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Charles de Sainte-Hermine (2)
Die Gefangenen gestanden, sich zusammengerottet zu
haben mit dem Ziel, sich den Banden Monsieur de Teyssonnets
anzuschließen, der in den Bergen der Auvergne eine Armee
aufstellte; sie leugneten jedoch beharrlich, jemals das Geringste
mit den Wegelagerern namens d’Assas, Adler, Montbar und Morgan zu
tun gehabt zu haben. Dies konnten sie umso unbesorgter tun, als die
Überfälle auf die Postkutschen stets von Maskierten verübt worden
waren; nur in einem einzigen Fall war das Gesicht eines ihrer
Anführer zu sehen gewesen, und das war der Fall meines
Bruders.
Während des Überfalls auf eine Eilpost zwischen
Lyon und Vienne hatte ein zehn- oder zwölfjähriger Knabe, der sich
im Wagen des Aufsehers befand, dessen Pistole ergriffen und auf die
Compagnons de Jéhu geschossen. Der Aufseher hatte aus Vorsicht
keine Kugeln geladen gehabt, doch die Mutter des Knaben, die das
nicht wissen konnte, war vor Angst um ihr Leben und das ihres
Kindes ohnmächtig geworden. Mein Bruder hatte sich sogleich um sie
gekümmert, hatte ihr Riechsalz gegeben und versucht, sie zu
beruhigen. Mit einer ihrer Bewegungen hatte sie Morgan
versehentlich die Maske abgestreift und das Gesicht des Grafen von
Sainte-Hermine erblickt.
Doch die Sympathie, die den Angeklagten
entgegengebracht wurde, war so groß, dass jedes ihrer Alibis durch
Briefe und Zeugenaussagen bestätigt wurde, und auch die Dame, die
das Gesicht des Banditen Morgan gesehen hatte, sagte aus, sie
erkenne ihn in keinem der vier Angeklagten wieder.
In der Tat hatte nur der Staatsschatz unter ihren
Überfällen zu leiden gehabt, was niemanden groß interessierte, da
niemand zu sagen gewusst hätte, wem dieser gehörte.
Sie standen im Begriff, freigesprochen zu werden,
als der Vorsitzende des Gerichts sich unvermutet und überraschend
an die Dame wandte, die ohnmächtig geworden war, und sie fragte:
›Madame, wären Sie so freundlich, mir zu sagen, welcher dieser
Herren so ritterlich war, Ihnen die Hilfe zukommen zu lassen, die
Ihr Zustand verlangte?‹
Überrumpelt von dieser unerwarteten Höflichkeit, in
dem Glauben, während ihrer Abwesenheit seien Geständnisse erfolgt,
und in der Überzeugung, durch ihre Worte nun dem Angeklagten nicht
mehr zu schaden, sondern ihm vielleicht sogar zu nützen, wies die
Dame auf meinen Bruder und sagte: ›Herr Vorsitzender, das war der
Graf von Sainte-Hermine.‹
Da sie alle das gleiche Alibi hatten, fielen alle
vier in diesem Augenblick dem Henker anheim.
›Zum Henker, Hauptmann‹, sagte Jahiat und
betonte das Wort ›Hauptmann‹, ›das wird dich lehren, ritterlich zu
sein.‹
Ein Freudenschrei ertönte mitten im Gerichtshof:
der Schrei der Diana de Fargas, die ihren Triumph auskostete.
›Madame‹, sagte mein Bruder mit einer Verbeugung zu
der Dame, die ihn wiedererkannt hatte, ›Sie haben soeben vier Köpfe
auf einmal rollen lassen.‹
Als sie erkannte, was sie angerichtet hatte, warf
die Dame sich auf die Knie und bat um Verzeihung.
Zu spät!
Ich war im Gerichtshof und hätte fast das
Bewusstsein verloren. Meine Liebe zu meinem Bruder war der
Sohnesliebe nahe.
Noch am selben Tag wurden die Gefangenen, die ihre
ganze Fröhlichkeit wiedererlangt hatten und nichts mehr abstritten,
zum Tode verurteilt.
Drei der Angeklagten weigerten sich, gegen das
Urteil Berufung einzulegen, während Jahiat, der vierte, hartnäckig
darauf beharrte und sagte, er habe einen Plan. Um von seinen
Gefährten nicht verdächtigt zu werden, aus Angst vor dem Sterben so
zu handeln, erklärte er ihnen, er habe zarte Bande zu der Tochter
des Gefängniswärters geknüpft und hoffe, während der Frist von
sechs oder acht Wochen, die ihnen die Berufung verschaffen würde,
durch sie eine Fluchtmöglichkeit zu finden.
Die drei anderen machten keine Schwierigkeiten mehr
und unterzeichneten ihre Berufungsgesuche.
Bei dem Gedanken an eine eventuelle Flucht
klammerte sich jede dieser jungen Seelen wieder an das Leben. Nicht
dass sie den Tod gefürchtet hätten, doch ein Tod auf dem Schafott
bot keinen Reiz und keinen Ruhm. Also ließen sie Jahiat zum Nutzen
und Frommen ihres Zirkels seinem Verführungsvorhaben nachgehen und
bemühten sich, so fröhlich wie möglich zu leben.
Die Berufung, die nur ein Kassationsgesuch war,
ließ ihnen keinerlei
Hoffnung: Der Erste Konsul hatte sich unmissverständlich geäußert;
er wollte all diese Banden um jeden Preis vernichten und
ausrotten.
Zur großen Verzweiflung der ganzen Stadt waren
unsere Helden, die jedermanns Sympathie hatten, dem Tod geweiht.
Ich ließ nichts unversucht, um zu meinem Bruder zu gelangen, doch
vergebens.
Die Sympathie, die den Angeklagten entgegengebracht
wurde, konnte wahrhaftig nicht verwundern: Sie waren jung,
strahlend schön, bewundernswert elegant, selbstsicher, ohne
arrogant zu sein, liebenswürdig zum Publikum und höflich zu ihren
Richtern, wenn auch bisweilen spöttisch. Und sie entstammten den
vornehmsten Familien der Gegend.
Diese vier Angeklagten, deren Ältester keine
dreißig Jahre alt war, die sich gegen die Guillotine wehrten, aber
nicht gegen das Füsilieren, die den Tod verlangten, die zugaben,
ihn verdient zu haben, allerdings den Tod eines Soldaten, waren
bewundernswert in ihrer Jugend, ihrem Mut und ihrer
Großherzigkeit.
Wie man sich denken kann, wurde die Berufung
abgelehnt.
Jahiat war es gelungen, Charlotte, die Tochter des
Gefängniswärters, in ihn verliebt zu machen, doch der Einfluss des
schönen Kindes reichte nicht aus, um den Gefangenen einen Weg zur
Flucht zu verschaffen. Nicht dass der Oberwärter, ein wackerer Mann
namens Comtois, im Herzen Royalist, doch vor allem ein redlicher
Mann, die Angeklagten nicht zutiefst bedauert hätte. Einen Arm
hätte er geopfert, um Ungemach von ihnen abzuhalten, doch er war
nicht bereit, sich mit sechzigtausend Francs bestechen zu lassen,
um ihnen die Flucht zu ermöglichen.
Drei Gewehrschüsse verrieten den Verurteilten, dass
ihr Urteil nicht aufgehoben worden war.
Am Abend desselben Tages brachte Charlotte jedem
der Gefangenen ein Paar geladene Pistolen und einen Dolch in ihr
Verlies; mehr konnte das arme Kind nicht für sie tun.
Die drei Gewehrschüsse, die den Verurteilten ihr
Schicksal mitteilten, hatten den Polizeikommissar erschreckt, der
alle Bewaffneten zusammenzog, deren er habhaft werden konnte.
Um sechs Uhr morgens wurde auf der Place du Bastion
das Schafott errichtet; sechzig Kavalleristen hatten vor dem Gitter
des Gefängnishofs Aufstellung genommen. Hinter den Kavalleristen
drängten sich an die tausend Zuschauer.
Die Hinrichtung war für sieben Uhr vorgesehen. Um
sechs Uhr betraten die Gefängniswärter das Verlies der Gefangenen,
die sie am Abend
unbewaffnet und in Ketten zurückgelassen hatten. Die Gefangenen
waren ohne Fesseln und bis zu den Zähnen bewaffnet. Zudem hatten
sie sich wie Athleten für den Kampf gerüstet: den Oberkörper
entblößt, die Hosenträger auf der Brust gekreuzt, die breiten
Gürtel um die Taille mit Waffen gespickt.
In dem Augenblick, in dem am wenigsten damit zu
rechnen war, wurde Kampfgetümmel laut. Dann sah man die vier
Gefangenen aus dem Kerker stürmen.
Die Menge schrie auf wie ein Mann; jeder begriff,
dass etwas Schreckliches bevorstand, als man die vier erblickte,
Gladiatoren gleich, die in die Arena treten.
Es gelang mir, in die erste Reihe
vorzudringen.
Als sie den Hof erreichten, sahen sie, dass das
riesige Eisengitter geschlossen war und hinter dem Gitter auf der
Straße die reglose Reihe der berittenen Gendarmen mit den
Karabinern auf den Knien ein unüberwindliches Hindernis bildete.
Sie blieben stehen, traten zusammen und schienen sich kurz zu
beraten.
Dann trat Valensolles, der Älteste der vier, an das
Gitter und verneigte sich mit einem anmutigen Lächeln voller
Noblesse vor den Kavalleristen: ›Wohlan, denn, meine Herren.‹ Dann
drehte er sich zu seinen Gefährten um: ›Adieu, meine Freunde‹,
sagte er. Und er schoss sich in die Schläfe. Sein Leichnam drehte
sich dreimal um sich selbst und fiel mit dem Gesicht zu
Boden.
Daraufhin löste sich Jahiat aus der Gruppe, trat an
das Gitter, zog seine zwei Pistolen und richtete sie auf die
Gendarmen. Er drückte nicht ab, doch mehrere Gendarmen, die sich
bedroht wähnten, senkten ihre Karabiner und feuerten. Zwei Kugeln
durchschlugen Jahiats Körper.
›Danke, meine Herren‹, sagte er. ›Ich danke Ihnen,
dass ich als Soldat sterben darf.‹ Und er fiel auf den toten
Valensolles.
Unterdessen hatte Ribier offenbar überlegt, auf
welche Weise er sterben wollte. Nun schien er sich entschieden zu
haben.
Eine Säule trug das Gewölbe; Ribier ging auf die
Säule zu, zog einen Dolch aus seinem Gürtel, drückte die
Dolchspitze an seine linke Brust und den Griff an die Säule,
umfasste die Säule mit beiden Armen, verneigte sich zu einem
letzten Gruß vor den Zuschauern und danach vor seinen Freunden und
presste seinen Körper dann eng an die Säule, bis die ganze Klinge
des Dolchs in seiner Brust verschwunden war. Einen Augenblick stand
er noch aufrecht, dann überzog Totenblässe sein Antlitz, und
seine Arme fielen herab; seine Knie gaben nach, und er sank tot am
Fuß der Säule zu Boden.
Die Menge war vor Entsetzen stumm und wie
erstarrt.
Die Anwesenden erfasste schier Bewunderung: Sie
begriffen, dass diese heldenhaften Banditen sterben wollten, doch
einen selbst gewählten Tod, wie antike Gladiatoren, in Würde, nicht
schmachvoll.
Mein Bruder stand als Letzter auf den Stufen der
Freitreppe; erst in diesem Augenblick gewahrte er mich unter den
Zuschauern. Er sah mich an und legte einen Finger vor den Mund. Ich
begriff, dass er mir Schweigen gebot. Ich nickte, doch ich konnte
mir die Tränen nicht verbeißen. Er machte ein Zeichen, dass er
sprechen wolle. Alle verstummten.
Gott allein weiß, mit welchem Schmerz ich auf seine
Worte wartete.
Wer einem solchen Schauspiel beiwohnt, ist auf
Worte ebenso begierig wie auf Taten, vor allem wenn Erstere
Letztere erklären. Ohnehin konnte die Menge sich nicht beklagen:
Man hatte ihr vier Köpfe versprochen, die auf die gleiche eintönige
Weise fallen sollten. Stattdessen wurden ihr vier unterschiedliche
Todesarten geboten, vier geradezu pittoreske, dramatische,
überraschende Todeskämpfe – denn niemand zweifelte daran, dass der
Anführer sich einen ebenso originellen Tod ausdenken würde wie
seine Gefährten.
Charles hielt weder Pistole noch Dolch in der Hand.
Beides steckte in seinem Gürtel.
Er umschritt Valensolles’ Leichnam und stellte sich
zwischen Jahiat und Ribier. Von dort aus verbeugte er sich lächelnd
vor den Zuschauern wie ein Artist von seinem Publikum.
Die Menge brach in Applaus aus.
So schaulustig die Menge war, wage ich dennoch zu
behaupten, dass unter ihr kein Einziger weilte, der nicht einen
Teil des eigenen Lebens gegeben hätte, um das Leben des letzten
Compagnon de Jéhu zu retten.
›Meine Herren‹, sagte Charles, ›Sie sind gekommen,
um uns sterben zu sehen; drei von uns sind bereits tot. Nun bin ich
an der Reihe. Gerne will ich Ihre Neugier befriedigen, doch ich
möchte Ihnen einen Tauschhandel vorschlagen.‹<
›Sprechen Sie! Sprechen Sie!‹, wurde von allen
Seiten gerufen. ›Alles, was Sie verlangen, soll Ihnen gewährt
werden!‹
›Bis auf Ihr Leben!‹, rief eine Frauenstimme,
dieselbe, die bei der Urteilsverkündung einen Freudenschrei
ausgestoßen hatte.
›Bis auf mein Leben, selbstverständlich‹,
wiederholte mein Bruder. ›Mein
Freund Valensolles hat sich erschossen, mein Freund Jahiat wurde
erschossen, mein Freund Ribier hat sich erdolcht, und mich würden
Sie gerne guillotiniert sehen. Das verstehe ich.‹
Angesichts der Kaltblütigkeit und Gelassenheit, mit
der er diese sarkastischen Worte sagte, ging ein Beben durch die
Menge.
›Nun‹, sagte Charles, ›gutherzig, wie ich bin, habe
ich nichts dagegen, es Ihnen mit dem Sterben ebenso recht zu machen
wie mir selbst. Ich bin bereit, mir den Kopf abschneiden zu lassen,
aber ich will freiwillig zum Schafott gehen, wie zu einem Essen
oder zu einem Ball, und ich bestehe darauf, dass mich niemand
anrührt. Wer mir näher kommt‹ – und er deutete auf seine zwei
Pistolen – ›auf den schieße ich. Abgesehen von Monsieur‹, sagte
Charles und wies auf den Henker, ›aber das geht nur uns beide an
und erfordert auf beiden Seiten nichts als gute Umgangsformen.
‹
Das schien der Menge zuzusagen, denn von überall
ertönten zustimmende Rufe.
›Hören Sie das?‹, sagte Charles zu dem
Gendarmerieoffizier. ›Zeigen Sie sich entgegenkommend, Hauptmann,
und es wird keine Schwierigkeiten geben.‹<
Der Gendarmerieoffizier war nur zu bereit,
Entgegenkommen zu zeigen. ›Wenn ich Ihnen Hände und Füße nicht
fesseln lasse‹, sagte er, ›versprechen Sie dann, nicht zu
entfliehen?‹
›Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort‹, sagte
Charles.
›Wohlan!‹, sagte der Gendarmerieoffizier, ›dann
treten Sie beiseite, und lassen Sie uns die Leichname Ihrer
Gefährten mitnehmen.‹
›Das ist nur recht und billig‹, sagte Charles und
dann, an die Menge gewendet: ›Sie sehen, nicht ich bin schuld an
der Verzögerung, sondern diese Herren sind es.‹ Und er wies auf den
Henker und seine zwei Gehilfen, die die Toten in einen Karren
luden.
Ribier war noch nicht tot: Er öffnete die Augen.
Sein Blick schien jemanden zu suchen. Charles dachte, er suche ihn.
Er ergriff seine Hand. ›Hier bin ich, lieber Freund‹, sagte er,
›sei unbesorgt: Ich bin dabei!‹ Ribier schloss die Augen,
seine Lippen bewegten sich, doch kein Ton drang aus seinem Mund. Am
Rand seiner Wunde kräuselte sich rötlicher Schaum.
›Monsieur de Sainte-Hermine‹, fragte der Offizier,
als die Toten und der Halbtote weggeschafft waren, ›sind Sie
bereit?‹
›Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Monsieur‹, erwiderte
Charles und verneigte sich mit ausgesuchter Höflichkeit.
›Dann kommen Sie.‹
Charles wollte sich unter die Soldaten
einreihen.
›Wäre es Ihnen lieber, Monsieur‹, fragte der
Offizier, ›den Weg im Wagen zurückzulegen?‹
›Zu Fuß, Monsieur, unbedingt zu Fuß; ich lege Wert
darauf, dass man sieht, dass ich mich aus einer Grille heraus
guillotinieren lasse. Führe ich im Wagen, könnte man denken, die
Furcht wäre mir in die Beine gefahren.‹<
Wie ich vielleicht schon sagte, war die Guillotine
auf der Place du Bastion errichtet worden; um dorthin zu gelangen,
musste man zuerst die Place des Lices überqueren, die so heißt,
weil in früheren Tagen dort Reiterspiele abgehalten wurden, und
dann an der Mauer des Gartens des Palais Monbazon
entlanggehen.
Der Karren führte den Zug an, gefolgt von einem
Dutzend Dragoner. Danach kam der Verurteilte, der hin und wieder zu
mir blickte. In einem Abstand von etwa zehn Schritten folgten ihm
die Gendarmen unter Leitung ihres Hauptmanns.
Am Ende der Gartenmauer wendete der Zug sich nach
links. Durch die Öffnung zwischen dem Garten und der Markthalle
erblickte mein Bruder mit einem Mal das Schafott.
Bei diesem Anblick wurden mir die Knie weich.
›Pah!‹, sagte Charles. ›Das ist die erste
Guillotine, die ich sehe; ich wusste nicht, dass sie ein so
hässliches Ungetüm ist.‹
Und mit einer blitzschnellen Bewegung riss er
seinen Dolch aus dem Gürtel und stieß ihn sich bis zum Heft in die
Brust.
Der Gendarmeriehauptmann gab seinem Pferd die
Sporen und streckte den Arm aus, doch mein Bruder zog eine seiner
doppelläufigen Pistolen aus dem Gürtel und zielte auf ihn. ›Halt!‹,
rief er, ›es war abgemacht, dass niemand mich berührt. Ich sterbe
allein, oder wir sterben zu dritt – Sie haben die Wahl.‹
Der Hauptmann hielt inne und ließ sein Pferd einen
Schritt zurück tun.
›Gehen wir weiter‹, sagte mein Bruder und machte
sich tatsächlich wieder auf den Weg.
Mit Augen und Ohren hing ich an dem geliebten Opfer
und ließ mir kein Wort, keine Geste entgehen; ich erinnerte mich an
das, was er Cadoudal geschrieben hatte, als er mich nicht unter ihm
dienen lassen wollte, da er mich zu seinem Nachfolger und Rächer
bestimmt hatte. In meinem Herzen gelobte ich, alles zu tun, was er
von mir verlangte.
Unterdessen ging er weiter; das Blut rann aus
seiner Wunde.
Als er das Schafott erreichte, zog Charles den
Dolch aus seiner Brust und stieß ihn ein zweites Mal hinein. Er
stand noch immer. ›Wahrhaftig‹, rief er zornentbrannt,›man sollte
meinen, meine Seele wäre an meinen Körper gefesselt!‹
Die Gehilfen des Henkers hoben Valensolles, Jahiat
und Ribier von dem Karren.
Valensolles und Jahiat waren tot, und ihre Köpfe
fielen unter der Guillotine, ohne dass ein Tropfen Blut vergossen
wurde.
Ribier ließ einen Klagelaut ertönen: Er lebte noch.
Als das Fallbeil seinen Kopf abtrennte, floss das Blut in Strömen,
und ein Schauer lief durch die Menge.
Nun war mein armer Bruder an der Reihe; er hatte
mich zuletzt fast ununterbrochen angesehen.
Die Gehilfen wollten ihm auf das Schafott
helfen.
›O nein!‹, sagte er. ›Rührt mich nicht an. So war
es ausgemacht.‹ Und er stieg die sechs Stufen hinauf, ohne zu
straucheln.
Oben angekommen, riss er den Dolch aus seiner Brust
und versetzte sich einen dritten Stich. Dann erklang ein schauriges
Lachen aus seinem Mund, und aus den drei Wunden spritzte das
Blut.
›Meiner Treu‹, sagte er zu dem Henker, ›mir reicht
es jetzt, sieh du, wie du zurechtkommst‹, und mir rief er zu:
›Wirst du dich erinnern, Hector?‹
›Ja, Bruder‹, erwiderte ich.
Und er legte sich freiwillig auf das Brett vor dem
Fallbeil.
›So‹, sagte er zu dem Henker, ›ist es so
recht?‹
Die einzige Antwort war das Herabsausen des
Fallbeils, doch mittels der unbezähmbaren Lebenskraft, die ihm
nicht erlaubt hatte, von eigener Hand zu sterben, fiel sein Kopf
nicht in den Korb wie die der anderen, sondern sprang darüber
hinweg, rollte das ganze Schafott entlang und fiel dann zu
Boden.
Ich zwängte mich durch die Reihe der Soldaten, die
als Barriere vor der Menge standen und sie von dem Schafott
fernhielten, stürzte mich auf den geliebten Kopf, bevor man mich
aufhalten konnte, ergriff ihn mit beiden Händen und küsste ihn.
Seine Augen öffneten sich für eine Sekunde, seine Lippen bebten
unter den meinen.
Oh, ich schwöre es bei Gott, er hatte mich
erkannt.
›Ja, ja, ja!‹, sagte ich zu ihm, ›sei unbesorgt,
ich werde dir gehorchen.‹<
Die Soldaten wollten mich zuerst fortdrängen, doch
einzelne Stimmen riefen: ›Es ist sein Bruder!‹, und man ließ mich
in Ruhe.«