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Doppelte Prise
Am nächsten Morgen erwachte René bei
Tagesanbruch.
François hingegen hatte als treuer Wächter die
ganze Nacht kein Auge zugetan. Kein Tier, nicht einmal ein Kaiman,
hatte sie heimzusuchen gewagt.
Sobald René wach war, gab er den Befehl zum
Aufbruch und verteilte Arrak und Betel an seine Männer.
Zum Glück waren die Pferde angebunden gewesen und
hatten nicht fliehen können, als die Feuersbrunst den See wie einen
riesigen Spiegel beschienen hatte.
Die Tiere, die in der Tiefe dieses Binnenmeeres
lebten, hatten das ungewohnte Schauspiel sicherlich befremdet
verfolgt. Der Wald brannte eine halbe Meile weit, und der See sah
aus wie ein Flammenmeer.
Als es hell wurde, waren keine wilden Tiere mehr in
der Nähe; kein Tigergebrüll war zu vernehmen, kein
Schlangengezischel, kein Kaimangejaule; tiefe Stille herrschte,
nachdem alle Lebewesen der Feuersbrunst entflohen waren, die man
hie und da noch in der Ferne knistern hörte.
Alle Männer der Eskorte betrachteten René voller
Bewunderung. Die Nacht raubt dem Kühnsten den Mut, und mancher, der
tasgsüber jeder Gefahr, die er sehen kann, unerschrocken die Stirn
bietet, erzittert im Dunkeln vor dem, was er nicht sehen kann und
was ihm harmlos erschiene, könnte er es sehen.
René jedoch war von besonderem Schlag und kannte
keine Furcht.
Man machte sich wieder auf den Weg.
Niemand hätte eingestanden, dass Angst und Furcht
ihm das Herz bedrückten,
doch alle wanderten so geschwind, als wollten sie den unseligen
Wald so bald wie möglich hinter sich lassen.
Gegen zwei Uhr nachmittags wurde der Waldrand
erreicht, und alle atmeten auf; man erwog, anzuhalten und zu essen,
doch erst als man den Wald verlassen hatte, wagte man, in die Tat
umzusetzen, was im Dschungel selbst den Mutigsten tollkühn
erschienen wäre.
In der Ebene und im hellen Tageslicht jedoch
merkten alle, dass sie seit Sonnenaufgang auf den Beinen waren,
ohne einen Bissen gegessen zu haben. Man setzte sich fröhlich und
holte aus den Vorräten, die am Sattel eines der Pferde hingen, eine
gebratene und geräucherte Antilopenkeule; jeder schnitt sich eine
Scheibe ab und verzehrte sie zu einem Glas Arrak.
Es waren nur mehr drei bis vier Stunden Marsch
durch die Ebene mit vereinzelten Büschen, wo sich wilde Tiere
tagsüber kaum aufhielten. Die Karawane setzte ihren Weg bis nach
Pegu ohne weitere Zwischenfälle fort.
Renés Slup lag im Hafen vor Anker, wie er sie
hinterlassen hatte. Er gab sich zu erkennen, und sogleich wurde von
der Runner of New York eine Jolle hergeschickt, um ihn an
Bord zu bringen. Auf dem Schiff erwartete ihn der Mann, mit dem er
die Bezahlung für Eskorte, Pferde und Elefanten ausgehandelt
hatte.
Am selben Abend wurde alles beglichen, und in
Gegenwart des Shabundars bezahlte René dem Besitzer der Sklaven und
der Tiere, die ihn zum Land des Betels gebracht hatten, den
vereinbarten Betrag.
Da für die zwei Elefanten, die René Hélène als
Geschenk zurückgelassen hatte, kein Preis ausgehandelt worden war,
ließ man den Shabundar einen Preis festsetzen.
Nichts hielt René nunmehr in Birma zurück, in einem
Land, in das ihn allein der Zufall geführt hatte. Die
Verpflichtung, die er gegenüber den Damen Sainte-Hermine empfunden
hatte, war abgegolten, und es gab keinen Grund für ihn, länger in
Birma zu bleiben. So wurde am nächsten Tag derselbe Lotse
engagiert, mit dem man den Fluss Pegu landeinwärts gekommen war und
der in der Erwartung, dass man ihn eines Tages wieder benötigen
würde, um flussabwärts zu fahren, in Ruhe abgewartet und für drei
oder vier Sous am Tag Reis gegessen hatte, bis René seine Geschäfte
im Land des Betels beendete und ihn in Pegu wieder an Bord
nahm.
Es war der 22. Mai 1805.
René hatte nicht die geringste Ahnung von den
Dingen, die in Frankreich
vor sich gegangen waren, seit er vor einem Jahr Saint-Malo an Bord
der Revenant verlassen hatte.
Keine menschlichen Bande, keine Familienbande
bestehen zu unserem Vaterland, und doch hat es als unser aller
Mutter Rechte auf uns, die uns so innig mit ihm verbinden wie mit
der Mutter, aus deren Schoß wir geboren wurden. Zudem hatte René
Frankreich zu einem Zeitpunkt verlassen, als große Dinge sich
anbahnten. Bonaparte war entschlossen gewesen, in England
einzufallen. Hatte er sein Vorhaben ausgeführt, hatte er es
aufgegeben? Das hatte niemand René in Indien sagen können, doch
sobald er zur Île de France zurückkehrte, würde er dort sicherlich
Surcouf vorfinden und von ihm erfahren, was seither geschehen war.
Dank der günstigen Strömung, welche die Runner of New York
dem Meer entgegenführte, dauerte es nur drei Tage, um von Pegu nach
Rangun zu gelangen, und am vierten Tag fuhr das Schiff auf das
offene Meer hinaus.
René nahm Kurs auf die Nordwestspitze der Insel
Sumatra. Nach zehn Tagen kam Aceh in Sicht und wurde noch am selben
Abend umfahren, so dass man sich auf der unermesslichen Wasserwüste
befand, die sich von Sumatra bis zu den Tschagos-Inseln
ausdehnt.
Am nächsten Tag rief der Mann im Ausguck bei
Tagesanbruch: »Schiff in Sicht!« René sprang an Deck, das Fernrohr
in der Hand.
Auf Höhe der nördlichsten Tschagos-Insel waren drei
Schiffe zu sehen; zwei segelten miteinander auf die Tschagos-Inseln
zu, das Dritte kam ihnen entgegen. Die zwei ersten schätzte René
als Kauffahrer ein, doch man darf nicht vergessen, dass Kauffahrer
zu jener Zeit so schwer bewaffnet waren wie Schiffe der
Kriegsmarine.
Doch besondere Aufmerksamkeit weckte das dritte
Schiff, das den zwei anderen entgegenfuhr. Bauweise und Aufmachung
ließen nicht den geringsten Zweifel daran, dass dieses wendige,
schnelle Schiff dazu bestimmt war, schwerfälligere Beute zu
verfolgen und einzuholen.
René reichte François sein Fernglas und sagte nur
nachdrücklich: »Schau!«
François nahm das Fernglas, sah hindurch und konnte
einen Freudenschrei kaum zurückhalten; er sah René an, der
lächelte, gab ihm das Fernglas zurück und murmelte: »Meiner Treu,
wahrhaftig!«
Im selben Augenblick gab das dritte Schiff einen
Kanonenschuss ab, und inmitten des Rauchs entfaltete sich ein
Banner.
»Siehst du«, sagte René, »die Fahne der
Republik.«
Die zwei Schiffe, die dem dritten entgegenkamen,
erwiderten den Schuss mit Kanonensalven und hissten die Flagge des
Vereinigten Königreichs.
»Alle Segel setzen!«, rief René. »Und haltet Kurs
auf den Ort des Gefechts!«
Die Schiffe befanden sich etwa zwei Meilen seewärts
der Tschagos-Inseln, und es wehte so wenig Wind, dass die
Gefechtsgegner, die einander beschossen, bald von einer Rauchwolke
eingehüllt waren; der schwache Nordostwind, der auf diese Schiffe
keine Wirkung hatte, konnte jedoch einem leicht gebauten und
wendigen Schiff wie der Runner of New York, wenn es vor dem
Wind segelte, zu einer ansehnlichen Geschwindigkeit
verhelfen.
Die Rauchwolke um die drei kämpfenden Schiffe wurde
immer dichter. Der unablässige Kanonendonner der Geschütze, den das
malaiische Ufer zurückwarf, klang wie heftiges Gewittergrollen. Das
Gefecht dauert seit einer Stunde an, als René seiner Mannschaft
befiehlt, sich in den Kampf zu stürzen, und allen anderen voraus in
den schwarzen Rauch springt; die Kanoniere haben mit glimmender
Lunte in der Hand Posten bezogen, als René zwischen zwei
Rauchschwaden am Heck eines der beiden englischen Schiffe den
Namenszug Louisa entziffert.
Was schert ihn, welcher Nationalität die Männer an
Bord sind! Er weiß nur, dass das Schiff gegen ein französisches
Schiff kämpft, und das ist alles, was er wissen muss!
»Feuer von Steuerbord!«, befiehlt René, der sein
Schiff dicht neben die Louisa manövriert.
Die sechs Steuerbordgeschütze der Runner of New
York schießen wie aus einem Rohr. Dann überholt die Runner
of New York die Louisa, auf der noch niemand begriffen
hat, was gerade geschieht, und René lässt seine zwei Hauptgeschütze
ihre Kanonenkugeln über die ganze Länge des gegnerischen Schiffs
abfeuern.
Ein schreckliches Krachen ertönt: Der gekappte
Fockmast ist auf das Deck der Louisa gestürzt.
Durch den sich stetig verdichtenden Rauch und den
Gefechtslärm hört René eine wohlbekannte Stimme, die ihre Leute zum
Entern auffordert.
Unterdessen verfängt sich der Bugspriet der
Runner of New York in den Wanten des zweiten, unbekannten
englischen Schiffs; René schert sich nicht darum, sondern greift zu
seinem Sprachrohr und fordert seine Mannschaft ebenfalls auf, den
Engländer zu entern.
Im selben Augenblick erblickt er zwischen zwei
Rauchschwaden einen englischen Offizier auf der Wachtbank des
Schiffs, mit dem sein Schiff verfangen ist; er lässt das Gewehr
sinken, nimmt es in die linke Hand, legt an, schießt und sieht, wie
der Engländer von der Wachtbank rollt.
»Bereit zum Entern, Freunde, bereit zum Entern!«,
ruft René abermals und springt als Erster auf den Bugspriet,
während an die zehn Mann, von François angeführt, die Wanten
entlangklettern, sich an den Schoten zum Bugspriet hinunterhangeln
und ihrem Kapitän an Deck des gegnerischen Schiffs folgen.
Die verblüfften Engländer fragen sich, woher diese
Männer kommen, die wie vom Himmel fallen, als René mit donnernder
Stimme auf Englisch befiehlt: »Geben Sie sich zu erkennen! Zeigen
Sie Flagge!«
Der erste Offizier des englischen Schiffs hebt den
Arm, um die Ordre rückgängig zu machen, doch sein Arm fällt
herunter, die Stimme versagt ihm den Dienst, denn eine
Pistolenkugel hat seine Schläfen durchdrungen.
Die englische Flagge wird gesetzt, und diesmal ruft
René auf Französisch: »Stellt die Kampfhandlungen ein, Freunde, der
Engländer hat sich ergeben.«
Dann lauscht er: Stille überall.
Man wartet ab, bis der Wind den dichten
Rauchschleier lüftet, der die Schiffe voreinander verbirgt und nach
und nach als Spirale um die Masten aufsteigt; die zwei englischen
Schiffe ergeben sich, und nach einigen Minuten sieht René den
französischen Kapitän, der auf dem Deck eines der gegnerischen
Schiffe steht und den Fuß auf die englische Fahne gesetzt
hat.
Er hatte sich nicht getäuscht: Es war
Surcouf.
Beide stießen einen Freudenruf und einen Triumphruf
aus; ihre ausgestreckten Hände konnten sich noch nicht berühren,
doch die Namen, mit denen die Freunde einander begrüßten, bewiesen,
dass sie einander erkannt hatten.