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Die Via Appia
Es war fast elf Uhr vormittags, als die zwei jungen Männer in ihrem offenen Kabriolett die Pyramide des Sextius zur Rechten hinter sich ließen und die großen Pflastersteine der Via Appia befuhren, denen zweitausend Jahre Geschichte nichts hatten anhaben können.
Wie wir wissen, war die Via Appia im Rom Cäsars, was die Champs-Élysées, der Bois de Boulogne oder die Buttes Chaumont im Paris des Monsieur Haussmann sind.
In den Hochzeiten der Antike hieß sie »die große Appia«, die Königin der Straßen, der Weg zum Elysium; sie war im Leben wie im Tod der Ort, an dem die Reichsten, Edelsten und Vornehmsten der Ewigen Stadt sich ein Stelldichein gaben.
Bäume jeder Art spendeten Schatten, insbesondere prachtvolle Zypressen, die prunkvolle Grabmäler beschatteten; auch an den anderen Straßen, an der Via Flaminia und der Via Latina, befanden sich Gräber wie an der Via Appia. Der Ort, wo der Leichnam die Ewigkeit verbringen würde, war von vordringlichem Interesse für die Römer der Antike, deren Todesbesessenheit an die der Engländer heranreichte und bei denen unter der Herrschaft insbesondere Tiberius’, Caligulas und Neros der Selbstmord geradezu epidemische Ausmaße annahm.
Nur in seltenen Fällen überließ man als Lebender die Sorge um sein Grab den Erben, denn es war eine ganz besondere Befriedigung, mit eigenen Augen zuzusehen, wie das Grabmal entstand, und die meisten bis heute erhaltenen Grabmäler tragen entweder die zwei Buchstaben V und F, was bedeutet: Vivus Fecit, oder V S P, was heißt: Vivus Sibi Posuit, oder aber die Buchstaben V F C, und dies heißt Vivus Faciendum Curavit.
In der Tat war es für einen Römer, wie wir sehen werden, von größter Wichtigkeit, sich einer seit den Tagen Ciceros eingebürgerten religiösen Tradition gemäß bestatten zu lassen, auch wenn seit ebenjener Zeit die verschiedenen Formen des Glaubens im Schwinden begriffen waren und ein Augur – wenn wir unserem Rechtsgelehrten aus Tusculum glauben wollen – lachen musste, wenn er seinesgleichen begegnete, doch unverbrüchlich glaubte man, dass die Seele des Toten, der nicht bestattet worden war, hundert Jahre lang am Ufer des Styx umherirren musste. Wer unterwegs auf einen Leichnam stieß und diesen nicht bestattete, beging ein Sakrileg, für dessen Sühne er Ceres eine Sau opfern musste.
Doch die Bestattung war noch nicht alles, man wünschte auch, behaglich bestattet zu sein; der heidnische Tod, gefallsüchtiger als der unsere, zeigte sich den Sterbenden der Zeit eines Augustus keineswegs etwa als klapperndes Skelett mit knöchernem Totenkopf, leeren Augenhöhlen und furchterregendem Grinsen – nein, er zeigte sich in Form einer schönen Frau, der bleichen Tochter des Schlafs und der Nacht, mit langen aufgelösten Haaren, weißen und kalten Händen und eisigen Küssen, fast als wäre sie eine unbekannte Freundin, die aus der Finsternis kam, wenn man sie rief, ernst, langsam und schweigend näher trat, sich über das Kopfkissen des Sterbenden beugte und ihm mit demselben unheilvollen Kuss Lippen und Augen zugleich schloss. Dann war der Leichnam taub, stumm und fühllos bis zu dem Augenblick, da der Scheiterhaufen für ihn entzündet wurde, und wenn die Flammen seinen Körper verzehrten und den Geist von der Materie sonderten, wurde die Materie zu Asche und der Geist wurde göttlich. Diese neue Gottheit, die zu den Manen gehörte, den Totengöttern, blieb für die Lebenden so unsichtbar wie unsere Gespenster, nahm aber wieder die Gewohnheiten, Vorlieben und Leidenschaften des Verstorbenen auf; sie ergriff gewissermaßen Besitz von seinen Empfindungen, liebte, was er geliebt hatte, und hasste, was er gehasst hatte.
Deshalb legte man in das Grab eines Kriegers dessen Schild, Speere und Schwert, in das Grab einer Frau ihre Nadeln, ihre Diamanten, ihre goldenen Ketten und Perlenhalsbänder und in das Grab eines Kindes seine Lieblingsspielsachen, Brot, Früchte und in einem Alabastergefäß einige Tropfen Milch aus der Mutterbrust, an der es nur so kurz gesaugt hatte.
Und wenn die Lage des Hauses, das sie während ihres kurzen Lebens bewohnten, den Römern ernsthafter Erwägung würdig erschien, dann kann man sich denken, welch noch größere Aufmerksamkeit sie auf den Entwurf, die Lage und die mehr oder wenige erfreuliche, mehr oder weniger ihrem Geschmack, ihren Gewohnheiten und ihren Wünschen entsprechende Umgebung jener Behausung richten mussten, die sie in alle Ewigkeit bewohnen würden, denn die Manen waren sesshafte Gottheiten und an ihre Grabmäler gebunden, was ihnen allerhöchstens erlaubte, einen Spaziergang um das Grab herum zu machen.
Manche waren den ländlichen Freuden gewogen und von einfachem Geschmack und bukolischer Neigung; diese wenigen ordneten an, ihre Grabmäler in ihren Gärten oder auf ihren Ländereien zu errichten, damit sie ihre Ewigkeit in Gesellschaft der Nymphen, der Faune und Dryaden verbringen konnten, in Schlaf gewiegt vom sanften Geräusch der im Wind raschelnden Blätter, unterhalten vom Rauschen der Bäche über den Kieseln, entzückt vom Gesang der Vögel in den Zweigen.
Diese waren die Philosophen und die Weisen; andere jedoch – und sie waren die Mehrzahl, die große Mehrheit, der überwiegende Teil – bedurften ebenso sehr der Bewegung, der Unruhe und des Tumults wie Erstere der Ruhe und Sammlung, und diese anderen erwarben zu Höchstpreisen Grundstücke am Straßenrand, dort, wo Reisende aus allen Ländern vorbeikamen, die Neuigkeiten aus Asien und Afrika nach Europa brachten, Grundstücke an der Via Latina, an der Via Flaminia und vor allem an der Via Appia, welche so mondän geworden war, dass sie allmählich weniger als Landstraße betrachtet wurde denn als Vorort der Stadt Rom; sie führte zwar noch nach Neapel, doch links und rechts säumten sie Häuser, die Paläste waren, und Grabmäler, die Monumente waren; und so kam es, dass die begüterten Manen, die vom Schicksal so begünstigt waren, an der Via Appia bestattet zu sein, nicht nur bekannte und unbekannte Passanten vorbeiwandern sahen und nicht nur hörten, was die Reisenden an Neuigkeiten über Asien und Afrika austauschten, sondern darüber hinaus sogar aus dem Mund ihrer Grabmäler und mit ihren Grabinschriften zu diesen Passanten sprachen.
Und da wie gesagt der Charakter des Menschen ihn ins Jenseits begleitete, sagte der Bescheidene von sich:
Ich war und bin nicht mehr.
Das ist mein ganzes Leben und mein ganzer Tod.
 
Der Reiche sagte:
Hier ruht
STABIRIUS.
In allen römischen Dekurien
hätte er dienen können,
aber er wollte nicht.
Er war fromm, tapfer und treu
und kam aus dem Nichts; er hinterließ dreißig Millionen
Sesterzen
und hat nie etwas auf die Philosophen gegeben.
Gehabe Dich wohl und eifere ihm nach.
Und um die Aufmerksamkeit der Passanten noch unfehlbarer zu fesseln, hatte Stabirius, der Reiche, über seiner Grabinschrift gar eine Sonnenuhr einmeißeln lassen!
Der Gebildete sagte:
Reisender!
Sei es Dir auch eilig, Dein Ziel zu erreichen,
bittet Dich dieser Stein, ihm einen Blick zu gönnen
und zu lesen, was darauf geschrieben steht:
Hier ruhen die Knochen des Dichters
MARCUS PACUVIUS.
Dies wollte ich Dir sagen,
Adieu!
Der Verschwiegene sagte:
Mein Name, meine Geburt, meine Herkunft,
was ich war und was ich bin,
will ich nicht verraten.
Verstummt für alle Zeiten, bin ich nichts als
Asche, Knochen, nichts!
Aus dem Nichts gekommen, bin ich dorthin zurückgekehrt.
Mein Los harrt Deiner! Adieu!
Der mit allem Zufriedene sagte:
Mein Lebtag lang habe ich gut gelebt.
Mein Auftritt ist beendet, der Eure wird es bald sein.
Adieu! Spendet Beifall!
Zuletzt ließ eine unbekannte Hand, zweifellos die eines Vaters, das Grab seiner Tochter, die ihm im Alter von sieben Jahren genommen worden war, die Worte sagen:
Erde! Laste nicht auf ihr!
Sie lastete nicht auf dir!
Aber an wen richteten all diese Toten, die sich an das Leben klammerten, ihre Sprache der Grabinschriften? Wen riefen sie aus ihren Gräbern an, wie Freudenmädchen an ihre Fenster klopfen, um die Passanten zu veranlassen, sich umzudrehen? Was war das für eine Welt, der sie sich in Gedanken noch immer beigesellten und die fröhlich und sorglos schnellen Schritts vorbeiwanderte, ohne sie zu hören oder zu sehen?
Diese Welt war die Welt all dessen, was es in Rom an Schönheit, Eleganz, Reichtum und Aristokratie gab. Die Via Appia war das Longchamp der Antike, doch dieses Longchamp dauerte nicht drei Tage, sondern das ganze Jahr.
Gegen vier Uhr nachmittags, wenn die größte Hitze vorbei war, wenn die Sonne sich weniger glühend und weniger strahlend dem tyrrhenischen Meer entgegensenkte, wenn der Schatten der Pinien, der grünen Kastanien und der Palmen sich von Westen nach Osten verlängerte, wenn der sizilianische Oleander den Staub des Tages abschüttelte, sobald der erste Windhauch von den bläulichen Bergketten herabwehte, die der Tempel des Jupiter Latiaris überragt, wenn die indische Magnolie ihre elfenbeinfarbenen Blüten wieder öffnete, geformt wie duftende Schalen zum Auffangen des abendlichen Taus, wenn die Nixenblume des Kaspischen Meeres, die sich vor der Hitze des Zenits in den feuchten Schoß des Sees geflüchtet hatte, an die Wasseroberfläche zurückstieg, um mit der ganzen ausgebreiteten Fläche ihres Blütenkelchs die nächtliche Frische zu atmen – dann kam aus der Porta Appia, was man als Speerspitze der Stutzer, der trossuli, der kleinen Trojaner Roms bezeichnen kann, und die Bewohner der Vorstadt Appia kamen aus ihren Häusern, rissen alle Fenster und Türen auf, um Luft zu schöpfen, setzten sich auf Stühle oder Sessel, die aus dem Atrium herbeigetragen wurden, stützten sich auf die Prellsteine, die den Reitern zum Aufsitzen dienten, oder lehnten sich auf den runden Bänken zurück, die man zur größeren Bequemlichkeit der Lebenden an die Wohnungen der Toten angelehnt hatte, und machten sich daran, die Vorübergehenden kritisch zu mustern.
Weder die Pariser, die sich in zwei Spalieren an den Champs-Élysées drängten, noch die Florentiner, die zum Cascine-Park eilten, die Wiener, die den Prater stürmten, oder die Neapolitaner, die sich zu Pfropfen in der Via Toledo und in der Via Chiaia ballten, hatten jemals eine solche Vielfalt an Darstellern und einen solchen Wetteifer unter den Zuschauern erlebt!
Der Graf von Sainte-Hermine - Dumas, A: Graf von Sainte-Hermine - Le Chevalier de Sainte-Hermine
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