31

Jede Sekunde konnte der Wachdienst da sein. Vielleicht war er nur deshalb noch nicht da, weil es Wochenende war und weniger Wachmänner patrouillierten.

Ich rannte zur Tür, warf mich seitwärts gegen die Verriegelung, und die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Der Aufprall tat höllisch weh.

Ich versuchte es noch einmal. Die Tür war verriegelt. Oh nein! Ich versuchte es an einer anderen Tür, aber die war ebenfalls von innen verschlossen.

Jetzt wurde mir klar, was das seltsame metallische Geräusch ein, zwei Minuten zuvor bedeutet hatte – beim Öffnen des Schubfachs hatte ich wohl einen Mechanismus in Gang gesetzt, der alle nach draußen führenden Türen der Abteilung automatisch verriegelte. Ich rannte zur anderen Seite des Stockwerks, wo es weitere Türen nach draußen gab, aber sie ließen sich ebenfalls nicht öffnen. Selbst der Notausgang zu einem kleinen Treppenhaus war verschlossen, und das war definitiv gegen das Gesetz.

Ich war gefangen wie ein Kaninchen in der Falle. Jede Sekunde würde der Sicherheitsdienst kommen und das Stockwerk durchsuchen.

Meine Gedanken rasten. Konnte ich den Versuch wagen, ihnen was vorzumachen, vorgeben, ich wäre ein Angestellter, der »zufällig« die falsche Schublade geöffnet hatte? Frank, der Wachmann, hatte mich eingelassen – vielleicht konnte ich ihn davon überzeugen, dass ich nur zufällig in die falsche Abteilung geraten war und das falsche Schubfach gezogen hatte. Er schien mich zu mögen, vielleicht würde es funktionieren. Aber was war, wenn er doch seinen Job richtig machte, mich um meinen Ausweis bat und sah, dass ich nicht im Entferntesten hierher gehörte?

Nein, das konnte ich nicht wagen. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste mich verstecken.

Ich saß hier fest.

»Stuck inside these four walls«, jammerte Wings widerwärtigerweise. Herrgott!

Das Signallicht blitzte blendend hell, und die Sirene heulte huu-ah, huu-ah, als wären wir in einem Atomreaktor während einer Kernschmelze.

Aber wo konnte ich mich verstecken? Ich dachte mir, zuerst sollte ich ein kleines Ablenkungsmanöver starten, irgendeinen plausiblen, harmlosen Grund liefern, warum der Alarm losgegangen war. Scheiße, ich hatte keine Zeit!

Wenn ich hier geschnappt wurde, war es aus. Alles. Ich würde nicht nur meinen Job bei Trion verlieren. Es käme noch viel schlimmer. Es war eine Katastrophe, ein völliger Albtraum.

Ich packte mir den nächststehenden Abfallbehälter aus Metall. Er war leer, also riss ich ein paar Blätter Papier von einem Schreibtisch in der Nähe, knüllte sie zusammen, kramte mein Feuerzeug heraus und zündete sie an. Dann rannte ich zurück zur Nische mit den vertraulichen Akten und stellte den Abfalleimer dort an der Wand ab. Danach nahm ich eine Zigarette aus meinem Päckchen und warf sie ebenfalls in den Eimer. Das Papier fing Feuer, die Flammen stiegen hoch und setzten eine mächtige Rauchwolke frei. Wenn der Wachdienst den Teil einer Zigarette fände, würde er vielleicht einen schwelenden Stummel für das Feuer verantwortlich machen. Vielleicht.

Ich hörte laute Schritte, Stimmen, die von der Hintertreppe zu kommen schienen.

Nein, bitte, lieber Gott. Es ist alles aus. Es ist alles aus.

Ich entdeckte etwas, das aussah wie eine Schranktür. Sie war nicht verschlossen. Es handelte sich um ein Magazin, nicht besonders breit, doch vielleicht vier Meter tief und von oben bis unten versehen mit Regalen voller Papier und Ähnlichem.

Ich wagte nicht, Licht zu machen, also konnte ich kaum etwas sehen, aber ich machte eine Lücke zwischen den Regalen im hinteren Teil aus, in die ich mich quetschen konnte.

Gerade als ich die Schranktür hinter mir zuzog, hörte ich, wie eine andere Tür aufging, und dann gedämpfte Rufe.

Ich erstarrte. Die Sirene dröhnte und dröhnte. Leute rannten hin und her, die Rufe waren lauter, näher.

»Hier drüben!«, schrie jemand.

Mein Herz hämmerte. Ich hielt den Atem an. Wenn ich mich nur geringfügig bewegte, quietschte ein Regal in meinem Rücken. Ich verlagerte mein Gewicht, und meine Schulter strich raschelnd an einem Karton vorbei. Ich bezweifelte, dass irgendjemand, der hier vorbeiging, diese leisen Geräusche bei all dem Lärm dort draußen, dem Geschrei und den Sirenen und so weiter hören konnte. Trotzdem zwang ich mich, vollkommen reglos zu stehen.

» – verdammte Zigarette!«, hörte ich zu meiner Erleichterung.

» – Feuerlöscher –«, antwortete jemand.

Lange, lange Zeit – es hätten zehn Minuten sein können oder auch dreißig, ich hatte keine Ahnung, denn ich konnte meinen Arm nicht bewegen und auf die Uhr schauen – stand ich dort in höchst unbequemer Verrenkung, heiß und verschwitzt, in einem Zustand vorübergehenden Atemstillstands, während meine Füße wegen der seltsamen Haltung langsam taub wurden.

Ich erwartete jeden Moment, dass die Schranktür aufschwänge, das Licht hereinfiele und die Sache vorbei wäre.

Ich wusste nicht, was ich dann noch sagen konnte. Verdammt, nichts mehr, gar nichts. Man würde mich schnappen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich mich da rausreden sollte. Ich hätte Glück, wenn ich nur meinen Job verlöre. Wahrscheinlich musste ich mit einer Klage von Trion rechnen – es gab einfach keine gute Erklärung dafür, dass ich hier war. Und ich wollte noch nicht mal daran denken, was Wyatt dann mit mir anstellen würde.

Und was hatte der ganze Ärger gebracht? Nichts. Alle AURORA-Akten waren verschwunden.

Ich hörte ein Spritzen, ein Sprühen, offensichtlich war der Feuerlöscher in Betrieb gesetzt worden, und nur noch hier und da hörte man Rufe. Ich fragte mich, ob der Sicherheitsdienst firmeneigene Brandbeauftragte oder die städtische Feuerwehr geholt hatte. Und ob das Feuer im Abfalleimer als Erklärung für den Alarm ausreichend gewesen war. Oder würden sie die Abteilung durchsuchen?

So stand ich da, während meine Füße sich in kribbelnde Eisblöcke verwandelten, Schweißperlen über mein Gesicht rannen und mein Rücken von schmerzhaften Krämpfen ergriffen wurde.

Und wartete.

Hier und da hörte ich noch Stimmen, aber sie schienen ruhiger, sachlicher. Ich hörte Schritte, die aber nicht mehr aufgeregt trappelten.

Nach einer endlosen Zeitspanne wurde es still. Ich versuchte, meinen linken Arm zu heben, um nach der Uhr zu sehen, aber er war eingeschlafen. Ich zappelte ein bisschen herum, führte meinen rechten Arm zu meinem linken und kniff ihn, bis ich ihn an mein Gesicht heben und einen Blick auf das beleuchtete Zifferblatt werfen konnte. Es war ein paar Minuten nach zehn, aber ich hatte hier schon so lange gestanden, dass ich sicher gewesen war, es wäre nach Mitternacht.

Langsam löste ich mich aus meiner Position, die eines Schlangenmenschen würdig gewesen wäre, und langte geräuschlos nach der Schranktür. So stand ich eine Weile da und lauschte angestrengt. Ich konnte nichts hören. Es schien ziemlich sicher, dass sie weg waren – sie hatten das Feuer gelöscht, waren beruhigt, dass es keinen Einbruch gegeben hatte. Menschliche Wesen, vor allem Wachmänner, hegen wohl einen gewissen Groll gegen all die Computer, die sie aus der Arbeit gedrängt haben, und trauen Maschinen ohnehin nicht. Also würden sie rasch dabei sein, das Ganze auf eine Panne des Alarmsystems zu schieben. Vielleicht, wenn ich wirklich Glück hatte, würde sich niemand fragen, warum der Einbruchsalarm vor dem Feueralarm losgegangen war.

Dann holte ich tief Luft und öffnete langsam die Tür.

Ich warf vorsichtig Blicke nach allen Seiten, aber die Abteilung schien leer zu sein. Niemand da. Ich wagte mich ein paar Schritte vor, hielt inne und blickte mich wieder um.

Kein Mensch da.

Es roch stark nach Rauch und auch nach etwas Chemischem, wahrscheinlich nach dem Zeug vom Feuerlöscher.

Leise schlich ich mich an der Wand entlang, mied Fenster und Glastüren, bis ich einen Ausgang erreichte. Es war nicht der Haupteingang im Empfangsbereich und auch nicht die Hintertür zum Treppenhaus, durch die der Sicherheitsdienst hereingekommen war.

Er war verriegelt.

Immer noch verriegelt.

Verdammt noch mal, nein!

Sie hatten die automatische Verriegelung nicht deaktiviert. Mit steigendem Adrenalinspiegel bewegte ich mich nun etwas rascher zu den Türen im Empfangsbereich und drückte gegen den Riegel, aber der ließ sich ebenfalls nicht bewegen.

Ich war eingeschlossen.

Und was nun?

Ich hatte keine andere Wahl. Es gab keine Möglichkeit, die Türen von innen zu öffnen, zumindest keine, die mir beigebracht worden wäre. Und ich konnte wohl kaum den Sicherheitsdienst rufen, vor allem nicht nach dem, was gerade passiert war.

Nein. Ich musste hier drinnen bleiben, bis mich jemand herausließ. Und das konnte bis zum nächsten Morgen dauern, bis die Putzkolonne kam. Oder schlimmer: bis die Mitarbeiter der Personalabteilung eintrafen. Und dann musste ich mir wohl etwas Glaubwürdiges einfallen lassen.

Ich war erschöpft. Ich suchte mir eine Nische weit weg von Türen und Fenstern und ließ mich dort nieder. Ich war vollkommen fertig. Ich brauchte dringend Schlaf. Also verschränkte ich meine Arme, legte den Kopf darauf und schlief, wie ein prüfungsgestresster Student in der Bibliothek, sofort ein.

Paranoia
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