112
In welchem Kapitel die zwei jungen Männer
Abschied voneinander nehmen, damit der eine seinen Dienst bei Murat
wieder antreten und der andere Reynier bitten kann, ihn in Dienst
zu nehmen
An dem Tag nach obigem Abendessen nahmen Manhès
und Graf Leo das Angebot König Josephs an, Wildschweine in Asproni
zu jagen: Denn dies zogen sie dem wenig verlockenden Wild von
Capodimonte vor.
Sie erlegten ein Dutzend Wildschweine, die sie in
einem Karren mitbrachten und deren Fleisch sie an die Soldaten
verteilen ließen.
Saliceti überredete die zwei jungen Männer, eine
Woche in Neapel zu verbringen, damit sie die Sehenswürdigkeiten der
Stadt, auf die er stolz war, besichtigen konnten; er begleitete sie
persönlich auf einige dieser Ausflüge.
Sie besuchten Nisida und die Villa des Lucullus;
sie besuchten Pozzuoli, das vor Neapel die Hauptstadt Kampaniens
gewesen war, den Serapistempel, die Überreste der Brücke des
Caligula, den Lucriner See, der durch das Erdbeben von 1538 zur
Hälfte verschüttet war, und den Averner See, an dessen Ufer Äneas
den goldenen Zweig pflückte, der ihm die Pforten der Unterwelt
öffnen sollte; und zuletzt besuchten sie das Mare Morto oder den
Acheron, in dem statt Flammen heutigentages schlammige Wasser
plätschern, welche die Eigenschaft haben, Austern und Muscheln, die
von Tarent hergebracht werden, zu mästen; über einen bezaubernden
Weg vor einem Hintergrund grüner Bäume und gelber Heide gelangten
sie zum Hafen von Misenum, dem heutigen Miseno, wo die römische
Flotte ankerte, als Plinius der Ältere, der Admiral der Flotte,
sich mit einem Boot von dort aufmachte, um das Phänomen des
Vesuvausbruchs aus der Nähe zu erkunden, und zwischen Stabiae und
Pompeji vom Sand erstickt wurde; dann besuchten sie Baia, wo Cicero
eine Villa besaß, zu deren Besitz er sich des schlechten Rufs
wegen, den der Badeort genoss, nicht zu bekennen wagte und die er
deshalb als seine Villa in Cumae bezeichnete, und Bauli mit seinem
Kirchturm aus Fayence, der in der Sonne funkelt: Bauli, wo Nero
vorgab, sich mit seiner Mutter versöhnt zu haben, und ihr zum
Abschied die Brüste küsste, was, wie Tacitus sagt, der größte
Beweis von Aufmerksamkeit und Achtung war, den ein Sohn seiner
Mutter widerfahren lassen konnte. Hundert Schritte von dort öffnete
sich der Boden der vergoldeten Galeere, die sie zu ihrer Villa in
Baia zurückbrachte. Ohne einen Schrei zu äußern, ohne um Hilfe zu
rufen, schwamm Agrippina zu ihrem Haus in Baia, wo sie von ihren
Sklaven aufgenommen wurde; doch eine Stunde später kam Anicetus,
dem sie als letzte Worte an die Adresse ihres Sohnes die zwei
schrecklichen Worte hinterließ: Feri ventrem! (»Schlage den
Bauch!«). So strafte sie ihre Lenden dafür, einen Elternmörder
getragen zu haben.
Und am anderen Ende des Halbmonds, den der Hafen
von Neapel bildet, besuchten sie Portici, Torre del Greco,
Castellamare mit seinen Orangenhainen, das seinen Namen der Festung
verdankt, die im Meer von Sorrent zerfällt, dann das Kap
Campanella, die Stelle, die der Insel Capri am
nächsten ist, doch Capri konnten sie nicht betreten, denn es war
vor etwa einem Jahr von den Engländern erobert worden.
Trotz der Gefahr, die es bedeutete, die Wälder von
Cava zu durchqueren, um Salerno zu erreichen, konnten die jungen
Männer der Verlockung, Paestum zu besuchen, nicht widerstehen, denn
auch sie wollten ihre Namen den Denkmälern der griechischen Antike
einschreiben, die schon zu Zeiten des Augustus Ruinen waren.
Inmitten der Dornenranken und des wuchernden
Unkrauts, die den Zugang zu diesen Wunderwerken des Altertums
verwehren, hatte René größte Mühe, eine jener Rosen zu finden, die
einst körbeweise nach Neapel geschickt wurden, um dort den Tisch
eines Apicius oder Lucullus zu schmücken.
Eine Schlange, von ihren Schritten aufgeschreckt,
glitt aus den Dornen hervor, entrollte ihre goldenen Windungen auf
den dunklen Steinfliesen eines Tempels und verschwand.
Zweifellos war sie die Schutzgottheit dieses
einsamen Ortes.
Auf der Rückkehr machten die Reisenden in Salerno
halt, um das Grab Papst Gregors VII. zu besuchen, der zuerst den
deutschen Kaiser Heinrich IV. verfolgt hatte und dann von diesem
verfolgt worden war und vor seinem Tod angeordnet hatte, dass auf
seinem Grabmal die Worte stehen sollten: »Ich liebe die
Gerechtigkeit, ich floh die Ungerechtigkeit, und deshalb sterbe ich
im Elend und im Exil.«
Zuletzt hieß es aufbrechen und die schöne Stadt
Neapel und die Gastfreundschaft des Hauses Saliceti verlassen. Leo
und Manhés schworen einander Waffenbruderschaft und ewige
Freundschaft und sagten einander Adieu.
Graf Leo wurde von Saliceti aufgefordert, sich dem
nächsten Detachement anzuschließen, das nach Kalabrien aufbrechen
würde.
René war jedoch nicht gesonnen, solche Maßnahmen zu
treffen, um sein Leben nicht in Gefahr zu bringen, und da man ihm
gesagt hatte, er werde dem Kommando General Reyniers unterstellt
werden, dessen Aufenthalt unbekannt war, da alle Verbindungen
unterbrochen waren, der sich aber vermutlich in Amantea oder in
Cotrone aufhielt, begnügte er sich mit der Antwort, er werde dort
sein, wo sich der General befand, dem er zugeteilt worden
war.
»Sie müssen nur Ihren Namen nennen«, sagte
Saliceti, »und er wird wissen, dass er sich mit Ihnen absprechen
muss, um von Ihrer Mitarbeit zu profitieren.«
Die Herzogin von Lavello wollte ihm die Hand zum
Handkuss reichen, doch er verbeugte sich vor der bezaubernden Frau
und sagte: »Madame, ein solcher Gunstbeweis muss eine Belohnung
sein und kein Ansporn.«
Auf einem ausgezeichneten Pferd, das gesattelt und
gespornt vor Salicetis Tür gewartet hatte und, wie dieser René
anvertraut hatte, ein Geschenk König Josephs war, machte René sich
trotz aller guten Ratschläge Salicetis in seiner Offiziersuniform
und mit seinem Stutzen am Sattel und seinen treuen Pistolen im
Gürtel ganz allein auf den Weg.
Am Abend des ersten Tages wollte er in Salerno
übernachten; sein Pferd, das sich während der größten Tageshitze
zwei Stunden lang ausruhen durfte, konnte zehn Meilen am Tag
zurücklegen, ohne zu ermüden.
Am zweiten Tag erreichte er Capaccio; dort hörte er
sich um und erfuhr, dass die Straßen zum einen schwierig zu
verfolgen seien, weil sie ständig ineinandermündeten, und zum
anderen, weil zahlreiche Banditenhaufen, denen es gelungen war, die
französische Armee von Neapel zu trennen, jede Verbindung zwischen
der Hauptstadt und General Reynier unterbanden; zudem hieß es, der
englische General Stuart habe ein Armeekorps von fünf- oder
sechstausend englischen Soldaten und drei- bis vierhundert
Zwangsverpflichteten als Verbündete der Bourbonen im Golf von Sant’
Eufemia abgesetzt.
René reiste dennoch von Capaceti ab, ohne sich um
die Briganten oder den Zustand der Straßen zu sorgen.
Es war ein langer Weg, denn René wollte bis nach
Lagonegro gelangen, und da er unterwegs auf kein einziges Haus
treffen würde, hielt er es für geraten, in einer Satteltasche ein
Stück Brot und ein gebratenes Hühnchen und in der anderen eine
Flasche Wein zu verstauen.
Er machte sich bei Tagesanbruch um fünf Uhr auf den
Weg, und um elf Uhr erreichte er eine Kreuzung, von der drei Wege
abgingen.
Das war die erste Zwickmühle, die man ihm
vorausgesagt hatte.
René vertraute auf den Glücksstern, den Fouché in
den Wechselfällen seines Schicksals zu erkennen geglaubt
hatte.
Er stieg ab, legte in Reichweite seiner rechten
Hand Stutzen, Pistolen und Weinflasche auf den Boden und in
Reichweite der Linken das Huhn und das Brot, und dann setzte er
sich und begann so friedlich zu schmausen, als befände er sich im
Park von Asproni oder von Capodimonte.
Er hoffte, dass irgendein Bauer des Weges käme, der
so gefällig wäre, ihm den richtigen Weg zu sagen, oder der aus
Geldgier bereit wäre, ihm als Führer zu dienen, bis er die
französischen Truppen erreichte.
Er hatte sich nicht getäuscht: Kaum hatte er sein
Hühnchen in Angriff genommen und seine Flasche zu einem Viertel
geleert, als er den Hufschlag eines Pferdes vernahm und einen
Reiter erblickte, der so weiß bestäubt war wie ein Müller, ein Auge
unter einer Binde verborgen hatte und einen Hut mit breiter Krempe
trug, der ihm das halbe Gesicht verdeckte.
René sprach ihn an.
Als der Müller Renés Stimme hörte, hielt er sein
Pferd an und richtete das unbedeckte Auge auf den
Sprechenden.
»Kamerad«, sagte René, »hast du Durst?« Und er
zeigte ihm die Flasche. »Komm und trinke. Hast du Hunger?« Er
zeigte ihm das Hühnchen. »Komm und iss.«
Der Mann rührte sich nicht von der Stelle.
»Sie kennen mich nicht«, sagte er.
»Aber du«, sagte René, »kennst mich. Du weißt, dass
ich ein französischer Soldat bin. Du wirst mir sagen, welchen der
drei Wege ich nehmen muss, um zur Armee zu gelangen, und dann sind
wir quitt; aber wenn du dir ein paar Louisdors verdienen willst,
umso besser, dann kannst du mir als Führer dienen.«
»Ich bin weder hungrig noch durstig«, erwiderte der
Mann, »aber ich will Ihnen als Führer dienen.«
»Sehr gut.«
Der Bauer blieb auf seinem Pferd sitzen.
René beendete seine Mahlzeit; dann packte er die
Weinflasche, das Brot und die übrig gebliebene Hälfte des Hühnchens
zusammen, steckte sich die Pistolen in den Gürtel, hängte seinen
Stutzen an den Sattel, legte die Reste seiner Mahlzeit für den
nächstbesten Hungrigen an den Wegesrand, sprang auf sein Pferd und
reichte dem Bauern einen Louisdor mit den Worten: »Reiten Sie
voraus, hier ist Ihr Lohn.«
»Danke«, erwiderte der andere, »wenn Sie mit mir
zufrieden sind, werden Sie mich nach getaner Arbeit
entlohnen.«
Der Bauer ritt voraus, René folgte.
Obwohl der Klepper des Bauern jämmerlich aussah,
schlug er einen munteren Trab an, dessen Geschwindigkeit René
zusagte, denn seine Reise würde durch den Führer keine Verzögerung
erleiden.
Ohne Zwischenfälle erreichten sie Lagonegro.
René war aufgefallen, dass sein Führer unterwegs ab
und zu mit Männern, die aus den Wäldern auftauchten und wieder
dorthin verschwanden, einige Worte gewechselt hatte; er nahm an,
dass der Mann aus der Gegend
stammte und dass die Leute, mit denen er sprach, Bauern aus seiner
Bekanntschaft waren.
René hatte guten Appetit; er ließ sich ein
ausgezeichnetes Abendessen kommen und bestellte das gleiche Essen
für seinen Führer; diesen hatte er gebeten, ihn bei Tagesanbruch zu
wecken, denn am nächsten Abend mussten sie Laino oder Rotonda
erreicht haben, und bis dahin war es noch eine lange Reise von zehn
Meilen.
Der Tag verging wie der Vortag; das Pferd des
Müllers schritt munter aus, weder zu schnell noch zu langsam, und
so legten sie zwei Meilen in der Stunde zurück.
Auch an diesem Tag begegnete der Müller immer
wieder an Schluchteingängen, hinter hohen Felsen oder mitten in
Wäldchen Leuten, die er kannte und mit denen er einige Worte
wechselte, bevor sie verschwanden.
Am nächsten Tag nahm Renés Führer nicht die
Hauptstraße, wenn es denn zu jener Zeit in Kalabrien einen Weg gab,
der diese Bezeichnung auch nur annähernd verdiente, sondern ritt
zur Rechten weg, ließ Cosenza links liegen, und zur Schlafenszeit
erreichten sie San Mango.
René erfuhr, dass er nur noch wenige Meilen von der
französischen Armee entfernt war, die sich am Golf von Sant’
Eufemia befand; doch zugleich fiel ihm auf, dass der Wirt seine
Fragen mit einer gewissen Dreistigkeit beantwortete und ihn mit
unverhohlener Missgunst beäugte.
Daraufhin bedachte René den Wirt mit einem Blick,
der ihn aufforderte, sich keine Dummheiten zu erlauben.
Der Wirt reichte René diensteifrig Zimmerschlüssel
und Talglicht, denn Wachskerzen waren in Kalabrien unbekannt.
René stieg zu seinem Zimmer hinauf und stellte
fest, dass der Schlüssel nur zur Zierde da war, denn das Türschloss
bestand aus einem Nagel, um den ein Bindfaden geschlungen
war.
Dennoch betrat er sein Zimmer, wo er sich
angekleidet auf das erbärmliche Lager warf, nachdem er seinen
Stutzen in Reichweite und die Pistolen auf ein Tischchen gelegt
hatte.
Nach etwa einer Stunde war ihm, als hörte er
Schritte im Zimmer nebenan und als machten diese Schritte vor
seiner Zimmertür halt. Darauf gefasst, dass seine Tür geöffnet
wurde, ergriff René eine der Pistolen und richtete sie auf die
Tür.
Zu seinem großen Erstaunen blieb die Tür
geschlossen, nachdem sie zweimal in ihren Angeln gebebt hatte; er
nahm sein Licht in eine Hand, die Pistole in die andere und ging
zur Tür, um sie zu öffnen.
Vor der Tür lag ein Mann; der Mann drehte den Kopf
zur Seite, und René erkannte seinen Führer.
»Um Himmels willen«, sagte der Führer, »bleiben Sie
in Ihrem Zimmer.«
»Warum?«, fragte René.
»Sie kämen keine zehn Schritte weit, bevor man sie
ermordete.«
»Und was tust du hier?«
»Ich bewache Sie«, erwiderte der Führer.
René ging nachdenklich zu seinem Bett zurück, legte
sich hin und schlief ein. Ihm war undeutlich, als hätte er die
Stimme des Mannes schon einmal gehört.