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Meine Voicemail wartete schon auf mich, als ich, spät wie üblich, zur Arbeit kam.
Eigentlich noch später als üblich. Mir war mulmig, mir dröhnte der Schädel, und mein Herz raste von dem riesigen Becher Billigkaffee, den ich in der U-Bahn runtergekippt hatte. Eine Welle Magensäure schwappte in meinem Bauch hin und her. Ich hatte daran gedacht, mich krankzumelden, aber die leise Stimme des gesunden Menschenverstands hatte mich gewarnt, nach den Ereignissen der Nacht zuvor sei es klüger, am Arbeitsplatz aufzutauchen und sich den Dingen zu stellen.
Die Wahrheit ist, dass ich fest mit meinem Rausschmiss rechnete – mich sogar fast darauf freute, so, wie man sich gleichermaßen fürchtet und freut, wenn einem ein schmerzender Zahn aufgebohrt wird. Als ich aus dem Auszug stieg und die halbe Meile durch die unteren vierzig Nischen des Großraumbüros zu meinem Arbeitsplatz ging, tauchten immer wieder Köpfe hinter den Trennwänden auf, wie Präriehunde, um einen Blick von mir zu erhaschen. Ich war eine Berühmtheit; die Sache war ’rum. Zweifellos herrschte reger E-Mail-Verkehr.
Meine Augen waren blutunterlaufen, mein Haar ungekämmt, ich sah aus wie ein wandelnder Sag-Nein-zu-Drogen-Spot.
Die kleine LCD-Anzeige auf meinem IP-Phone verkündete: Sie haben elf Voicemails. Ich drückte den Lautsprecher und ging sie durch. Allein das Abhören der teils aufgebrachten, teils anerkennenden, teils mahnenden Anrufe verstärkte den Druck hinter meinen Augäpfeln. Ich holte das Röhrchen Advil aus meiner untersten Schreibtischschublade und schluckte zwei. Damit waren es schon vier an diesem Morgen, was die empfohlene Höchstmenge überschritt. Aber was konnte schon passieren? Dass ich unmittelbar vor meinem Rausschmiss an einer Überdosis Ibuprofen starb?
Ich war Junior Product Line Manager für Routers in unserer Enterprise Division. Glauben Sie mir, die Übersetzung dafür wollen Sie gar nicht hören, sie ist einfach nur todlangweilig. Den ganzen Tag hörte ich nur Zeug wie »dynamische Bandbreitenumschaltung« und »integrierte Zugangsvorrichtung« und »IOS-Vorrichtungen« und »ATM-Backbones« und »IP-Abhörsicherheitsprotokoll«, und schwöre, ich verstand noch nicht mal die Hälfte von diesem Scheiß.
Griffin, ein Typ aus dem Vertrieb, der mich ›Goldjunge‹ nannte, prahlte in seiner Nachricht damit, dass er gerade ein paar Dutzend meiner Router verkauft hatte, und zwar, weil er dem Kunden zugesichert hatte, sie hätten eine ganz spezielle Vorrichtung – zusätzliche Mehrfachprotokolle für Livevideo-Streaming – dabei wusste er verdammt gut, dass dem nicht so war. Aber es wäre doch schön, wenn das Produkt um diese Funktion ergänzt würde, möglichst innerhalb der nächsten zwei Wochen, bevor das Produkt versandt wurde. Ja, träum schön weiter.
Daraufhin rief mich fünf Minuten später Griffins Vorgesetzter an, »nur um sich nach den Fortschritten bei den Mehrfachprotokollen zu erkundigen, um die Sie sich doch kümmern«, – als würde ich die Dinger persönlich bauen!
Dann ertönte die abgehackte, befehlsgewohnte Stimme eines Mannes namens Arnold Meacham, der sich als Leiter der Corporate Security, des firmeneigenen Sicherheitsdienstes, vorstellte und mich aufforderte, doch bitte sofort nach meinem Eintreffen in seinem Büro »vorbeizuschauen«.
Ich hatte keine Ahnung, wer Arnold Meacham war, jetzt mal abgesehen von seinem Titel. Ich hatte den Namen vorher noch nie gehört. Ich wusste noch nicht mal, wo sich der Sicherheitsdienst befand.
Es war schon komisch: Als ich die Nachricht hörte, fing mein Herz nicht an zu rasen, wie man vielleicht hätte erwarten können. Stattdessen schlug es langsamer, so als wüsste mein Körper, dass das Spiel aus war. Es war wirklich etwas Zenmäßiges, die innere Gelassenheit, die sich einstellt, wenn man erkennt, dass man ohnehin nichts mehr tun kann. Fast genoss ich diesen Moment.
Ein paar Minuten trank ich einfach nur meine Sprite und starrte auf die Wände meiner Arbeitsnische, auf den anthrazitfarbenen Noppenstoff, der aussah wie der Teppichboden in der Wohnung von meinem Dad. Ich hatte die Wände frei von jeglichen Zeichen einer menschlichen Behausung gehalten – keine Fotos von Frau und Kind (klar, ich hatte ja auch keine), keine Dilbert-Cartoons, nichts Cleveres oder Ironisches, das besagte, dass ich nur unter Protest hier war, denn darüber war ich schon lange hinaus. Ich hatte ein Bücherbord, auf dem sich ein Nachschlagewerk für Routing-Protokolle und vier dicke schwarze Mappen mit den technischen Daten des MG-50K-Routers befanden. Ich würde meinen Arbeitsplatz nicht vermissen.
Ich meine, es war ja nicht so, dass ich abgeschossen werden würde. Ich war davon überzeugt, dass ich bereits abgeschossen war. Jetzt ging es nur noch darum, den Körper zu beseitigen und das Blut aufzuwischen. Ich erinnerte mich, dass ich im College in französischer Geschichte mal etwas über die Guillotine gelesen hatte und dass der Scharfrichter, ein Arzt, ein ziemlich grausiges Experiment damit anstellte (ich schätze, jeder holt sich seinen Kick, wo er kann). Nachdem der Kopf abgehackt worden war, beobachtete er, wie sich Augen und Lippen ein paar Sekunden lang zusammenkrampften und zuckten, bis sich schließlich die Lider schlossen und sich nichts mehr regte. Als er daraufhin den Namen des Mannes rief, sprangen die Augen in dem vom Rumpf getrennten Kopf wieder auf und starrten den Scharfrichter an. Ein paar Sekunden später schlossen sie sich, doch dann rief der Arzt erneut den Namen des Mannes, und die Augen öffneten sich aufs Neue und starrten ihn an. Hübsch. Dreißig Sekunden nach seiner Abtrennung vom Rumpf reagiert der Kopf also noch. Und genau so fühlte ich mich. Die Klinge war bereits gefallen, da wurde mein Name gerufen.
Ich nahm das Telefon, rief in Arnold Meachams Büro an, erklärte der Sekretärin, ich sei auf dem Weg, und fragte, wie ich denn hinkäme.
Meine Kehle war ausgedörrt, also stoppte ich im Pausenraum, um mir eins der früher kostenlosen, jetzt fünfzig Cent teuren Getränke zu holen. Der Pausenraum lag zentral neben den Aufzügen, und als ich den ganzen Weg dorthin in einer Art Trance zurücklegte, erhaschten noch ein paar Kollegen einen Blick von mir und wandten sich rasch und verlegen ab.
Ich studierte den beschlagenen Kühlschrank mit Softdrinks, entschied mich gegen meine übliche Diät-Pepsi – im Moment brauchte ich wirklich nicht noch mehr Koffein – und nahm mir eine Sprite. Aus reinem Trotz legte ich kein Geld ins Glas. Wow, das würde es ihnen aber zeigen. Ich öffnete die Sprite und steuerte den Aufzug an.
Ich hasste meinen Job, verabscheute ihn richtig, also haute mich der Gedanke, ihn zu verlieren, nicht wirklich um. Auf der anderen Seite hatte ich nicht gerade ein Treuhandvermögen im Rücken und brauchte das Geld, ohne Zweifel. Das war ja schließlich der Sinn des Ganzen, nicht wahr? Im Wesentlichen war ich hierher gezogen, um meinen Dad bei seiner ärztlichen Betreuung zu unterstützen – meinen Dad, der mich für einen Versager hielt. In New York hatte ich als Barkeeper gearbeitet und die Hälfte verdient, aber viel besser gelebt. Schließlich wohnte ich in Manhattan! Hier hauste ich in einem schmierigen, ebenerdigen Einzimmerapartment auf der Pearl Street, das nach Abgasen stank und dessen Fenster klapperten, wenn morgens um fünf die Lastwagen vorbeifuhren. Gut, ich konnte ein paar Mal die Woche mit Freunden ausgehen, aber normal war auch, dass ich jeden Monat auf meinen Dispo zurückgreifen musste, und zwar noch weit vor dem Fünfzehnten, wenn auf wunderbare Weise der Gehaltsscheck auf meinem Konto landete. Die Bezahlung war also nicht gerade großartig, aber ich riss mir auch nicht wirklich den Arsch auf. Ich lief im Schongang. Ich arbeitete das Minimum an vereinbarten Stunden, kam spät und ging früh, erledigte aber mein Pensum. Meine Leistungsbeurteilungen waren nicht gerade großartig – ich war ein ›Kernmitarbeiter‹, Gruppe zwei, nur einen Schritt vom ›Basismitarbeiter‹, dem man den Abgang nahe legt.
Ich stieg in den Aufzug, prüfte, was ich anhatte – graues Poloshirt, schwarze Jeans, Turnschuhe –, und wünschte, ich hätte einen Schlips angezogen.