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Der Wald von Vernon
Am nächsten Samstag ritten zwei Männer gegen elf
Uhr vormittags aus dem Dorf Port-Mort und folgten dem Weg von
Andelys nach Vernon, vorbei an L’Isle und Pressagny, worauf sie
Vernonnet erreichten, die alte Holzbrücke überquerten, auf der fünf
Mühlen standen, und dem Weg von Paris nach Rouen folgten.
Links nach dem Ende der Brücke verschwanden die
zwei Reiter in der düsteren Allee, die der Wald von Bizy dort
bildet, und hielten rechtzeitig an, um weiterhin beobachten zu
können, was sich auf der Landstraße abspielte.
Während sie durch Pressagny ritten, machten sich
zwei andere Reiter von Rolleboise am linken Seineufer auf und
ritten an Port-Villez und
Vernon vorbei; als sie die Stelle des Waldes erreichten, an der
schon zwei Reiter verschwunden waren, schienen sie sich zu beraten,
und nach einem Moment des Zauderns begaben sie sich entschlossen in
den Wald.
Kaum hatten sie zehn Schritte zurückgelegt, hörten
sie den Ruf: »Wer da?«
»Vernon!«, erwiderten die Neuankömmlinge.
»Versailles!«, riefen die anderen.
In diesem Augenblick kamen auf dem Weg durch den
Wald, der von Thilliers-en-Vexin nach Bizy führt, zwei weitere
Reiter, die sich nach Austausch der gleichen Parole zu den anderen
gesellten.
Die sechs Männer wechselten wenige Worte, mit denen
sie sich zu erkennen gaben, und warteten dann schweigend.
Es schlug Mitternacht.
Jeder der Wartenden zählte die zwölf Schläge mit.
Fernes Räderrollen war als Nächstes zu hören. Jeder Reiter legte
dem Nebenmann die Hand auf den Arm und sagte: »Horch!«
»Ja«, erwiderten alle wie aus einem Mund. Alle
hatten verstanden, und in aller Herzen fand das Räderrollen seinen
Widerhall.
Man hörte, wie Pistolen geladen wurden.
Plötzlich sah man an einer Wegbiegung die zwei
Laternen aufleuchten, von denen die Schnellpost begleitet
war.
Kein Hauch war zu vernehmen, aber Herzklopfen, das
klang wie Wassertropfen, die auf einen Felsen fallen.
Die Schnellpost kam näher.
Als sie nur mehr zehn Schritte entfernt war, warfen
sich zwei Reiter vor die Pferde, und vier bezogen vor den
Wagentüren Stellung mit dem Ruf: »Compagnons de Jéhu, keine
Gegenwehr!«
Die Schnellpost blieb stehen, dann erfolgte aus den
Wagentüren eine ohrenbetäubende Musketensalve, eine Stimme rief:
»Galopp!«, und die Schnellpost raste davon, so schnell die vier
kräftigen Percheronpferde laufen konnten.
Zwei Compagnons de Jéhu waren auf der Strecke
geblieben: Dem einen war eine Kugel von Schläfe zu Schläfe durch
den Kopf gedrungen; ihm war nicht mehr zu helfen; den anderen hatte
sein Pferd beim Sturz unter sich begraben, und er tastete vergebens
nach seiner Pistole, die ihm beim Sturz entglitten war.
Die anderen hatten sich in den Wald und in den
Fluss gerettet mit dem Ruf: »Verrat! Rette sich, wer kann!«
Vier Gendarmen kamen angaloppiert. Sie sprangen vom
Pferd und ergriffen den Royalisten, der seine Pistole gefunden
hatte und sich gerade erschießen wollte. Er war aus den Steigbügeln
geglitten, und sein Pferd hatte sich nach dem Sturz aufgerichtet
und war davongestürmt.
Als der Gefangene begriff, dass er sich nicht
erschießen konnte, schien ihn alle Kraft zu verlassen. Er stieß
einen Seufzer aus und wurde ohnmächtig. Sein Kopf fiel auf das
Pflaster, und das Blut lief aus einer großen Wunde an der
Kopfhaut.
Man brachte ihn in das Gefängnis von Vernon.
Dort kam er zu sich, und ihm war, als erwache er
aus einem Traum. Im Licht einer Lampe, die dafür da war, dass von
einer Öffnung in der Tür in seine Zelle gesehen werden konnte,
erkannte er das Innere einer Kerkerzelle.
Da erinnerte er sich, beugte seinen Kopf in die
Hände und schluchzte.
Bei diesem Geräusch wurde die Tür geöffnet; der
Gefängnisdirektor trat ein und fragte den Gefangenen, ob er einen
Wunsch habe.
Der Gefangene richtete sich auf, schüttelte mit
einer verächtlichen Kopfbewegung die Tränen fort, die an seinen
Wimpern zitterten, und sagte: »Monsieur, können Sie mir eine
Pistole geben, mit der ich mir ein Loch in den Kopf schießen
kann?«
»Citoyen«, erwiderte der Direktor, »du bittest mich
um das Einzige, was ich dir neben der Freiheit nicht gewähren
kann.«
Und nichts konnte den Gefangenen dazu bewegen, ein
weiteres Wort zu äußern.
Am nächsten Tag erhielt er um neun Uhr morgens
abermals Besuch in seiner Zelle.
Er saß auf dem Holzschemel, auf den er sich am
Vorabend hatte fallen lassen, doch das Blut aus seiner Wunde war
geronnen, so dass sein Kopf an der Wand festklebte, was verriet,
dass er sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt
hatte.
Der Staatsanwalt war mit dem Untersuchungsrichter
gekommen, um ihn zu vernehmen.
Der Gefangene weigerte sich zu antworten und sagte:
»Nur Monsieur Fouché persönlich werde ich antworten.«
»Haben Sie ihm etwas zu enthüllen?«
»Ja.«
»Geben Sie uns Ihr Ehrenwort?«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
Überall wurde inzwischen von dem Überfall auf die
Eilpost und von der Wichtigkeit des Gefangenen, der gemacht worden
war, gemunkelt.
Der Staatswanwalt zögerte keine Sekunde lang. Er
ließ einen viersitzigen Wagen vorfahren und hieß den gefesselten
Gefangenen einsteigen. Er setzte sich neben ihn, ließ zwei
Gendarmen gegenüber Platz nehmen und postierte einen dritten auf
dem Kutschbock neben dem Kutscher.
Der Wagen fuhr los; sechs Stunden später hielt er
vor dem Stadtpalais des Citoyen Fouché.
Der Gefangene wurde in das Vorzimmer im ersten
Stock gebracht. Citoyen Fouché weilte in seinem Kabinett. Der
Staatsanwalt ließ den Gefangenen mit den vier Gendarmen in dem
Vorzimmer und begab sich zu Citoyen Fouché.
Fünf Minuten später wurde der Gefangene geholt und
in das Kabinett des Citoyen Senator Fouché aus Nantes
gebracht.
Niemand ahnte, dass er noch immer der wahre
Polizeiminister war; er hatte sich die Marotte zugelegt, die
Herkunftsbezeichnung an seinen Namen zu heften, und sie hat sich
dort so gut eingefügt, dass sie ihm wie ein Adelstitel erhalten
geblieben ist.
Der Gefangene hatte unter den eng geschnürten
Fesseln unterwegs sehr gelitten und litt noch immer; Fouché
bemerkte es.
»Citoyen«, sagte er, »wenn du mir dein Wort gibst,
während der Zeit, die du bei mir bist, keinen Fluchtversuch zu
unternehmen, lasse ich dich von den Fesseln befreien, die dir
großes Ungemach zu bereiten scheinen.«
»Schreckliches Ungemach«, sagte der
Gefangene.
Fouché klingelte nach seinem Büroboten.
»Toutain«, sagte er zu diesem, »lösen oder
schneiden Sie dem Gefangenen die Fesseln ab.«
»Was tun Sie da?«, fragte der Staatsanwalt.
»Das sehen Sie doch«, erwiderte Fouché, »ich lasse
dem Gefangenen die Fesseln abnehmen.«
»Und wenn er seine Freiheit missbraucht?«
»Er hat mir sein Wort gegeben.«
»Und wenn er es nicht hält?«
»Er wird es halten.«
Der Gefangene stieß einen Seufzer der Erleichterung
aus und schüttelte seine blutigen Hände. Das Seil hatte sich in das
Fleisch eingeschnitten.
»Gut«, sagte Fouché, »wirst du jetzt auf meine
Fragen antworten?«
»Ich sagte, dass ich nur Ihnen antworten werde.
Wenn wir allein sind, stehe ich Ihnen Rede und Antwort.«
»Setze dich erst einmal, Citoyen. Herr
Staatsanwalt, Sie haben richtig gehört; es handelt sich nur um eine
kurze Verzögerung, und da Sie den Prozess weiterhin begleiten
werden, wird es Ihnen nicht an Gelegenheit mangeln, Ihre Neugier zu
befriedigen.«
Er deutete mit dem Kopf eine Verneigung an, und dem
Staatsanwalt blieb nichts anderes übrig, als auf der Stelle den
Raum zu verlassen, wäre er auch noch so gern geblieben.
»Und jetzt, Monsieur Fouché...«
Doch dieser unterbrach den Gefangenen. »Sparen Sie
sich die Mühe, Monsieur«, sagte Fouché. »Ich weiß ohnehin
alles.«
»Sie?«
»Sie heißen Hector de Sainte-Hermine und entstammen
einer vornehmen Familie des Jura; Ihr Vater starb auf dem Schafott,
Ihr ältester Bruder wurde in der Festung Auenheim füsiliert. Ihr
zweitältester Bruder wurde in Bourg-en-Bresse guillotiniert. Nach
seinem Tod sind auch Sie den Compagnons de Jéhu beigetreten.
Cadoudal hat Ihnen nach seiner Unterredung mit dem Ersten Konsul
die Freiheit geschenkt, und Sie haben sie genutzt, um die Hand von
Mademoiselle de Sourdis, die Sie lieben, zu erlangen. Als Sie im
Begriff waren, den Ehevertrag zu unterzeichnen, den der Erste
Konsul und Madame Bonaparte bereits unterschrieben hatten, erschien
einer Ihrer Kameraden, um Ihnen Cadoudals Ordre zu überbringen; Sie
verschwanden spurlos; vergeblich suchte man Sie überall, doch
gestern fand man Sie nach dem Überfall auf die Eilpost von Rouen
nach Paris, den Sie mit fünf Ihrer Gefährten verübt hatten, halb
ohnmächtig unter Ihrem toten Pferd auf der Landstraße. Sie wollten
mich sprechen, um mich zu fragen, ob ich Ihnen erlauben könne,
einen anonymen Tod durch eigene Hand zu finden. Bedauerlicherweise
steht das nicht in meiner Macht, denn sonst würde ich Ihnen diesen
Dienst erweisen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«
Hector starrte Fouché mit einem Gesichtsausdruck
der Verblüffung an, der an Schwachsinn grenzte.
Sein Blick wanderte durch den Raum und fiel auf
einen Stichel auf dem Schreibtisch des Ministers, so spitz wie eine
Nadel. Er wollte danach greifen, doch Fouché fiel ihm in den
Arm.
»Sehen Sie sich vor, Monsieur«, sagte er, »oder
wollen Sie Ihr Wort brechen, was eines Edelmanns unwürdig
wäre?«
»Was wollen Sie damit sagen?«, rief der junge Graf,
der sich aus Fouchés Griff zu befreien versuchte.
»Selbstmord ist Flucht.«
Sainte-Hermine ließ den Stichel los und stürzte auf
den Teppich, wo er sich wie in einem Anfall zu wälzen begann.
Fouché betrachtete ihn; als er sah, dass der
Schmerz seinen Höhepunkt erreichte, sagte er: »Hören Sie mir zu,
ich weiß jemanden, der Ihnen verschaffen kann, was Sie
verlangen.«
Sainte-Hermine stützte ein Knie auf und erhob sich
halb. »Wer ist das?«, fragte er.
»Der Erste Konsul.«
»Oh!«, rief der junge Mann. »Erbitten Sie für mich
von ihm, dass er mir die Gnade erweist, mich hinter einer Mauer
füsilieren zu lassen, ohne dass es zu einem Gerichtsverfahren
kommt, ohne dass mein Name genannt wird, ohne dass jene, die mich
füsilieren, jemals erfahren, wer ich bin.«
»Geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie hier auf mich
warten und nicht zu fliehen versuchen?«
»Sie haben mein Wort! Sie haben mein Wort,
Monsieur! Aber bringen Sie mir um Himmels willen den Tod.«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Fouché
lachend. »Ihr Wort...«
»Bei meiner Ehre!«, rief Sainte-Hermine und
streckte ihm die Hand hin.
Der Staatsanwalt hatte im Nebenzimmer gewartet.
»Und jetzt?«, fragte er, als Fouché eintrat.
»Sie können nach Vernon zurückfahren«, sagte
Fouché. »Hier werden Sie nicht mehr benötigt.«
»Aber mein Gefangener?«
»Den behalte ich.«
Und ohne dem Beamten weitere Erklärungen zu geben,
stieg Fouché eilig die Treppe hinunter und sprang mit den Worten:
»Zum Ersten Konsul!« in den Wagen.