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Das Begräbnis des Vicomte de
Sainte-Hermine
Da wir nun wissen, wie es zu der Plantage des
Vicomte de Sainte-Hermine im Land des Betels kam, können wir den
Faden unserer Erzählung wieder aufnehmen.
Wir müssen unseren Lesern nicht eigens vor Augen
führen, welche Wirkung der Anblick dieser patriarchalischen
Familie, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Sitten und
Gebräuche der Araber aus biblischen Zeiten pflegte, auf die zwei
Schwestern, Sir Asplay und René ausübte.
Abraham ließ sich nicht altehrwürdiger denken, als
Remi es war, Rebekka konnte kaum schöner gewesen sein als Adda, und
David und Jonathan waren nicht stolzer vorstellbar, als es Bernard
und Jules waren, indes Samson, der einen Löwen mit den Händen
zerriss, indem er seinen Rachen aufriss, nicht tapferer und mutiger
gewesen sein konnte als Justin.
So zogen sich Hélène und Jane in ihr Zimmer und die
zwei jungen Männer in ihre Räume zurück, während sie voll des
Staunens über alles waren, was sie zu sehen bekommen hatten, und
sich vor der bescheidenen Größe ihrer Gastgeber innerlich
verneigten. Am nächsten Tag kam Adda, um zu erfahren, wie sie die
Nacht verbracht hatten, und um zu fragen, ob ihr Vater seine jungen
Herrinnen aufsuchen dürfe; nach erteilter Erlaubnis stieg der Greis
mit langsamem, gewichtigem Schritt die Treppe hinauf und trat mit
einem Büchlein in der Hand ein, um seine Abrechnung
vorzulegen.
»Meine jungen Damen«, sagte er, »wenn ein Gläubiger
und ein Schuldner sich nach vierundzwanzig oder fünfundzwanzig
Jahren wiedersehen, dann muss der Schuldner als Allererstes seine
Schulden benennen und sie bezahlen.«
Die jungen Mädchen sahen einander verwundert
an.
»Davon hat unser Vater nie ein Wort geäußert«,
sagte Hélène. »Wenn er irgendetwas gedacht haben sollte, dann eher,
dass er Ihr Schuldner sei und nicht Sie der seinige; für diesen
Fall hat er uns lediglich geraten, das Anwesen zu verkaufen und den
Erlös mit Ihnen zu teilen.«
Remi brach in Gelächter aus. »Solche Bedingungen
kann ich nicht annehmen, meine Damen, denn damit würde ich meinem
ehrenwerten Herrn die bescheidenen Dienste, die ich geleistet habe,
allzu teuer verkaufen. Nein, Mademoiselle, wenn es Ihnen nicht zu
beschwerlich fällt, werden Sie mit mir kommen und sich mit eigenen
Augen von dem Zustand Ihres Vermögens überzeugen. Ihre Schwester
wird Sie selbstverständlich begleiten, und wenn die beiden Herren
sich anschließen sollten, wäre es mir ein Vergnügen, in Gegenwart
so vieler Zeugen wie möglich Rechenschaft vor Ihnen
abzulegen.«
Die Schwestern wechselten einen Blick und gelangten
zu der Ansicht, dass sie die Sache lieber unter sich abmachen
wollten. Sie wollten den treuen Diener fürstlich entlohnen und
befürchteten, ein Mann, der als Verlobter kein Fremder mehr ist,
könnte Einwendungen gegen die Freigebigkeit erheben, die sie üben
wollten.
»Wir kommen allein mit Ihnen, mein ehrwürdiger
Freund«, sagte Hélène, »wenn Sie vorausgehen und uns den Weg
zeigen.«
Die Greis ging einige Schritte vor ihnen bis zu
einer kleinen Tür; er schloss sie auf und bedeutete den Schwestern
einzutreten. Die Kammer war als vielleicht einziger Raum des ganzen
Hauses aus Stein gemauert; die Fenster waren vergittert, und die
Kammer enthielt nichts als zwei kleine Eisentonnen von einem Fuß
und von drei Fuß Höhe; beide waren mit Eisenketten in ihren
Wandnischen gesichert und ruhten auf Eisenträgern, die in die Wand
eingemauert und mit Eisenringen versehen waren.
Der Greis holte einen Schlüssel hervor und sperrte
ein Vorhängeschloss auf, um den Deckel der größeren Tonne öffnen zu
können.
Er hob den Deckel an und klappte ihn zurück, und
Hélène und ihre Schwester erblickten voller Erstaunen zahllose
Goldbarren von Kleinfingergröße. Die zwei Schwestern schmiegten
sich aneinander und sahen den alten Mann fragend an.
»Meine Damen«, sagte dieser, »in diesem Fass dürfte
sich etwas mehr als eine Million befinden.«
Die zwei jungen Mädchen erbebten. »Aber wie kann
das sein?«, fragte Hélène. »Das viele Gold kann uns unmöglich
gehören.«
»Und doch ist es nichts als die Wahrheit«,
erwiderte der Greis. »Seit
mehr als zwanzig Jahren verwalte ich Ihr Vermögen mit Gewinn, und
im Lauf der Jahre hat es zwischen fünfzig- und
fünfundfünfzigtausend Francs abgeworfen; ich habe nicht
nachgezählt, und man müsste eine Aufstellung machen, aber abgesehen
vom Wert der Siedlung, müssten sich an die neunzigtausend Francs in
dem Fässchen befinden.«
Die zwei Schwestern sahen einander sprachlos
an.
Der Alte holte einen zweiten Schlüssel hervor und
öffnete das zweite Fässchen. Es war bis zur Hälfte mit Rubinen,
Karfunkeln, Saphiren und Smaragden gefüllt, denn wie bereits
gesagt, dienen in Birma Goldbarren und Edelsteine als
Münzgeld.
Der Alte griff in das Fass und ließ eine funkelnde
Kaskade aus der Hand gleiten.
»Was ist das?«, fragte Hélène. »Haben Sie Harun al
Raschids Schatzkammer entdeckt?«
»Nein«, erwiderte der Alte, »doch ich dachte mir,
dass Gold überall nur wert ist, was es wiegt, während diese Juwelen
zwar ungeschliffen sind, aber in Frankreich sicherlich das Doppelte
einbringen. Nach hiesigem Preis sind es Steine für ungefähr
dreihunderttausend Francs.«
»Und worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Hélène
lächelnd, während Jane geistesabwesend in ihre eigenen Gedanken
versunken war.
»Ich will darauf hinaus, meine lieben Herrinnen,
dass dieses Gold und diese Edelsteine Ihnen genauso gehören wie das
Land, die Menschen, die Tiere und die Erträge der Kolonie.«
»Mein teurer Freund«, sagte Hélène, »ich weiß,
welche Vereinbarungen zwischen Ihnen und meinem Vater getroffen
wurden. ›Remi‹, sagte er, als Sie sich trennten, ›da Sie unbedingt
hier bleiben wollen, lasse ich Sie gewähren; gründen Sie mit den
wenigen Mitteln, die ich Ihnen überlassen kann, eine Niederlassung,
und wenn ich wiederkomme oder ein Mitglied meiner Familie als mein
Rechtsnachfolger kommt, werden Sie gerecht teilen. ‹ Leider, lieber
Remi, komme ich als seine Erbin, um Sie im Namen meines Vaters zu
bitten, mit uns zu teilen: Die Hälfte all dessen, was Ihnen gehört,
gehört meiner Schwester und mir, die andere Hälfte aber ist Ihr
Besitz.«
Tränen rannen die Wangen des alten Mannes
hinunter.
»Nein!«, widersprach er vehement. »Nein, so kann
Ihr ehrwürdiger Vater es nicht gemeint haben – oder er rechnete
nicht damit, wie viel Gewinn diese Plantage abwerfen würde, als er
das Abkommen mit mir traf. Bedenken Sie, dass wir nur arme Bauern
sind, die überglücklich wären,
ihren Lebensunterhalt weiterhin in Ihrem Dienst zu erwirtschaften
und sich versorgt zu wissen.«
Hélène sah Remi mit einem nunmehr ernsten Blick an.
»Remi«, sagte sie, »Sie vergessen, dass Sie Ihren Kindern keine
Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn Sie sich uns gegenüber zu
großzügig zeigen. Ihre Kinder haben wie Sie, weniger lange als Sie,
gewiss, doch in dem Maß, wie es ihr Alter und ihre Kraft zuließen,
unser gemeinsames Vermögen erwirtschaftet, und nun ist es meine
Aufgabe, ihre Rechte zu verteidigen und durchzusetzen!«
Remi versuchte zu widersprechen, doch in diesem
Augenblick wurde zum Essen gerufen; drei Schläge auf einen
chinesischen Gong verkündeten, dass aufgetragen war.
Hélène ließ Jane vorangehen und nahm Remis
Arm.
Remi schloss die Kammer hinter ihnen ab, und sie
gingen die Treppe hinunter.
Keine fürstliche Tafel war je prächtiger gedeckt
als der Tisch im Speisezimmer: Indische Pfauen, goldene chinesische
Fasane und birmanische Perlhühner entfalteten auf dem Tisch die
prunkvollen Fächer ihrer Schwanzfedern; das Dessert war eine
Zusammenkunft der erlesensten Früchte: Mangos, Guaven,
Zuckerbananen, Ananas, Durian, Avocados, Jackfrucht und Rosenäpfel;
als Getränke gab es ausschließlich Palmwein und
Pampelmusenorangeade, und diese Getränke, die tief in der Erde
gelagert wurden, waren so kühl und frisch wie eisgekühlter
Likör.
Da zum Haus kein Obstgarten gehörte, hatten die
drei Brüder am Vorabend verabredet, in den Wäldern, die das urbar
gemachte Land umschlossen, Früchte zu sammeln. Justin war den Fluss
mehr als zwei Meilen entlanggegangen, um Mangos zu pflücken, die
nur an jener Stelle wuchsen, und hatte im Dschungel am Ufer des
Sittangs die Fährten mehrerer Tiger erspäht.
Diese Nachricht weckte in den jungen Leuten
Jagdfieber, und man vereinbarte, in einigen Tagen eine Tigerjagd zu
veranstalten und zwar unter Mitnahme der Elefanten, damit die Damen
die Jäger begleiten konnten.
Diesen Vorschlag hatte Jane gemacht, und er war auf
ungeteilten Beifall gestoßen; nur Hélène hatte sie traurig
angesehen und gemurmelt: »Arme Schwester!«
Wahrhaftig war Jane alles andere als übertrieben
mutig, doch mehr als alles andere fürchtete sie sich davor, René
allein auf diese schreckliche Jagd gehen zu lassen, tagelang
Todesängste um seinetwillen auszustehen und ihn nicht um sich zu
haben.
René versuchte, ihr das Vorhaben auszureden, doch
er stimmte sie nur traurig, ohne sie zu überzeugen. Hélène jedoch
verschob die geplante Jagd auf einen späteren Zeitpunkt. Täglich
erwartete man die Eskorte mit dem Leichnam des Vicomte, und die
Begräbnisfeierlichkeiten mussten ihren Lauf nehmen, bevor an
Vergnügungen zu denken war.
Als sie vom Tisch aufstanden, berichtete Hélène Sir
James und René, was zwischen ihr und Remi verhandelt worden war und
dass sie trotz seiner Einwendungen darauf bestanden hatte, dass die
Vereinbarungen so eingehalten wurden, wie sie einst getroffen
worden waren. Beide stimmten ihr zu.
»Und so kommt es«, sagte Hélène lächelnd, »dass
Jane, ohne sich dessen gewahr zu sein, denn sie hat auf kein Wort
unseres Gesprächs Acht gegeben, eine Erbin geworden ist, was nicht
von Nachteil sein kann, denn einen Ehemann für sie wird man in
dieser Eindöde nicht leicht auftreiben.«
»Sie hätte ebenso umsichtig sein sollen wie Sie,
liebe Hélène«, sagte Sir James, »und sich einen Verehrer aus Europa
mitbringen sollen.«
Beider Blicke richteten sich auf René, der auf die
Anspielung nicht einging, sondern sich nur ein verhaltenes Lächeln
gestattete, das eher traurig als fröhlich war.
Die Aufmerksamkeit der drei wurde schnell durch das
Tun von Remis Söhnen abgelenkt.
Unter dem Schatten eines prachtvollen
Affenbrotbaums hoben sie ein Becken aus, in das sie einen
Wasserlauf umleiten wollten, der in den Fluss mündete, so dass er
es füllte und ein herrliches Bad für die Schwestern bildete, die
damit der Mühe enthoben wurden, hundert Schritte weit zu gehen, um
die Bäder zu erreichen. Es war das Bestreben dieser vortrefflichen
Familie, ihren Gästen den Aufenthalt so erquicklich wie möglich zu
machen.
Als die jungen Leute zum Herrenhaus zurückkehrten,
sahen sie Jane in der Tür sitzen, den Blick geistesabwesend auf
Adda gerichtet, die zwei birmanische Hündchen abrichtete; diese
Hündchen sollten Hélène und Jane bei ihren Spaziergängen
begleiten.
In Pegu gibt es zwei sehr verschiedenartige
Pferderassen; die eine stammt aus dem unteren Teil des Landes mit
seinem feuchten, sumpfigen Boden, der sich von Arakan bis nach
Tenasserim erstreckt; in dem Delta, das die zahllosen Arme des
Irrawaddy bilden, findet man nur kleinwüchsige Pferde von
unansehnlicher Gestalt und ohne Feuer, doch sobald man den
trockenen Boden von Henzada erreicht, stößt man auf eine Rasse
kleinwüchsiger Pferde, die zierlich und ausdauernd sind.
Im Übrigen ist im Lande Birma der Elefant das
Beförderungsmittel par excellence für wichtige Persönlichkeiten;
altertümliche Fuhrwerke, von Wasserbüffeln oder Ochsen gezogen,
werden auf kurzen Strecken verwendet, und das Pferd ist ein
Luxusgegenstand.
In der Siedlung gab es fünf, sechs Pferde, doch nur
Adda und die jungen Männer ritten sie; außer ihnen bestieg sie
niemand, oder sagen wir lieber: wagte niemand, sie zu
besteigen.
Adda, ein halbwildes Geschöpf, das von einem
Damensattel noch nie gehört hatte, ritt wie ein Mann; ihr enger
Rock war an den Seiten geschlitzt, und darunter trug sie ein enges
Beinkleid, das bis zu den Knöcheln reichte. Mit ihrem geschmeidigen
Körper ohne Korsett, der sich allen Bewegungen des Pferdes
anschmiegte, und ihren im Wind wehenden Haaren sah sie aus wie eine
der Thessalierinnen, von denen Phädra spricht und deren Locken beim
Laufen neben dem erhobenen Wurfspieß wehten.
Die zwei Schwestern bewunderten neidlos die
anmutigen Bewegungen ihrer schönen Gastgeberin, erklärten sich
jedoch außerstande, jemals auf die gleiche Weise zu Pferde zu
sitzen.
Adda erwiderte, das sei nicht von Belang und René
oder James solle einen französischen Sattel zeichnen, den ihr
Bruder, der Möbeltischler, dann herstellen werde.
In diesem Augenblick verließ den Wald ein Zug, der
aus einem Elefanten, vier Pferden und einem Dutzend Männer bestand.
Der Elefant war mit schwarzen Draperien behängt.
Die jungen Mädchen stiegen auf den Belvedere, der
das Haus überragte, und vergewisserten sich, dass es sich nur um
die Eskorte handeln konnte, die den Leichnam ihres Vaters
hergeleitete.
Mit Gongschlägen wurden alle Bewohner
zusammengerufen; dann wurde das Tor geöffnet, und man erwartete den
Trauerzug. Als der Elefant mit dem Sarg auf dem Rücken in den Hof
kam, knieten die Schwestern nieder, und die anderen taten es ihnen
gleich.
Der Shabundar von Pegu, der sich anerboten hatte,
alle Einzelheiten des Begräbnisses zu regeln, hatte zwei
jesuitischen Missionaren vorgeschlagen, sich der Eskorte
anzuschließen, um auf diese Weise gefahrlos den Wald voller
Raubtiere zu durchqueren.
Zum Dank für den Schutz wollten die Priester die
Totengebete am Sarg des Vicomte de Sainte-Hermine sprechen.
Der Sarg wurde in die kleine Kapelle getragen.
Anstelle von Kerzen brannten Fackeln aus harzhaltigem Holz
vierundzwanzig Stunden lang und ersetzten das Gepränge einer
veritablen Trauerkapelle, so gut es eben ging.
Die Totenmesse wurde mit größter Feierlichkeit
gelesen.
Danach wurde der Leichnam des Vicomte in dem
Felsengrab nahe Evas Grabstätte beigesetzt.
Mehrere Tage lang herrschte in der ganzen Kolonie
Schwermut und Trauer, die durch die Erinnerung an den gewalttätigen
und vorzeitigen Tod des Vicomte geweckt worden war.
Und tagelang konnte Jane nach Herzenslust weinen,
ohne dass sie nach dem Anlass ihres Kummers gefragt wurde.
Am übernächsten Tag nahmen die beiden Jesuiten ihre
Reise nach China wieder auf.