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Fra Diavolo
Kurz vor dem weißen Anxur, wie Vergil es
nennt, und dem staubigen Terracina, wie wir es weniger poetisch,
aber um nichts weniger treffend nennen wollen, bewachte ein
französischer Posten die römische Grenze.
Die Reisenden, die einen leeren Wagen zu Fuß zu
begleiten schienen, denn die Banditen hatten sich auf den
Wagenboden gleiten lassen, wurden bei ihrem Eintreffen sogleich von
Gaffern umringt, und da man sie auf den ersten Blick als Franzosen
erkannte, rekrutierten die Neugierigen sich ausschließlich aus den
Reihen französischer Soldaten.
Das Rätsel war mit dem ersten Blick in das
Wageninnere gelöst.
»Sehr gut«, sagte der befehlshabende Sergeant, »da
haben wir zwei Galgenstricke. Offizier, bringen Sie sie nach
Neapel, da werden die Herren genug Gesellschaft ihres Schlages
vorfinden.«
Die Reisenden fuhren in den Ort und hielten am
Hotel zur Post an, vor dem ein Offizier hin und her spazierte.
Manhès trat auf ihn zu und sagte: »Hauptmann, ich bin Hauptmann
Manhès und Adjutant des Großherzogs von Berg, des Generals
Murat.«
»Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise zu Diensten
sein, lieber Kollege?«, fragte ihn der Offizier.
»Eine halbe Meile von hier entfernt wurden wir von
sechs Briganten überfallen; drei haben wir getötet; wenn Sie die
Leichen begraben lassen wollen, um der Pestgefahr zu begegnen,
finden Sie sie auf der Straße, tot oder so gut wie tot. Wir haben
zwei Gefangene gemacht. Hätten Sie die Freundlichkeit, ihnen eine
Wache zu geben mit der Empfehlung, ihnen bei der ersten Bewegung
das Bajonett in den Bauch zu stoßen, solange wir ein Frühstück
einnehmen, das wir dringend benötigen und zu dem wir Sie gerne
einladen würden, sollten Sie so gütig sein, daran teilzunehmen? Sie
können uns berichten, wie die Dinge hier stehen, und wir können
Ihnen berichten, wie die Dinge dort stehen.«
»Meiner Treu«, sagte der Offizier, »dieses Angebot
ist zu verlockend, als dass ich widerstehen könnte.«
Sogleich befahl er zwei Soldaten, ihr Gewehr zu
ergreifen und sich links und rechts neben dem Wagen zu postieren,
und auch der Wink bezüglich des Bajonetts wurde nicht
vergessen.
»Und jetzt«, sagte der Offizier, »erweisen Sie mir
die Ehre, mich Ihrem Reisegefährten vorzustellen, damit Sie ihm
meinen Namen nennen können, mag er noch so unbekannt sein; ich bin
Hauptmann Santis.«
Beide betraten die Küche der Herberge, wo sie Leo
vorfanden, der damit beschäftigt war, sich unter dem Wasserhahn
Gesicht und Hände zu waschen. »Mein Lieber«, sagte Manhès, »ich
stelle Ihnen Hauptmann Santis vor, der unsere Banditen von zwei
Schildwachen bewachen lassen wird. Hauptmann Santis, ich stelle
Ihnen Graf Leo vor.«
»Ein schöner Name, Monsieur«, sagte Hauptmann
Santis.
»Und wohlverdient«, sagte Manhès, »das kann ich
Ihnen versichern; Sie hätten ihn vorhin erleben müssen: Zwei
Schuss, zwei Tote; und der dritte war ihm nicht einmal die Mühe
wert, zu zielen; er hat sich in den Kopf gesetzt, ihn lebend zu
fassen, und mit dieser kleinen weißen Hand, die Sie sehen, hat er
ihn am Hals gepackt und beinahe erwürgt; daraufhin bat der Brigant
um Gnade und hat alles gestanden.«
Der Wirt trat näher, um zuzuhören; Manhès ergriff
die Zipfelmütze des Wirts an ihrem Zipfel, wirbelte sie um den
Finger wie ein spielendes Kind, und als der Wirt seine Mütze zu
erhaschen trachtete, sagte er: »Mein guter Mann, ich darf Sie
darauf aufmerksam machen, dass Sie versäumt haben, uns zu grüßen.
Jetzt haben Sie es getan, und Sie können Ihre Baumwollmütze
zurückhaben; bereiten Sie uns jetzt das denkbar beste Frühstück zu,
und während wir darauf warten, geben Sie uns zwei oder drei
Flaschen des berühmten Lacrimae Christi, den kennenzulernen es mich
schon so lange gelüstet.«
Der Herbergswirt ging, um seinen Kellermeister in
den Keller zu schicken, seine Küchenjungen die Öfen heizen zu
lassen und seine Zimmermädchen den Tisch decken zu lassen.
Und während er sich kopfschüttelnd entfernte, hob
er die Arme und murmelte: »Questi Francesi! Questi
Francesi!«
Manhès brach in Gelächter aus. »Wir sind«, sagte
er, »und bleiben ein ewiges Rätsel für diese guten Leute, die nicht
begreifen können, dass wir uns wie die Löwen schlagen und wie die
Kinder spielen können; sie können nicht begreifen, was unsere
Stärke ausmacht. Auf, Kellermeister, bring uns zu unserem Zimmer
und lass uns den Lacrymae Christi deines Wirts verkosten; und ich
gebe dir mein Wort, dass ich dich zwingen werde, eine Flasche zu
leeren, ohne abzusetzen, wenn er nichts taugt.«
Der Kellermeister stieg die Treppe hinauf, und die
beiden Offiziere und Graf Leo folgten ihm.
Wie der Zufall es wollte, war der Wein gut.
»Mein Junge«, sagte Manhès, nachdem er den Wein
gekostet hatte, »du wirst mir nicht den Verdruss bereiten, diesen
Wein, dem ich ein anderes Schicksal zu bereiten gedenke, in deinen
Magen zu versenken, aber du wirst mir die Freude machen, diese
Münze in deine Tasche zu stecken.«
Und er warf dem Kellermeister ein Geldstück im Wert
von drei Francs zu, das dieser in seiner Schürze auffing.
»Und jetzt«, sagte er zu dem Hauptmann, »erzähl
uns, was hier vor sich geht.«
»Ich glaube, dass das, was dort vor sich geht,
interessanter ist«, erwiderte dieser.
»Die Sache ist die«, sagte Manhès, »dass die
Kampagne langsam angegangen wurde. Das Ganze hat einen Monat
gedauert; die Kampagne begann am 8. Oktober, die Kapitulation
Magdeburgs erfolgte am 8. November; in dieser Zeit fielen
dreißigtausend Mann, tausend am Tag; das ist gute Arbeit, nicht
wahr? Hunderttausend wurden gefangen genommen; von den
fünfunddreißigtausend, die blieben, hat kein Einziger die Oder
überquert; die Sachsen flüchteten nach Sachsen, die Preußen
verstreuten ihre Waffen überall. Die Preußen hatten eine Armee von
hundertsechzigtausend Mann, Napoleon hat sie weggepustet, und sie
hat sich in Luft aufgelöst und hat auf dem Schlachtfeld, auf dem
wir uns mit ihr gemessen haben, dreihundert Kanonen und genug
Fahnen zurückgelassen, um den Invalidendom damit zu tapezieren. Der
König von Preußen ist noch immer König von Preußen, nur hat er nun
weder ein Königreich noch eine Armee.«
»Nun«, sagte der Offizier, »obwohl die Bourbonen
sich nach Sizilien zurückgezogen haben, sind sie noch immer reicher
als der König von Preußen, und noch besitzen sie mit Caserta Gaeta,
das wir bombardieren und das sie halten, das sich aber früher oder
später ergeben muss, und in Kalabrien haben sie eine Armee; dieses
Heer besteht aus Zwangsausgehobenen, was nicht hindern wird, dass
diese Söldner uns gemütlich einen nach dem anderen erwürgen. Ha!
Der große Krieg! Der große Krieg! Nur diesen Krieg gibt es, mein
lieber Kollege«, fuhr der Offizier fort, »denn der Krieg, den wir
führen, ist nichts anderes als ein abscheuliches Gemetzel, und ich
bedaure tapfere Offiziere wie General Verdier und General Reynier,
dass sie gezwungen sind, diese Schlächterei zu betreiben.«
Der Wirt unterbrach den Hauptmann in seinen Klagen
mit dem Frühstück.
»Die Soldaten dürfen im Dienst nicht trinken«,
sagte Graf Leo, »doch die Gefangenen müssen allmählich
verschmachten; bringen Sie ihnen einen Fiasko mit Wein und lassen
Sie sie trinken, ohne ihre Hände zu entfesseln. Die Soldaten aber
mögen unbesorgt sein! Sobald sie abgelöst werden, sollen sie ihre
Belohnung erhalten. Und sagen Sie dem unverletzten Gefangenen, dass
ihm der Wein von dem Reisenden spendiert wird, der sein Leben
verschont hat; geben Sie auch unserem Postillion und unserer
Eskorte aus den Pontinischen Sümpfen zu essen und zu trinken,
selbst wenn sie für meinen Geschmack ein wenig zu eilfertig dem
Befehl gehorcht haben, sich mit dem Gesicht nach unten zu Boden zu
werfen. Dann lassen Sie anspannen, und geben Sie uns zwei
verlässliche Postpferde als Eskorte mit.«
Als das Frühstück beendet war, tranken die drei
Anwesenden auf Frankreich, reichten einander die Hand und gingen
hinunter.
Leo dankte den zwei Schildwachen, sagte ihnen, dass
ein üppiges Frühstück ihrer im Wirtshaus harre, und er und Manhès
bestiegen ihre Pferde und machten sich zusammen mit einem neuen
Postillion, der versprach, alles Menschenmögliche zu tun, im Galopp
auf den Weg nach Capua, wo sie zum ersten Mal die Pferde wechseln
sollten.
An Gaeta kamen die Reisenden in ebendem Augenblick
vorbei, als man den Leichnam General Vallongues zurückbrachte, dem
eine Kanonenkugel den Kopf abgerissen hatte; sechzig
Artilleriegeschütze, Mörser und Vierundzwanzigerkanonen beschossen
die Zitadelle.
Der Postillion hatte versprochen, die Pferde
anzutreiben, und er hielt sein Wort; um acht Uhr morgens war Capua
erreicht, und um Viertel nach elf Uhr betrat man Neapel.
Die Stadt der Sonne, die so lärmend und
überschwänglich ist, dass man bereits aus einer Meile Entfernung
ihre Geräusche vernimmt, wirkte an jenem Tag noch närrischer als
sonst; alle Fenster waren mit den neuen neapolitanischen Farben
geschmückt; auf den Straßen drängten sich die Leute, die nicht
allein aus der Stadt stammten, sondern auch aus den benachbarten
Dörfern gekommen waren.
Sobald der Wagen der zwei Reisenden in diesen
Malstrom geraten war, blieb ihm und den beiden Reitern, die ihm
folgten, nichts anderes übrig, als dem Strom zu folgen. Und der
führte sie zur Piazza del Mercato, wo ein riesengroßer Galgen von
achtzehn Fuß Höhe errichtet war. Ursache des Volksauflaufs war eine
bevorstehende Hinrichtung, und der Name Fra Diavolo, der von allen
Seiten erscholl, erhellte die zwei Reisenden
über die Person des armen Sünders, dessen Hinrichtung vorbereitet
wurde und dessen Bedeutung die Zuschauermenge bezeigte, die sich
eingefunden hatte, um seinem Sterben beizuwohnen.
Während der Wagen mit den Gefangenen und ihrer
Eskorte die Piazza del Mercato von der Piazza del Carmine aus
erreichte, kam der Karren mit dem zum Tode Verurteilten über die
Gasse mit dem Namen »de Sospiri del Abisso«, der sich trefflich als
»Seufzer aus dem Abgrund« wiedergeben lässt.
Dieses Gässchen heißt so, weil der Verurteilte, der
es überquert, zum ersten Mal den Galgen oder das Schafott erblickt,
die Werkzeuge seiner Hinrichtung.
Und nur in den seltensten Fällen stößt der
Verurteilte bei diesem Anblick keinen Seufzer aus.
Beim Anblick des Fra Diavolo, des Banditen, den man
für unfassbar gehalten hatte und der wider alle Erwartungen
dingfest gemacht worden war, ertönten von allen Seiten des Platzes
laute Unmutsbekundungen, und sogar die gefesselten Briganten
erhoben sich in dem Kabriolett.
Im selben Augenblick kamen Manhès und Graf Leo
herbei, doch mit der blutrünstigen Munterkeit, die jedem Volk
eigentümlich ist, ganz besonders aber dem neapolitanischen Volk,
sagte der Postillion: »Lassen Sie die armen Teufel ruhig zusehen;
was sie zu sehen bekommen, wird ihnen eine nützliche Lehre
sein.«
Und er machte es sich auf seinem Pferd so bequem
wie möglich, um das Schauspiel in aller Behaglichkeit zu
genießen.
Wir wollen sehen, ob derjenige, der ganz Neapel so
aus dem Häuschen brachte, seinen Ruf auch verdient hatte.