Sir.«
»Liegt es am Vertragshersteller in Malaysia?«, fragte Goddard.
»Wir waren bis jetzt stets zufrieden mit ihm«, erwiderte Cabral. »Die Toleranzen und die Qualität waren immer ziemlich gut. Aber er ist ein komplizierter ASIC. Er muss unsere firmeneigene LCD-Anzeige antreiben, und die Plätzchen kommen ganz einfach nicht rechtzeitig aus dem Ofen –«
»Was wäre, wenn man das LCD ersetzte?«, unterbrach ihn Goddard.
»Nein, Sir«, sagte Cabral. »Nicht, ohne das gesamte Gehäuse umzurüsten, was leicht weitere sechs Monate dauern würde.«
Plötzlich fuhr ich auf. Die Schlüsselwörter hallten in meinem Kopf. ASIC … firmeneigenes LCD …
»Das ist typisch bei ASICs«, entgegnete Goddard. »Es brennen immer ein paar Plätzchen an. Wie ist der Ertrag, vierzig, fünfzig Prozent?«
Cabral wirkte unglücklich. »Null. Es ist eine Art Herstellungsfehler.«
Goddard presste die Lippen zusammen. Er sah aus, als würde er jeden Moment losplatzen. »Wie lang wird es dauern, den ASIC neu zu entwickeln?«
Cabral zögerte. »Drei Monate. Wenn wir Glück haben.«
»Wenn wir Glück haben«, wiederholte Goddard. »Yep, wenn wir Glück haben.« Seine Stimme wurde nun stetig lauter. »Drei Monate, das heißt: Verschiebung des Auslieferungsdatums in den Dezember. Das klappt doch hinten und vorne nicht, oder?«
»Nein, Sir«, sagte Cabral.
Ich tippte Goddard auf den Arm, aber er ignorierte es. »Könnte man es in Mexiko schneller für uns produzieren?«
Die Leiterin der Herstellung, eine Frau namens Kathy Gornick, sagte: »Vielleicht ein, zwei Wochen, aber das bringt uns überhaupt nichts. Und dann wird die Qualität bestenfalls mittelmäßig sein.«
»Das ist ein gottverdammter Mist«, sagte Goddard. Ich hatte ihn noch nie zuvor ernsthaft fluchen hören.
Ich nahm mir eine Produktbeschreibung und tippte dann erneut an Goddards Arm. »Würden Sie mich bitte für einen Augenblick entschuldigen?«, fragte ich.
Ich stürzte aus dem Raum, trat in den Empfangsbereich und ließ mein Handy aufschnappen.
Noah Mordden war nicht an seinem Schreibtisch, also versuchte ich es über sein Handy, auf dem er sofort antwortete. »Was?«
»Hier spricht Adam.«
»Hier spricht der Besitzer des Handys.«
»Erinnern Sie sich noch an die hässliche Puppe in Ihrem Büro? Die, die ›Leck mich am Arsch, Goddard‹ sagt?«
»LoveMeLucille. Sie können sie nicht haben. Kaufen Sie sich selbst eine.«
»Hat sie nicht eine LCD-Anzeige auf ihrem Bauch?«
»Was wollen Sie, Cassidy?«
»Hören Sie, ich möchte etwas über den LCD-Treiber von Ihnen wissen. Den ASIC.«
Als ich ein paar Minuten später in den Konferenzraum zurückkehrte, steckten der Chef-Engineer und die Leiterin der Herstellung in einer hitzigen Debatte darüber, ob man eine andere LCD-Anzeige in das winzige Guru-Gehäuse quetschen konnte. Ich setzte mich still an meinen Platz und wartete auf eine Unterbrechung der Diskussion. Schließlich erhielt ich meine Gelegenheit.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, aber niemand achtete auf mich.
»Verstehen Sie«, führte Eddie Cabral aus, »das ist exakt der Grund, warum wir die Lancierung verschieben müssen.«
»Aber wir können es uns nicht leisten, die Lancierung von Guru zu verschieben«, schoss Goddard zurück.
Ich räusperte mich. »Würden Sie mir bitte eine Minute zuhören?«
»Adam«, sagte Goddard.
»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte ich, »aber erinnern Sie sich an diese Roboterpuppe namens LoveMeLucille?«
»Was machen wir denn jetzt?«, knurrte Rick Durant, »baden wir uns in unseren Misserfolgen? Erinnern Sie mich nicht daran. Wir haben eine halbe Million dieser grässlichen Puppen ausgeliefert und alle zurückbekommen.«
»Genau«, sagte ich. »Und deshalb haben wir auch dreihunderttausend ASICs, Spezialanfertigungen für Trions firmeneigenes LCD in einem Lagerhaus in Van Nuys.«
Ein paar grinsten, ein oder zwei lachten sogar. Einer der Engineers sagte, laut genug, dass alle es hören konnten, zu einem anderen: »Hat der eine Ahnung von Anschlüssen?«
Ein anderer sagte: »Das ist doch lächerlich.«
Nora sah mich, gekrümmt vor gespieltem Mitleid, an und zuckte die Schultern.
Eddie Cabral sagte: »Ich wollte, es wäre so einfach, äh, Adam. Aber ASICs sind nicht beliebig austauschbar. Sie müssen pin-kompatibel sein.«
Ich nickte. »Lucilles ASIC ist aus der Reihe SOLC-68. Ist das dieselbe wie in Guru?«
Goddard starrte mich an.
Wieder herrschte kurze Stille, dann hörte man das Rascheln von Papier.
»SOLC-68«, sagte einer der Engineers. »Ja, das müsste funktionieren.«
Goddard warf einen Blick durch den Konferenzraum und schlug dann auf den Tisch. »Dann ist ja alles klar«, sagte er. »Worauf warten wir noch?«
Nora strahlte mich schleimig an und zeigte mir zwei aufgestellte Daumen.
Auf dem Rückweg zu meinem Büro holte ich wieder mein Handy hervor. Fünf Nachrichten, alle von derselben Nummer, davon eine markiert als ›Vertraulich‹. Ich wählte meine Voicemail an und hörte Meachams unverwechselbar ölige Stimme. »Hier ist Arthur. Ich habe seit über drei Tagen nichts von Ihnen gehört. Das kann ich nicht akzeptieren. Ich erwarte bis heute Mittag Punkt zwölf eine E-Mail von Ihnen, sonst haben Sie mit Konsequenzen zu rechnen.«
Das war ein Schock. Die Tatsache, dass er mich angerufen hatte, was ein Sicherheitsrisiko darstellte, auch wenn der Anruf umgeleitet wurde, zeigte, wie ernst es ihm war.
Er hatte Recht: Ich hatte mich nicht mit ihm in Verbindung gesetzt. Aber ich beabsichtigte auch, die Verbindung zu lösen. Tut mir Leid, Kumpel.
Die nächste Nachricht kam von Antwoine, der mit hoher, angespannter Stimme sagte: »Adam, Sie müssen ins Krankenhaus kommen.« Und dann folgten fünf weitere Nachrichten desselben Inhalts. Antwoines Stimme klang immer verzweifelter: »Adam, zum Teufel, wo sind Sie? Kommen Sie schon, Mann. Kommen Sie sofort hierher.«
Ich machte bei Goddards Büro Halt – er schwatzte noch mit ein, zwei Leuten vom Guru-Team – und sagte zu Flo: »Können Sie Jock sagen, dass es bei mir einen Notfall gab? Es geht um meinen Vater.«