82
Doppelte Prise
Am nächsten Morgen erwachte René bei Tagesanbruch.
François hingegen hatte als treuer Wächter die ganze Nacht kein Auge zugetan. Kein Tier, nicht einmal ein Kaiman, hatte sie heimzusuchen gewagt.
Sobald René wach war, gab er den Befehl zum Aufbruch und verteilte Arrak und Betel an seine Männer.
Zum Glück waren die Pferde angebunden gewesen und hatten nicht fliehen können, als die Feuersbrunst den See wie einen riesigen Spiegel beschienen hatte.
Die Tiere, die in der Tiefe dieses Binnenmeeres lebten, hatten das ungewohnte Schauspiel sicherlich befremdet verfolgt. Der Wald brannte eine halbe Meile weit, und der See sah aus wie ein Flammenmeer.
Als es hell wurde, waren keine wilden Tiere mehr in der Nähe; kein Tigergebrüll war zu vernehmen, kein Schlangengezischel, kein Kaimangejaule; tiefe Stille herrschte, nachdem alle Lebewesen der Feuersbrunst entflohen waren, die man hie und da noch in der Ferne knistern hörte.
Alle Männer der Eskorte betrachteten René voller Bewunderung. Die Nacht raubt dem Kühnsten den Mut, und mancher, der tasgsüber jeder Gefahr, die er sehen kann, unerschrocken die Stirn bietet, erzittert im Dunkeln vor dem, was er nicht sehen kann und was ihm harmlos erschiene, könnte er es sehen.
René jedoch war von besonderem Schlag und kannte keine Furcht.
Man machte sich wieder auf den Weg.
Niemand hätte eingestanden, dass Angst und Furcht ihm das Herz bedrückten, doch alle wanderten so geschwind, als wollten sie den unseligen Wald so bald wie möglich hinter sich lassen.
Gegen zwei Uhr nachmittags wurde der Waldrand erreicht, und alle atmeten auf; man erwog, anzuhalten und zu essen, doch erst als man den Wald verlassen hatte, wagte man, in die Tat umzusetzen, was im Dschungel selbst den Mutigsten tollkühn erschienen wäre.
In der Ebene und im hellen Tageslicht jedoch merkten alle, dass sie seit Sonnenaufgang auf den Beinen waren, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Man setzte sich fröhlich und holte aus den Vorräten, die am Sattel eines der Pferde hingen, eine gebratene und geräucherte Antilopenkeule; jeder schnitt sich eine Scheibe ab und verzehrte sie zu einem Glas Arrak.
Es waren nur mehr drei bis vier Stunden Marsch durch die Ebene mit vereinzelten Büschen, wo sich wilde Tiere tagsüber kaum aufhielten. Die Karawane setzte ihren Weg bis nach Pegu ohne weitere Zwischenfälle fort.
 
Renés Slup lag im Hafen vor Anker, wie er sie hinterlassen hatte. Er gab sich zu erkennen, und sogleich wurde von der Runner of New York eine Jolle hergeschickt, um ihn an Bord zu bringen. Auf dem Schiff erwartete ihn der Mann, mit dem er die Bezahlung für Eskorte, Pferde und Elefanten ausgehandelt hatte.
Am selben Abend wurde alles beglichen, und in Gegenwart des Shabundars bezahlte René dem Besitzer der Sklaven und der Tiere, die ihn zum Land des Betels gebracht hatten, den vereinbarten Betrag.
Da für die zwei Elefanten, die René Hélène als Geschenk zurückgelassen hatte, kein Preis ausgehandelt worden war, ließ man den Shabundar einen Preis festsetzen.
Nichts hielt René nunmehr in Birma zurück, in einem Land, in das ihn allein der Zufall geführt hatte. Die Verpflichtung, die er gegenüber den Damen Sainte-Hermine empfunden hatte, war abgegolten, und es gab keinen Grund für ihn, länger in Birma zu bleiben. So wurde am nächsten Tag derselbe Lotse engagiert, mit dem man den Fluss Pegu landeinwärts gekommen war und der in der Erwartung, dass man ihn eines Tages wieder benötigen würde, um flussabwärts zu fahren, in Ruhe abgewartet und für drei oder vier Sous am Tag Reis gegessen hatte, bis René seine Geschäfte im Land des Betels beendete und ihn in Pegu wieder an Bord nahm.
Es war der 22. Mai 1805.
René hatte nicht die geringste Ahnung von den Dingen, die in Frankreich vor sich gegangen waren, seit er vor einem Jahr Saint-Malo an Bord der Revenant verlassen hatte.
Keine menschlichen Bande, keine Familienbande bestehen zu unserem Vaterland, und doch hat es als unser aller Mutter Rechte auf uns, die uns so innig mit ihm verbinden wie mit der Mutter, aus deren Schoß wir geboren wurden. Zudem hatte René Frankreich zu einem Zeitpunkt verlassen, als große Dinge sich anbahnten. Bonaparte war entschlossen gewesen, in England einzufallen. Hatte er sein Vorhaben ausgeführt, hatte er es aufgegeben? Das hatte niemand René in Indien sagen können, doch sobald er zur Île de France zurückkehrte, würde er dort sicherlich Surcouf vorfinden und von ihm erfahren, was seither geschehen war. Dank der günstigen Strömung, welche die Runner of New York dem Meer entgegenführte, dauerte es nur drei Tage, um von Pegu nach Rangun zu gelangen, und am vierten Tag fuhr das Schiff auf das offene Meer hinaus.
René nahm Kurs auf die Nordwestspitze der Insel Sumatra. Nach zehn Tagen kam Aceh in Sicht und wurde noch am selben Abend umfahren, so dass man sich auf der unermesslichen Wasserwüste befand, die sich von Sumatra bis zu den Tschagos-Inseln ausdehnt.
Am nächsten Tag rief der Mann im Ausguck bei Tagesanbruch: »Schiff in Sicht!« René sprang an Deck, das Fernrohr in der Hand.
Auf Höhe der nördlichsten Tschagos-Insel waren drei Schiffe zu sehen; zwei segelten miteinander auf die Tschagos-Inseln zu, das Dritte kam ihnen entgegen. Die zwei ersten schätzte René als Kauffahrer ein, doch man darf nicht vergessen, dass Kauffahrer zu jener Zeit so schwer bewaffnet waren wie Schiffe der Kriegsmarine.
Doch besondere Aufmerksamkeit weckte das dritte Schiff, das den zwei anderen entgegenfuhr. Bauweise und Aufmachung ließen nicht den geringsten Zweifel daran, dass dieses wendige, schnelle Schiff dazu bestimmt war, schwerfälligere Beute zu verfolgen und einzuholen.
René reichte François sein Fernglas und sagte nur nachdrücklich: »Schau!«
François nahm das Fernglas, sah hindurch und konnte einen Freudenschrei kaum zurückhalten; er sah René an, der lächelte, gab ihm das Fernglas zurück und murmelte: »Meiner Treu, wahrhaftig!«
Im selben Augenblick gab das dritte Schiff einen Kanonenschuss ab, und inmitten des Rauchs entfaltete sich ein Banner.
»Siehst du«, sagte René, »die Fahne der Republik.«
Die zwei Schiffe, die dem dritten entgegenkamen, erwiderten den Schuss mit Kanonensalven und hissten die Flagge des Vereinigten Königreichs.
»Alle Segel setzen!«, rief René. »Und haltet Kurs auf den Ort des Gefechts!«
Die Schiffe befanden sich etwa zwei Meilen seewärts der Tschagos-Inseln, und es wehte so wenig Wind, dass die Gefechtsgegner, die einander beschossen, bald von einer Rauchwolke eingehüllt waren; der schwache Nordostwind, der auf diese Schiffe keine Wirkung hatte, konnte jedoch einem leicht gebauten und wendigen Schiff wie der Runner of New York, wenn es vor dem Wind segelte, zu einer ansehnlichen Geschwindigkeit verhelfen.
Die Rauchwolke um die drei kämpfenden Schiffe wurde immer dichter. Der unablässige Kanonendonner der Geschütze, den das malaiische Ufer zurückwarf, klang wie heftiges Gewittergrollen. Das Gefecht dauert seit einer Stunde an, als René seiner Mannschaft befiehlt, sich in den Kampf zu stürzen, und allen anderen voraus in den schwarzen Rauch springt; die Kanoniere haben mit glimmender Lunte in der Hand Posten bezogen, als René zwischen zwei Rauchschwaden am Heck eines der beiden englischen Schiffe den Namenszug Louisa entziffert.
Was schert ihn, welcher Nationalität die Männer an Bord sind! Er weiß nur, dass das Schiff gegen ein französisches Schiff kämpft, und das ist alles, was er wissen muss!
»Feuer von Steuerbord!«, befiehlt René, der sein Schiff dicht neben die Louisa manövriert.
Die sechs Steuerbordgeschütze der Runner of New York schießen wie aus einem Rohr. Dann überholt die Runner of New York die Louisa, auf der noch niemand begriffen hat, was gerade geschieht, und René lässt seine zwei Hauptgeschütze ihre Kanonenkugeln über die ganze Länge des gegnerischen Schiffs abfeuern.
Ein schreckliches Krachen ertönt: Der gekappte Fockmast ist auf das Deck der Louisa gestürzt.
Durch den sich stetig verdichtenden Rauch und den Gefechtslärm hört René eine wohlbekannte Stimme, die ihre Leute zum Entern auffordert.
Unterdessen verfängt sich der Bugspriet der Runner of New York in den Wanten des zweiten, unbekannten englischen Schiffs; René schert sich nicht darum, sondern greift zu seinem Sprachrohr und fordert seine Mannschaft ebenfalls auf, den Engländer zu entern.
Im selben Augenblick erblickt er zwischen zwei Rauchschwaden einen englischen Offizier auf der Wachtbank des Schiffs, mit dem sein Schiff verfangen ist; er lässt das Gewehr sinken, nimmt es in die linke Hand, legt an, schießt und sieht, wie der Engländer von der Wachtbank rollt.
»Bereit zum Entern, Freunde, bereit zum Entern!«, ruft René abermals und springt als Erster auf den Bugspriet, während an die zehn Mann, von François angeführt, die Wanten entlangklettern, sich an den Schoten zum Bugspriet hinunterhangeln und ihrem Kapitän an Deck des gegnerischen Schiffs folgen.
Die verblüfften Engländer fragen sich, woher diese Männer kommen, die wie vom Himmel fallen, als René mit donnernder Stimme auf Englisch befiehlt: »Geben Sie sich zu erkennen! Zeigen Sie Flagge!«
Der erste Offizier des englischen Schiffs hebt den Arm, um die Ordre rückgängig zu machen, doch sein Arm fällt herunter, die Stimme versagt ihm den Dienst, denn eine Pistolenkugel hat seine Schläfen durchdrungen.
Die englische Flagge wird gesetzt, und diesmal ruft René auf Französisch: »Stellt die Kampfhandlungen ein, Freunde, der Engländer hat sich ergeben.«
Dann lauscht er: Stille überall.
Man wartet ab, bis der Wind den dichten Rauchschleier lüftet, der die Schiffe voreinander verbirgt und nach und nach als Spirale um die Masten aufsteigt; die zwei englischen Schiffe ergeben sich, und nach einigen Minuten sieht René den französischen Kapitän, der auf dem Deck eines der gegnerischen Schiffe steht und den Fuß auf die englische Fahne gesetzt hat.
Er hatte sich nicht getäuscht: Es war Surcouf.
Beide stießen einen Freudenruf und einen Triumphruf aus; ihre ausgestreckten Hände konnten sich noch nicht berühren, doch die Namen, mit denen die Freunde einander begrüßten, bewiesen, dass sie einander erkannt hatten.
Der Graf von Sainte-Hermine - Dumas, A: Graf von Sainte-Hermine - Le Chevalier de Sainte-Hermine
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