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Ich hatte in drei Lokalblättern eine Anzeige geschaltet, in der ich nach ambulanter Pflege für meinen Dad suchte. Die Anzeige machte deutlich, dass alle Bewerber willkommen und die Anforderungen nicht besonders hoch wären. Allerdings bezweifelte ich, dass da draußen noch irgendjemand übrig war – ich hatte schon zu oft in diesem Tümpel gefischt.

Ich erhielt genau sieben Bewerbungen. Drei davon stammten von Leuten, die die Anzeigen irgendwie missverstanden hatten und selbst nach jemandem suchten. Zwei Anruferinnen hatten einen derart starken ausländischen Akzent, dass ich mir noch nicht mal sicher war, dass sie englisch sprachen. Und eine Bewerbung kam von einem vollkommen vernünftig klingenden Mann mit angenehmer Stimme, der sich als Antwoine Leonard vorstellte.

Zwar hatte ich kaum freie Zeit, aber ich schaffte es, diesen Antwoine auf einen Kaffee zu treffen. Ich würde ihn nicht früher als unbedingt notwendig meinem Vater vorstellen – zuerst wollte ich ihn einstellen, und wenn er dann sah, worauf er sich eingelassen hatte, konnte er nicht so leicht einen Rückzieher machen.

Antwoine entpuppte sich als riesiger, Furcht einflößender Schwarzer mit Knasttattoos und Dreadlocks. Meine Einschätzung erwies sich als richtig: Sobald sich die Gelegenheit ergab, erzählte er mir, dass er gerade wegen Autodiebstahls im Gefängnis gesessen hatte und dies nicht sein erster Aufenthalt dort gewesen war. Als Referenz nannte er mir den Namen seines Bewährungshelfers. Es gefiel mir, dass er so aufrichtig war und nicht versuchte, damit hinter dem Berg zu halten. Eigentlich gefiel mir der ganze Typ. Er hatte eine freundliche Stimme, ein überraschend sanftes Lächeln, eine zurückhaltende Art. Zugegeben, ich war verzweifelt, aber ich dachte auch, wenn irgendjemand mit meinem Dad fertig werden würde, dann er, und ich engagierte ihn auf der Stelle.

»Hören Sie, Antwoine«, sagte ich, als ich aufstand, um zu gehen. »Die Sache mit dem Gefängnis …«

»Ist das ein Problem für Sie?« Er sah mich direkt an.

»Nein, das ist es nicht. Mir gefällt, dass Sie so offen damit umgehen.«

Er zuckte die Achseln. »Tja, dann …«

»Ich denke nur, es wäre nicht unbedingt nötig, so ungeheuer ehrlich gegenüber meinem Vater zu sein.«

Am Abend vor meinem Start bei Trion ging ich früh zu Bett. Seth hatte eine Nachricht auf Band hinterlassen und gefragt, ob ich nicht mit ihm und ein paar unserer Freunde ausgehen wollte, weil er nicht arbeiten müsse, aber ich hatte abgelehnt.

Der Wecker ging um halb sechs, und erst hatte ich den Eindruck, mit der Uhr stimme was nicht: Es war noch mitten in der Nacht. Als es mir wieder einfiel, spürte ich einen Adrenalinstoß, eine seltsame Mischung aus Angst und Aufregung. Jetzt begann das große Spiel, das Training war vorbei. Ich duschte und rasierte mich mit einer neuen Klinge, aber ganz langsam, um mich nicht zu schneiden. Vor dem Schlafengehen hatte ich sogar meine Kleider rausgelegt, mir einen Anzug von Zegna und die passende Krawatte ausgesucht und meine Cole-Haan-Schuhe auf Hochglanz poliert. Ich fand es besser, am ersten Tag im Anzug aufzutauchen, ganz egal, wie merkwürdig ich vielleicht damit aussähe; schließlich konnte ich immer noch Jacke und Krawatte ablegen.

Es war bizarr: Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich ein sechsstelliges Gehalt, obwohl ich natürlich noch nicht wirklich einen Scheck bekommen hatte, und immer noch wohnte ich in diesem Rattenloch. Aber das würde sich bald ändern.

Als ich in den silbernen Audi A6 stieg, der immer noch neu roch, fühlte ich mich noch exklusiver, und um meinen neuen Lebensabschnitt zu feiern, hielt ich bei Starbucks und kaufte mir einen dreifachen Grande Latte. Fast vier Dollar für eine gottverdammte Tasse Kaffee, aber hey, ich verdiente ja jetzt das große Geld. Auf dem Weg zu Trion hörte ich Rage Against The Maschine in voller Lautstärke, und als ich dort landete, röhrte Zack de la Rocha ›Bullet in the Head‹ und ich – in meinem perfekten firmenfinanzierten Outfit von Zegna und Cole-Haan – grölte ›No escape from the mass mind rape‹ mit ihm. Ich war high.

Erstaunlicherweise standen schon etliche Wagen in der Tiefgarage, obwohl es erst halb acht war. Ich parkte auf Ebene zwei.

Die Empfangsbeauftragte in Flügel B konnte meinen Namen weder auf der Liste mit Besuchern noch auf der mit neuen Angestellten finden. Ich war ein Niemand. Ich bat sie, Stephanie anzurufen, Tom Lundgrens Assistentin, aber Stephanie war noch nicht da. Schließlich erreichte sie jemanden in der Personalabteilung, der sie anwies, mich in den dritten Stock von Flügel E zu schicken. Ein weiter Weg.

Die folgenden zwei Stunden saß ich mit einem Klemmbrett im Empfangsbereich der Human Resources, kurz HR, und füllte ein Formular nach dem nächsten aus: Steuer, Kreditkonto, Versicherung, Bankeinzug, Aktienoptionen, Rentenkasse, Diskretionsklausel … Sie machten ein Foto von mir und gaben mir einen Firmenausweis mit ein paar weiteren kleinen Plastikkarten, die man an meinem Ausweishalter befestigen konnte. Auf denen standen Sachen wie TRION – CHANGE YOUR WORLD, OPEN COMMUNICATION und FUN und FRUGALITY. Ein bisschen kam ich mir vor wie im Sowjetstaat, aber es störte mich nicht besonders.

Eine aus der Personalabteilung machte mit mir eine kleine Führung durch Trion, was ziemlich beeindruckend war. Ein großartiges Fitnesscenter, ATM-Geldautomaten, eine Reinigung, in der man seine Sachen waschen oder reinigen lassen konnte, Pausenräume mit Softdrinks, Mineralwasser, Popcorn, Cappuccino – alles kostenlos.

In den Pausenräumen hatten sie große, bunte Hochglanzposter aufgehängt, auf denen eine Gruppe breitschultriger Männer und Frauen (asiatisch, schwarz, weiß) triumphierend auf der Erdkugel standen und darunter die Worte TRINK VERANTWORTUNGSVOLL! TRINK SPARSAM! »Der typische Mitarbeiter bei Trion konsumiert durchschnittlich fünf Getränke pro Tag«, hieß es dann. »Wenn man nur ein Kaltgetränk pro Tag weniger tränke, könnte Trion 2,4 Millionen Dollar pro Jahr sparen.«

Man konnte seinen Wagen waschen und polieren lassen; man bekam ermäßigte Eintrittskarten fürs Kino, für Konzerte und Baseballspiele; es gab ein Babyprämienprogramm (›für den Fall der Fälle: eine Prämie pro Haushalt‹). Mir fiel auf, dass im Flügel D der Aufzug nicht im fünften Stück anhielt – »Sonderprojekte«, erklärte mir meine Begleiterin. »Kein Zutritt.« Ich versuchte, kein besonderes Interesse zu zeigen. Und fragte mich, ob es sich hierbei um die Skunkworks handelte, auf die Wyatt so scharf war.

Schließlich holte Stephanie mich ab und brachte mich in den sechsten Stock von Flügel B. Tom telefonierte gerade, winkte mich aber herein. Sein Büro war voll mit Einzel- und Gruppenfotos seiner Kinder – fünf Jungen, registrierte ich – und außerdem von Bildern und Bastelprodukten, die die Kinder selbst fabriziert hatten. Die Bücher auf dem Regal hinter ihm waren das Übliche: Management-Guide, Dialektik für Manager, Gesunde Rücksichtslosigkeit. Seine Beine zuckten wie verrückt und sein Gesicht sah aus, als wäre es mit einem Topfreiniger wund geschrubbt worden. »Steph«, sagte er, »könnten Sie Nora bitten, vorbeizukommen?«

Ein paar Minuten später knallte er den Hörer auf den Apparat, sprang auf und schüttelte mir die Hand. Sein Ehering war breit und glänzend.

»Hey, Adam, willkommen im Team!«, sagte er. »Mann, bin ich froh, dass wir Sie ergattert haben. Setzen Sie sich doch!« Ich setzte mich. »Wir brauchen Sie, mein Freund. Wir sind hier alle ziemlich überstrapaziert, bis an die Grenzen der Kapazitäten. Wir decken dreiundzwanzig Produkte ab, haben einige unserer wichtigsten Mitarbeiter verloren und sind jetzt überlastet. Das Mädel, das Sie ersetzen, wurde versetzt. Sie kommen in Noras Team und arbeiten an der Auffrischung der Maestro-Reihe, die, wie Sie sehen werden, einige Probleme hat. Da sind ein paar größere Löscharbeiten vonnöten und – ah, da ist sie ja!«

Nora Sommers stand in der Tür, eine Hand auf dem Knauf, wie eine Diva. Geziert streckte sie die andere Hand aus. »Hi, Adam, willkommen. Ich freue mich, dass Sie bei uns sind!«

»Schön, hier zu sein.«

»Ich sage Ihnen gleich, dass die Entscheidung nicht ganz einfach war. Wir hatten einige wirklich gute Kandidaten. Aber wie heißt es so schön: Das Bessere ist der Feind des Guten. Nun, sollen wir es direkt angehen?«

Ihre Stimme, die fast mädchenhaft geklungen hatte, wurde sofort tiefer, nachdem wir Tom Lundgrens Büro verlassen hatten. Sie sprach auch schneller und spuckte die Worte fast aus. »Ihr Arbeitsplatz ist direkt dort drüben«, sagte sie und wies mit dem Zeigefinger in die Luft. »Wir benutzen hier Webphones – ich nehme an, Sie kennen sich damit aus.«

»Keine Sorge.«

»Computer, Telefon – es sollte schon alles da sein. Wenn Sie sonst noch was brauchen, rufen Sie einfach die Haustechnik an. Gut, Adam, ich sollte Sie warnen, bei uns erwartet Sie kein Händchenhalten. Es ist eine ziemlich steile Lernkurve, aber der sind Sie sicher gewachsen. Wir werfen Sie einfach in den Pool und dann heißt es: schwimmen oder untergehen.« Sie sah mich herausfordernd an.

»Ich ziehe schwimmen vor«, antwortete ich mit viel sagendem Lächeln.

»Schön, das zu hören«, erwiderte sie. »Ihre Einstellung gefällt mir.«

Paranoia
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