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Die Polizei des Citoyen Régnier und die Polizei
des Citoyen Fouché
Es war nach Mitternacht, als Réal und Murat den
Tuilerienpalast verließen. Der Verurteilte sollte erst um sieben
Uhr morgens füsiliert werden. Um ihn aufzusuchen, hatte Murat eine
prunkvolle Abendgesellschaft verlassen müssen, die er zufällig an
diesem Abend gab und bei der sich zu zeigen er nicht umhinkonnte.
Er überließ es daher Réal, den Gefangenen aufzusuchen; seine
Aufgabe hatte er erfüllt, er hatte den Ersten Konsul informiert,
und der Erste Konsul hatte die Sache demjenigen übergeben, den sie
von Rechts wegen betraf, nämlich dem Oberrichter.
Réal dachte sich, es werde genügen, den Gefangenen
zwei Stunden vor der Hinrichtung zu besuchen; sollten die
Enthüllungen einen Aufschub geraten sein lassen, wäre dafür immer
noch genug Zeit; wären sie wertlos, würde die Hinrichtung ihren
Verlauf nehmen.
Als jemand, der es gewohnt war, die Eindrücke und
Empfindungen anderer zu beeinflussen, dachte er sich zudem, dass
der Anblick des militärischen Gepränges, das mit Anbruch des
Tageslichts um das Gefängnis herum entfaltet werden würde, dem Mut
des Gefangenen den Todesstoß versetzen und den Bedauernswerten zu
einem lückenlosen Geständnis bewegen musste.
Bedenkt man die Verfassung des unglücklichen
Verschwörers, als dieser Murat durch den Arzt ausrichten ließ, er
habe ihm Enthüllungen zu machen, wird man verstehen, dass dieser
Zustand sich zwangsläufig verschlechtert hatte, als keine Antwort
erfolgt war, der Gouverneur von Paris nicht von sich hatte hören
lassen.
In seiner völligen Verzweiflung war der
Bedauernswerte zu einem Geschöpf geworden, das kraftlos, zu jeder
Regung unfähig, wie ein Kind den Tod erwartete, seinen Todesängsten
und -qualen ausgeliefert. Die Augen
auf das Fenster gerichtet, aus dem man auf die Straße sah,
erwartete er zitternd die Strahlen des ersten Tageslichts.
Gegen fünf Uhr morgens zuckte er zusammen, als er
Räderrollen vernahm und ein Wagen vor dem Gefängnistor anhielt.
Kein Geräusch entging ihm, weder das Öffnen und schwerfällige
Schließen des Tores noch die Schritte im Flur; es waren die
Schritte von mehreren Personen; sie machten vor der Tür halt, und
der Schlüssel drehte sich klirrend im Schloss. Die Tür wurde
geöffnet. Ein Rest von Hoffnung ließ ihn den Blick auf den
Eintretenden richten; er hoffte, Murat in seinem prunkvollen Aufzug
zu erblicken, voller Federn und Goldstickerei unter seinem Umhang;
stattdessen erblickte er einen schwarz gekleideten Mann, der ihm
trotz seiner sanften und ehrlichen Miene von finsteren Dingen zu
künden schien.
In Kandelabern an der Wand wurden Kerzen entzündet.
Réal sah sich um, denn er merkte, dass er sich nicht in einer
Kerkerzelle befand. In der Tat hatte man den Gefangenen in die
Kanzlei des Gerichtsschreibers gebracht, weil man um sein Leben zu
fürchten begonnen hatte.
Réal sah ein Bett, auf das der Verurteilte sich
hatte sinken lassen, ohne etwas abzulegen; dann richtete er den
Blick auf das Gesicht des Unglücklichen, der ihm die Hände
entgegenstreckte.
Réal machte ein Zeichen. Man ließ ihn allein mit
demjenigen, den er befragen wollte.
»Ich bin«, sagte er, »Oberrichter Réal. Sie haben
die Absicht bekundet, Enthüllungen zu machen, und ich bin gekommen,
um sie entgegenzunehmen.«
Der Mann, zu dem er sprach, wurde von einem so
heftigen Nervenzittern heimgesucht, dass er vergebens zu antworten
versuchte; seine Zähne klapperten, und auf seiner Miene zeigten
sich erschreckende Konvulsionen.
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Staatsrat zu ihm;
obwohl er es gewohnt war, mit Menschen zu tun zu haben, denen der
Tod bevorstand, hatte er noch nie jemanden erlebt, der sich so
schrecklich davor fürchtete. »Denken Sie, Sie können mir jetzt
antworten?«
»Ich will es versuchen«, erwiderte der
Unglückliche, »aber wozu? Wird es in zwei Stunden etwa nicht aus
und vorbei mit mir sein?«
»Es liegt nicht in meiner Macht, Ihnen etwas zu
versprechen«, sagte Réal, »doch falls sich das, was Sie mir zu
sagen haben, als so außergewöhnlich wichtig erweisen sollte, wie
Sie behaupten...«
»Ach! Beurteilen Sie es selbst!«, rief der
Gefangene. »Warten Sie, was wollen Sie wissen? Was wollen Sie von
mir erfahren? Leiten Sie mich, ich bin völlig kopflos.«
»Beruhigen Sie sich und antworten Sie auf meine
Fragen. Wie heißen Sie?«
»Querelle.«
»Was waren Sie?«
»Arzt.«
»Wo lebten Sie?«
»In Biville.«
»Nun gut; nun ist es an Ihnen, mir zu erzählen, was
Sie mir zu sagen haben.«
»Im Namen Gottes, vor dem ich mich zu verantworten
haben werde, schwöre ich, Ihnen die Wahrheit zu sagen, aber dennoch
werden Sie mir nicht glauben.«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, sagte Réal, »Sie
sind unschuldig, nicht wahr?«
»Ja, das schwöre ich Ihnen.«
Réal machte eine Handbewegung.
»Unschuldig an dem, was man mir zu Last legt«, fuhr
der Gefangene fort, »und ich hätte meine Unschuld beweisen
können.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Weil ich dann ein Alibi hätte nennen müssen, das
mich von der einen Tat losgesprochen und mich einer anderen
überführt hätte.«
»Sie haben also doch konspiriert?«
»Ja, aber nicht mit Picot und Lebourgeois. Ich
hatte nichts mit der Verschwörung um die Höllenmaschine zu tun, das
schwöre ich Ihnen. Zu jener Zeit war ich mit Georges Cadoudal in
England.«
»Und seit wann sind Sie in Frankreich?«
»Seit zwei Monaten.«
»Sie haben Georges also vor zwei Monaten
verlassen.«
»Ich habe ihn nicht verlassen.«
»Wie! Sie wollen ihn nicht verlassen haben? Aber
wenn Sie in Paris sind und er in England ist, dann müssen Sie ihn
ja wohl verlassen haben!«
»Georges ist mitnichten in England.«
»Wo ist er dann?«
»In Paris.«
Réal sprang von seinem Stuhl auf. »In Paris?«, rief
er. »Unmöglich!«
»Aber so ist es; wir sind zusammen hergekommen, und
ich habe noch am Tag vor meiner Verhaftung mit ihm
gesprochen.«
Georges befand sich also seit zwei Monaten in
Paris! Die Enthüllungen des Gefangenen waren noch weitaus
bedeutsamer, als man für möglich gehalten hätte.
»Und wie sind Sie nach Frankreich zurückgekommen?«,
fragte Réal.
Ȇber die Klippe von Biville. Es war an einem
Sonntag, eine kleine englische Slup hat uns dort abgesetzt; wir
wären um ein Haar ertrunken, weil der Seegang so heftig war.«
»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Réal, »das ist
alles weitaus wichtiger, als ich dachte, mein Lieber; versprechen
kann ich nichts, aber dennoch... Fahren Sie fort. Zu wie vielen
waren Sie?«
»Bei der ersten Landung waren wir neun.«
»Wie viele weitere Landungen sind erfolgt?«
»Drei.«
»Und wer hat Sie an Land empfangen?«
»Der Sohn eines Mannes, der das Gewerbe des
Uhrmachers ausübt; er hat uns zu einem Bauernhof geführt, dessen
Namen ich nicht weiß. Dort sind wir für drei Tage geblieben, und
dann haben wir uns von Hof zu Hof bis nach Paris geschlichen. Und
in Paris haben uns Freunde von Georges in Empfang genommen.«
»Wissen Sie deren Namen?«, fragte Réal.
»Ich kenne nur zwei von ihnen: den ehemaligen
Adjutanten Sol de Grisolles und einen gewissen Charles
d’Hozier.«
»Hatten Sie die beiden früher schon einmal
gesehen?«
»Ja, in London, ein Jahr zuvor.«
»Und was ist dann geschehen?«
»Die beiden Herren haben Georges in ein Kabriolett
steigen lassen, wir anderen haben die Stadt zu Fuß an verschiedenen
Schlagbäumen betreten. In zwei Monaten habe ich Georges nur dreimal
an verschiedenen Orten gesehen, und jedes Mal hat er mich rufen
lassen.«
»Und wo haben Sie ihn zum letzten Mal
getroffen?«
»Bei einem Weinhändler, dessen Laden an der Ecke
der Rue du Bac und der Rue de Varenne liegt. Ich hatte keine
dreißig Schritte auf der Straße getan, als ich verhaftet
wurde.«
»Haben Sie danach von ihm gehört?«
»Ja, er hat mir durch Fauconnier, den Kerkermeister
des Temple, hundert Francs übergeben lassen.«
»Glauben Sie, dass er sich noch immer in Paris
aufhält?«
»Ich bin mir sicher. Er wartete auf weitere
Landungen; ohnehin sollte nichts geschehen, bevor sich nicht ein
Prinz aus dem Hause Frankreich in Paris befand.«
»Ein Prinz aus dem Hause Frankreich!«, rief Réal.
»Haben Sie je den Namen dieses Prinzen zu hören bekommen?«
»Nein, Monsieur.«
»Gut«, sagte Réal und erhob sich.
»Monsieur«, rief der Gefangene und ergriff Réals
Hand, »ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, obwohl ich in den
Augen meiner Kameraden nun ein Verräter, ein Feigling, ein
Nichtswürdiger bin.«
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Oberrichter, »Sie
werden nicht sterben – wenigstens vorerst nicht. Ich werde
versuchen, den Ersten Konsul milde zu stimmen, doch Sie dürfen kein
Wort von dem, was Sie mir erzählt haben, weitersagen, niemandem,
sonst wären mir die Hände gebunden. Nehmen Sie dieses Geld, und
lassen Sie sich alles besorgen, was Sie benötigen, um wieder zu
Kräften zu kommen. Morgen werde ich wahrscheinlich
wiederkommen.«
»Oh, Monsieur!«, rief Querelle und warf sich vor
Réal auf die Knie. »Sind Sie sich dessen gewiss, dass ich nicht
sterben werde?«
»Ich kann es Ihnen nicht versprechen, aber wahren
Sie Schweigen und geben Sie die Hoffnung nicht auf.«
Allerdings war die Anweisung des Ersten Konsuls,
keinen Aufschub zu gewähren, so unmissverständlich gewesen, dass
Réal dem Gouverneur des Abbaye-Gefängnisses nicht mehr zu sagen
wagte als: »Verständigen Sie sich mit dem zuständigen Adjutanten
darüber, dass vor zehn Uhr vormittags nichts geschehen wird.«
Es war sechs Uhr morgens; Réal kannte Bonapartes
Anweisung, ihn nur für schlechte Nachrichten zu wecken und niemals
für gute.
Réal erwog die Nachricht, die er zu überbringen
hatte, entschied, dass sie eher schlecht sei als gut, und
beschloss, Bonapartes Nachtruhe zu beenden. Er begab sich sofort
zum Tuilerienpalast und ließ Constant wecken. Constant wiederum
weckte den Mamelucken, der vor Bonapartes Zimmertür schlief, seit
dieser ein eigenes Schlafzimmer hatte.
Der Mamelucke Rustan weckte den Ersten Konsul.
Bourrienne war in letzter Zeit bei seinem ehemaligen Kameraden von
der Militärakademie in Ungnade geraten und verfügte nicht mehr über
die einstigen Privilegien. Bonaparte ließ den Mamelucken zweimal
wiederholen, dass der
Oberrichter warte, und sagte dann, als er sicher war, dass Rustan
keinen Unsinn geredet hatte: »Lass Licht bringen und lass ihn
eintreten.«
Ein Kandelaber am Ende des Kaminsimses warf den
Schein seiner Kerzen auf das Bett des Ersten Konsuls.
»Réal, sind Sie es?«, fragte Bonaparte, als der
Oberrichter eintrat. »Die Sache ist also ernster, als wir erwartet
haben?«
»So ernst wie nur möglich, General.«
»Wie! Was soll das heißen?«
»Dass ich sehr sonderbare Dinge erfahren
habe.«
»Erzählen Sie«, sagte Bonaparte, der das Gesicht in
die Hand stützte und den Oberrichter aufmerksam ansah.
»Citoyen General«, sagte der Oberrichter, »Georges
befindet sich mitsamt seiner ganzen Bande in Paris.«
»Wie?«, sagte der Erste Konsul, der wähnte, sich
verhört zu haben.
Réal wiederholte seine Worte.
»Na, na, na!«, rief Bonaparte mit einer
Schulterbewegung, die er immer machte, wenn er ungläubig war. »Das
ist unmöglich!«
»Aber es ist wahr, General.«
»Dann ist es das, was dieser Brigant Fouché meinte,
als er mir gestern schrieb: ›Nehmen Sie sich in Acht, die Luft ist
voller Dolche.‹ Hier, da ist sein Brief. Ich hatte ihn auf den
Nachttisch gelegt und mir nicht weiter den Kopf darüber
zerbrochen.«
Er klingelte.
Constant trat ein.
»Rufen Sie Bourrienne«, sagte Bonaparte.
Man ging Bourrienne wecken, der herunterkam und auf
die Anweisungen des Ersten Konsuls wartete.
»Schreiben Sie«, sagte dieser, »Fouché und Régnier,
dass sie sich sofort einzufinden haben, um die Affäre Cadoudal zu
besprechen, und dass sie alles mitbringen sollen, was sie an
Unterlagen in dieser Sache haben; lassen Sie die beiden Depeschen
durch Ordonnanzen überbringen. Unterdessen wird Réal mir alles
erläutern.«
Réal blieb in der Tat bei Bonaparte und wiederholte
Wort für Wort, was Querelle ihm erzählt hatte: wie die Verschwörer
mit einer englischen Slup zu der Klippe von Biville gebracht worden
waren, wie sie von einem Uhrmacher aufgenommen worden waren, dessen
Namen Querelle nicht wusste, wie sie zu einem Bauernhof gebracht
worden und von Hof zu Hof nach Paris gelangt waren und wie Querelle
Cadoudal zum letzten Mal in
dem Haus gesehen hatte, das an der Ecke der Rue du Bac und der Rue
de Varenne lag. Nachdem er dem Ersten Konsul all diese Auskünfte
erteilt hatte, ersuchte er um die Erlaubnis, zu dem Unglücklichen
zurückzukehren, den er im Abbaye-Gefängnis in Todesangst
zurückgelassen hatte, und bat darum, der Bedeutung der Enthüllungen
wegen die Hinrichtung bis auf Weiteres aussetzen zu dürfen.
Diesmal war Bonaparte der gleichen Meinung wie Réal
und gestattete ihm, dem Gefangenen das Leben zu schenken und ihn
eventuell sogar zu begnadigen.
Réal ging und überließ Bonaparte seinem
Kammerdiener, während er Fouché und Régnier erwartete.
Fouchés Wohnung lag in der Rue du Bac, Régnier
wohnte näher und kam folglich als Erster.
Bonapartes Toilette war beendet. Als Régnier
eintraf, wanderte der Erste Konsul mit auf die Brust gesenktem Kopf
auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Stirn
gerunzelt.
»Ah, Régnier, da sind Sie ja«, sagte Bonaparte.
»Was sagten Sie gestern über Cadoudal?«
»Ich sagte Ihnen, Citoyen Erster Konsul, dass ich
einen Brief erhalten hatte, in dem es hieß, er befinde sich noch in
London und habe vor drei Tagen in Kingston bei dem Sekretär Mr.
Addingtons gespeist.«
In diesem Augenblick wurde Fouché
angekündigt.
»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte Bonaparte, dem es
nicht übel gefiel, seine zwei Polizeiminister miteinander zu
konfrontieren, den offiziellen und den inoffiziellen.
»Fouché«, sagte der Erste Konsul zu diesem, »ich
habe Sie holen lassen, damit Sie zwischen Régnier und mir
schlichten. Régnier behauptet, Cadoudal halte sich in London auf,
während ich behaupte, er befinde sich in Paris; wer von uns hat
recht?«
»Derjenige, dem ich gestern gesagt habe: ›Nehmen
Sie sich in Acht, die Luft ist voller Dolche!‹«
»Haben Sie gehört, Régnier? Ich bin es, dem Fouché
diesen Brief geschrieben hat, und ich bin es, der recht hat.«
Régnier zuckte die Schultern. »Würden Sie Monsieur
Fouché den Brief zeigen, den ich gestern aus London erhalten
habe?«
Bonaparte, der Régniers Brief in der Hand hielt,
reichte ihn Fouché.
Fouché las den Brief.
»Würde der Erste Konsul mir gestatten, ihm einen
Mann vorzuführen,
der zusammen mit Cadoudal aus London hergereist und mit ihm
zusammen nach Paris gekommen ist?«
»Ha! Weiß Gott!«, sagte Bonaparte. »Nur zu
gern!«
Fouché ging zu der Tür, die in das Vorzimmer
führte, und öffnete sie. Herein trat der Polizeispitzel Victor,
elegant gekleidet und mit dem Gehabe eines jener jungen Royalisten,
die aus echter Überzeugung oder lediglich der Mode wegen zu jener
Zeit gegen den Ersten Konsul konspirierten.
Victor verbeugte sich ehrerbietig und blieb neben
der Tür stehen.
»Wer ist denn das?«, fragte Bonaparte. »Und wie
kommt es, dass dieser Mann am Leben ist, wenn er wirklich mit
Cadoudal zusammenhergekommen ist?«
»Das kommt daher«, erwiderte Fouché, »dass er
derjenige unter meinen Männern ist, den ich beauftragt hatte,
Cadoudal in London zu überwachen und nie aus den Augen zu lassen.
Und um ihn nicht aus den Augen zu lassen, ist er ihm nach
Frankreich und dort bis nach Paris gefolgt.«
»Wie lange ist das her?«, fragte Bonaparte.
»Zwei Monate«, erwiderte Fouché. »Wenn Monsieur
Régnier meinen Agenten persönlich befragen möchte, wäre das eine
große Ehre für ihn.«
Régnier bedeutete dem Spitzel, näher zu treten;
Bonaparte musterte unterdessen den jungen Mann ungeniert. Der
Polizeispitzel war nach der letzten Mode gekleidet, weder zu
auffällig noch zu bieder; man hätte meinen können, er komme soeben
von einer Morgenvisite bei Madame Récamier oder Madame Tallien. Es
war ihm sogar anzusehen, dass er sich bemühte, sein gewohntes
schlaues und strahlendes Lächeln zu unterdrücken.
»Was haben Sie in London getan, Monsieur?«, fragte
Régnier.
»Ha, Citoyen Minister«, erwiderte der Spitzel, »ich
habe das getan, was dort alle tun, ich habe gegen den Citoyen
Erster Konsul konspiriert.«
»Zu welchem Zweck?«
»Selbstverständlich zu dem Zweck, von ihren
Hoheiten, den Prinzen, Monsieur Cadoudal empfohlen zu
werden.«
»Welche Prinzen meinen Sie?«
»Selbstverständlich die Prinzen aus dem Hause
Bourbon.«
»Und ist es Ihnen gelungen, Georges empfohlen zu
werden?«
»Seine Gnaden der Herzog von Berry waren so
freundlich, mir diese Ehre zu erweisen, Herr Minister. Und General
Georges hat mich für würdig
befunden, an der ersten Expedition teilzunehmen, die nach
Frankreich geschickt wurde, das heißt, einer der neun zu sein, die
ihn begleiteten.«
»Und wer waren die Übrigen?«
»Monsieur Coster Saint-Victor, Monsieur Burban,
Monsieur de Rivière, General Lajolais, ein gewisser Picot, nicht zu
verwechseln mit dem Picot, der füsiliert wurde, Monsieur Bouvet de
Lozier, Monsieur Damonville, ein gewisser Querelle, der gestern zum
Tode veruteilt wurde, meine Wenigkeit und schließlich Georges
Cadoudal.«
»Und wie sind Sie nach Frankreich gelangt?«
»Auf einer Slup unter dem Kommando von Kapitän
Wright.«
»Ha!«, rief Bonaparte. »Den kenne ich, das ist der
ehemalige Sekretär von Sidney Smith.«
»So ist es, General«, erwiderte Fouché.
»Es war sehr schlechtes Wetter«, fuhr der Spitzel
fort, »und wir erreichten den Fuß der Klippe von Biville bei Flut
und nur mit größter Mühe.«
»Wo liegt Biville?«, fragte Bonaparte.
»In der Nähe von Dieppe, General«, erwiderte
Fouché.
Bonaparte entging nicht, dass der Spitzel ihm nicht
unmittelbar antwortete, sondern sich mit einer für einen Mann
seines Schlages außergewöhnlichen Zurückhaltung damit begnügte,
sich zu verbeugen, während Fouché an seiner Stelle sprach. Diese
Bescheidenheit rührte ihn.
»Wenn ich Sie etwas frage«, sagte er, »können Sie
mir direkt antworten.«
Der Spitzel verbeugte sich abermals.
»Man setzte uns«, fuhr er fort, »am Fuß der Klippe
von Biville ab, die an dieser Stelle ungefähr zweihundertdreißig
Fuß hoch ist.«
»Und wie überwindet man so eine Klippe?«, fragte
Bonaparte.
»Selbstverständlich mit einem Seil vom Umfang eines
Schiffskabels! Man hält sich an dem Seil fest und stößt sich mit
den Füßen an der Klippe ab, die an der betreffenden Stelle wie ein
Kamin geformt ist. Hin und wieder hat das Seil Knoten, die einem
das Festhalten erleichtern, manchmal sogar hölzerne Querstreben,
auf denen man sich für einen Augenblick ausruhen kann wie ein
Papagei auf seiner Vogelstange. Ich kletterte als Erster hinauf,
gefolgt von Monsieur le Marquis de Rivière, General Lajolais,
Picot, Burban, Querelle, Bouvet, Damonville, Coster Saint-Victor
und zuletzt Georges Cadoudal.
Als wir etwa die Hälfte des Aufstiegs bezwungen
hatten, beklagten sich mehrere über die Anstrengung. ›Ich muss euch
warnen‹, sagte Georges,
›ich habe das Kabel hinter uns abgeschnitten.‹ Tatsächlich hörten
wir, wie das Kabel auf die Felsbrocken am Fuß des Abhangs
auftraf.
Wir hingen zwischen Himmel und Erde«, fuhr der
Spitzel fort, »und konnten nicht zurück; es hieß weitersteigen, bis
wir den Gipfel der Klippe erreichten. Zuletzt kamen wir ohne
Zwischenfälle oben an.
Ich muss gestehen, dass mich beim Berühren festen
Bodens unter den Füßen der Aufstieg, den wir soeben vollbracht
hatten, mit so großem Entsetzen erfüllte, dass ich mich auf den
Boden warf, denn ich befürchtete, von Schwindel ergriffen zu werden
und ins Leere zu stürzen, wenn ich mich aufrichtete.
Monsieur de Rivière war von zarter Konstitution und
mehr tot als lebendig; Coster Saint-Victor kletterte zu uns herauf
und pfiff eine Jagdmelodie, und Cadoudal schnaufte nach erfolgtem
Aufstieg laut und sagte: ›Für jemanden, der zweihundertunddreißig
Pfund wiegt, ist das kein Kinderspiel. ‹
Dann schnitt Cadoudal das Kabel von dem Pfosten, um
den es geschlungen gewesen war, und warf die zweite Hälfte zu der
ersten hinunter. Wir wollten wissen, warum er das tat, und er
antwortete, dieses Seil diene für gewöhnlich den Schmugglern und
irgendein armer Teufel hätte an dem Kabel hinunterklettern können,
ohne zu ahnen, dass es nur noch halb so lang war, so dass er am
Ende des Seils aus hundert Fuß Höhe zerschmettert worden
wäre.
Als Nächstes ahmte er den Ruf des Raben nach; man
antwortete mit dem Ruf der Schleiereule, und zwei Männer
erschienen. Sie waren unsere Führer.«
»Monsieur Fouché sagte, Georges habe auf der Reise
von Biville nach Paris bei Stationen haltgemacht, die eigens
vorbereitet worden waren. Ist Ihnen aufgefallen, um welche
Stationen es sich dabei gehandelt hat?«
»Allerdings, General. Ich habe Monsieur Fouché die
Liste der Stationen gegeben. Doch ich kann mich gut genug daran
erinnern, dass ich sie diktieren könnte, falls das Erfordernis
eintreten sollte.«
Bonaparte klingelte.
»Lassen Sie Savary rufen«, sagte er. »Er hat
Dienst.«
Savary kam.
»Setzen Sie sich dorthin«, sagte Bonaparte und wies
auf einen Tisch, »und schreiben Sie auf, was Monsieur Ihnen
diktieren wird.«
Savary setzte sich, griff zur Feder und schrieb
auf, was der Polizeispitzel ihm diktierte.
»Zuerst in etwa hundert Schritt Entfernung von der
Klippe ein Seemannsheim, das dazu bestimmt ist, jene, die auf ihr
Schiff oder auf Ankömmlinge warten, vor den Unbilden des Wetters zu
schützen. Von dort sind wir zur ersten Station aufgebrochen, nach
Guilmécourt, wo uns ein junger Mann namens Pageot de Pauly
aufgenommen hat; die zweite Station ist der Bauernhof de la
Potterie in der Gemeinde Saint-Rémy, geführt von dem Ehepaar
Détrimont; die dritte ist in Preuseville bei einem gewissen Loizel.
Gestatten Sie mir, Herr Oberst«, sagte der Polizeispitzel mit
seiner gewohnten Höflichkeit, »Sie darauf aufmerksam zu machen,
dass sich hier der Weg in drei unterschiedliche Routen verzweigt,
die alle drei nach Paris führen. Auf dem am weitesten links
verlaufenden Weg ist die vierte Station Aumale, bei einem gewissen
Monnier, die fünfte Feuquières bei einem gewissen Colliaux, die
sechste Monceau bei Leclerc, die siebte Auteuil bei Rigaud, die
achte Saint-Lubin bei Massignon und die neunte Saint-Leu-Taverny
bei Lamotte.
Wenn wir jetzt der mittleren Route folgen, ist die
vierte Station in Gaillefontaine bei der Witwe Le Seur, die fünfte
in Saint-Clair bei Sachez, die sechste in Gournay bei der Witwe
Cacqueray. Und die vierte Station der rechts verlaufenden Route ist
in Roncherolles bei Familie Gambu, die fünfte in Saint-Crespin bei
Bertengels, die sechste in Étrépagny bei Damonville, die siebte in
Vauréal bei Bouvet de Lozier und die achte in Eaubonne bei einem
gewissen Hyvonnet. Das war alles.«
»Savary, bewahren Sie diese Liste sorgfältig auf«,
sagte der Erste Konsul, »sie wird uns noch von Nutzen sein. Wohlan,
Régnier, was sagen Sie dazu?«
»Meiner Treu, dass meine Spitzel Dummköpfe sind
oder aber Monsieur ein überaus gewandter Spitzbube ist.«
»Von Ihnen, Herr Minister«, sagte der Spitzel mit
einer Verbeugung, »wäre das, was Sie sagten, höchstes Lob; doch ich
bin kein Spitzbube, sondern nur ein Mensch mit etwas ausgeprägterem
Scharfsinn, als andere ihn besitzen, und mit besonders großem
Vermögen, mich zu verwandeln.«
Bonaparte fragte: »Und was war mit Georges, seit er
in Paris ist?«
»Ich habe ihn in die drei oder vier Häuser
begleitet, in denen er seitdem gewohnt hat. Zuerst hat er in der
Rue de la Ferme eine Wohnung genommen, dann ist er in die Rue du
Bac umgezogen, wo er Querelle empfing, der verhaftet wurde, als er
das Haus verließ; und heute wohnt er unter dem Namen Larive in der
Rue de Chaillot.«
»Aber wenn Sie das alles gewusst haben, Monsieur,
und seit so Langem...«, sagte Régnier zu Fouché.
»Seit zwei Monaten«, erwiderte dieser.
»Aber warum haben Sie ihn dann nicht festnehmen
lassen?«
Fouché brach in Gelächter aus. »Oh! Verzeihen Sie,
Herr Justizminister«, sagte er, »aber solange ich nicht selbst
unter Anklage gestellt werde, habe ich nicht die Absicht, Ihnen
meine Berufsgeheimnisse zu verraten. Und das eben erwähnte
Geheimnis will ich für General Bonaparte aufbewahren.«
»Mein lieber Régnier«, sagte Bonaparte lachend,
»nach allem, was wir soeben vernommen haben, können Sie Ihren
Spitzel unbesorgt aus London zurückbeordern, wenn ich mich nicht
täusche. Als Justizminister, mein lieber Régnier, tragen Sie bitte
Sorge dafür, dass der arme Teufel, der gestern verurteilt wurde und
der uns die Wahrheit gesagt hat – das lässt sich nicht bestreiten,
denn seine Aussage stimmt mit den Worten Monsieurs überein« – wobei
Bonaparte auf den Spitzel deutete, dessen Aussage wir soeben
gelesen haben -, »nicht hingerichtet wird. Keine unumschränkte
Begnadigung, denn ich will sehen, wie er sich im Gefängnis
aufführt. Sie werden ihn im Auge behalten, und in sechs Monaten
berichten Sie mir, wie er sich betragen hat. Zuletzt, mein lieber
Régnier, möchte ich Ihnen mein Bedauern ausdrücken, dass ich Sie so
früh aus dem Bett holen ließ, obwohl Ihre Anwesenheit völlig
entbehrlich war. Bleiben Sie, Fouché.«
Der Polizeispitzel zog sich in den hinteren Teil
des Salons zurück, so dass der Erste Konsul und der eigentliche
Polizeipräfekt sich unbelauscht unterhalten konnten.
Bonaparte trat zu Fouché: »Sie sagten, Sie würden
mir enthüllen, warum Sie mir Cadoudals Anwesenheit in Paris bislang
verschwiegen haben.«
»In allererster Hinsicht, Citoyen Erster Konsul,
verschwieg ich es Ihnen, damit Sie nichts davon erfuhren.«
»Keine Scherze, bitte«, sagte Bonaparte und
runzelte die Stirn.
»Ich scherze keineswegs, Citoyen General, und ich
bedaure, dass Sie mich heute dazu genötigt haben, es Ihnen zu
sagen. Die Ehre, in Ihren näheren Kreis aufgenommen zu sein, hat
mich bewogen, Sie zu beobachten. Runzeln Sie nicht die Stirn! Zum
Teufel auch, das ist mein Beruf! Nun denn! Sie zählen zu jenen, die
sich ein Geheimnis durch ihre Zornesausbrüche ablesen lassen.
Solange Sie kühles Blut bewahren, steht nichts zu befürchten, denn
Sie sind so verschlossen wie eine Champagnerflasche,
doch sobald der Zorn Sie übermannt, explodiert die
Champagnerflasche, und alles schäumt über.«
»Monsieur Fouché«, sagte Bonaparte, »verzichten Sie
auf solche Vergleiche.«
»Und ich«, erwiderte Fouché, »verzichte auf weitere
vertrauliche Mitteilungen; gestatten Sie, dass ich mich
verabschiede.«
»Sachte, sachte«, sagte Bonaparte, »geraten wir
jetzt nicht in Streit. Ich will wissen, warum Sie Georges Cadoudal
nicht verhaften ließen.«
»Das wollen Sie wissen?«
»Unbedingt.«
»Und wenn ich meine persönliche Schlacht von Rivoli
verlieren sollte, dann werden Sie es mir nicht verübeln?«
»Nein.«
»Nun gut! Ich werde Ihnen ermöglichen, alle
Verschwörer mit ein und demselben Netz zu fangen. Ich will, dass
Sie sich als Erster Ihres wunderbaren Fischzugs rühmen können. Ich
habe Cadoudal nicht verhaften lassen, weil Pichegru erst seit
gestern in Paris weilt.«
»Wie? Pichegru weilt seit gestern in Paris?«
»In der Rue de l’Arcade, wenn es beliebt, denn er
konnte sich bisher noch nicht mit Moreau verständigen.«
»Mit Moreau!«, rief Bonaparte. »Sie müssen verrückt
sein! Haben Sie vergessen, dass die beiden bis aufs Messer
verfeindet sind?«
»Ach! Weil Moreau Pichegru denunziert hat, auf den
er eifersüchtig war! Denn Sie, Citoyen Erster Konsul, wissen besser
als jedermann sonst, dass Pichegru für seinen Bruder, den Abt, bei
dessen keineswegs freiwilliger Abreise nach Cayenne zum Begleichen
einer Schuld von sechshundert Francs Schwert und Epauletten
verkaufen musste, welche die Inschrift trugen: Schwert und
Epauletten des Siegers von Holland, und Sie wissen auch sehr
wohl, dass Pichegru von Monsieur dem Prinzen von Condé keineswegs
eine Million Francs erhalten hat. Noch besser wissen Sie, dass
Pichegru, der nie verheiratet war und folglich weder Frau noch
Kinder besitzt, sich in seinem Vertrag mit dem Prinzen von Condé
keine Rente von zweihunderttausend Francs für seine Witwe oder von
hunderttausend Francs für seine Kinder ausbedungen haben kann.
Solche schäbigen Verleumdungen benutzt die Regierung gegen einen
Mann, dessen sie sich entledigen will und der ihr so große Dienste
erwiesen hat, dass sie ihn nicht anders als mit Undank zu belohnen
weiß. Nun gut! Moreau hat um Verzeihung gebeten, und Pichegru ist
gestern eingetroffen, um ihm zu verzeihen.«
Als Bonaparte hörte, dass die zwei Männer, die er
für seine größten Feinde hielt, sich verständigt hatten, machte er
unwillkürlich das schnelle Kreuzeszeichen auf der Brust, das ihm
wie allen Korsen zutiefst vertraut war.
»Aber«, sagte er, »werden Sie mich von ihnen
befreien, sobald man sie sehen wird, sobald sie sich geeinigt haben
werden, sobald diese Dolche, von denen die Luft voll ist, auf mich
gerichtet sein werden? Werden Sie sie verhaften lassen?«
»Noch nicht.«
»Und worauf warten Sie noch, in drei Teufels
Namen?«
»Ich warte auf die Ankunft des Prinzen in
Paris.«
»Sie erwarten einen Prinzen?«
»Einen Prinzen aus dem Hause Bourbon.«
»Sie brauchen einen Prinzen, um mich zu
ermorden?«
»Wer hat behauptet, man wolle Sie ermorden?
Cadoudal hat immer gesagt, das würde er nie und nimmer tun.«
»Und was hat er dann mit dieser Höllenmaschine
bezweckt?«
»Er schwört bei Gott und allen Heiligen, dass er
mit diesem Teufelswerk nichts zu tun hatte.«
»Und was will er dann?«
»Sie besiegen.«
»Mich besiegen?«
»Warum nicht? Sie wollten sich neulich doch sogar
mit Moreau schlagen.«
»Aber Moreau ist Moreau, ein großer General, ein
Sieger; ich habe ihn den General der Rückzüge genannt, gewiss, aber
das war vor Hohenlinden. Und wie will er mich besiegen?«
»Irgendeines Abends, wenn Sie nach La Malmaison
oder nach Saint-Cloud zurückkehren, mit einer Eskorte von
fünfundzwanzig bis dreißig Mann, sollen fünfundzwanzig bis dreißig
Chouans unter Cadoudals Führung, bewaffnet wie Ihre Männer, Ihnen
den Weg versperren, Sie angreifen und töten.«
»Und wenn ich tot bin, was wollen sie dann?«
»Der Prinz, der dem Kampf beigewohnt haben wird,
ohne sich daran zu beteiligen, wird die Monarchie ausrufen; der
Graf von Provence, der in der ganzen Sache nicht einmal den kleinen
Finger gerührt hat, wird den Namen Ludwig XVIII. annehmen, sich auf
den Thron seiner Vorfahren setzen, und das wird es gewesen sein.
Sie werden als strahlender
Punkt in der Geschichte verbleiben, als eine Art Sonne, die wie
Saturn goldene Satelliten besitzt mit Namen wie Toulon, Montebello,
Arcoli, Rivoli, Lodi, die Pyramiden oder Marengo.«
»Lassen Sie die Scherze, Monsieur Fouché. Wer ist
der Prinz, der nach Frankreich kommen soll, um mein Erbe
anzutreten?«
»Ach, was das betrifft, muss ich zugeben, dass ich
nicht die geringste Ahnung habe. Seit etwa zehn Jahren erwartet man
diesen Prinzen, und er kommt und kommt nicht.
Man hat ihn zur Zeit der Vendée-Kriege erwartet,
aber er kam nicht. Man hat ihn bei Quiberon erwartet, er kam aber
nicht. Man erwartet ihn in Paris, und es ist anzunehmen, dass er
auch diesmal nicht kommen wird, nicht anders als in der Vendée und
bei Quiberon.«
»Nun gut«, sagte Bonaparte, »dann wollen wir ihn
erwarten. Fouché, Sie übernehmen die Verantwortung?«
»Für alles, was in Paris geschieht, vorausgesetzt,
Ihre Polizei pfuscht der meinen nicht ins Handwerk.«
»Abgemacht. Sie wissen, dass ich keine
Vorsichtsmaßnahmen treffe; es ist also Ihre Sache, mich zu
bewachen. Apropos: Vergessen Sie nicht, Ihrem Mann sechstausend
Francs Belohnung auszahlen zu lassen, und er soll nach Möglichkeit
Cadoudal im Auge behalten.«
»Seien Sie unbesorgt; falls er ihn aus dem Auge
verlöre, hätten wir immer noch zwei unfehlbare Mittel, ihn
wiederzufinden.«
»Und welche?«
»Moreau und Pichegru.«
Kaum war Fouché gegangen, ließ Bonaparte Savary
rufen.
»Savary«, sagte er zu seinem Adjutanten, »bringen
Sie mir das Verzeichnis der Individuen, die im Departement
Seine-Inférieure wegen Raubüberfällen auf die Eilpost und ähnlichen
Delikten gemeldet wurden.«
Seit der innere Frieden eingekehrt war, hatte die
Polizei alle Individuen erfasst, die sich zuvor am Bürgerkrieg
beteiligt hatten oder in jenen Gegenden auffällig geworden waren,
in denen die Kutschen der Eilpost überfallen wurden. Diese
Individuen waren in mehrere Kategorien aufgeteilt: 1. Anstifter, 2.
Täter, 3. Komplizen, 4. all jene, die einem Individuum der
vorgenannten Kategorien zur Flucht verholfen hatten.
Es galt nun, den Uhrmacher ausfindig zu machen, den
Querelle und Fouchés Spitzel erwähnt hatten. Über Fouchés Spitzel
hätte Bonaparte seinen Namen erfahren können, doch er wollte nicht
zeigen, dass ihm dieser Name wichtig war, damit Fouché nicht
erriet, was er im Schilde führte.
Fouchés Scharfsinn hatte Bonaparte kaum minder
gekränkt als Régniers Blindheit. Sich plötzlich einer Gefahr
ausgesetzt zu wissen, von der er nichts geahnt hatte, und durch den
Schild der Polizei vor dieser Gefahr geschützt worden zu sein, ohne
davon gewusst zu haben, das kam für einen Menschen von Bonapartes
Charakter und Tatkraft einer Demütigung gleich. Er hatte sich
täuschen lassen – nun, dann würde er jetzt umso klarer sehen! Und
deshalb ließ er sich von Savary die Liste der Verdächtigen im
Departement Seine-Inférieure bringen.
Schon bei ihrem ersten Blick auf das Verzeichnis
für Eu und Tréport sahen sie den Namen eines Uhrmachers Troche.
Vater Troche befand sich in Haft, und da er zu den
Hauptbeschuldigten zählte, war kaum damit zu rechnen, dass er den
Mund aufmachte. Doch es gab einen neunzehnjährigen Sohn, der über
die Landungen, die bereits stattgefunden hatten, und die noch
bevorstehenden sicherlich Bescheid wusste.
Bonaparte ließ telegraphisch anordnen, den Sohn
festzunehmen und auf schnellstem Weg nach Paris zu bringen; mit der
Eilpost konnte er am Tag nach seiner Verhaftung in Paris
sein.
Unterdessen war Réal in das Gefängnis
zurückgekehrt, wo er den Gefangenen in einem erbarmungswürdigen
Zustand vorgefunden hatte.
Bei Tagesanbruch, das heißt zwischen sechs und
sieben Uhr morgens, war die militärische Einheit, die den
Todeskandidaten zum Hinrichtungsplatz eskortieren und ihn dort
füsilieren sollte, eingetroffen und hatte Aufstellung bezogen. Der
Fiaker, der den Gefangenen befördern würde, stand vor der
Gefängnispforte mit offener Tür und heruntergelassenem
Trittbrett.
Der Gefangene, der sich wie gesagt in der Kanzlei
des Gerichtsschreibers befand, deren vergitterte Fenster auf die
Straße gingen, konnte von dort alle Vorbereitungen zu seiner
Erschießung mit ansehen – Vorbereitungen, die zweifellos weniger
erschreckend sind als die zum Guillotinieren, aber dennoch nicht
ohne Grauen.
Er hatte gesehen, dass die Ordonnanz, die den
Hinrichtungsbefehl abzuholen hatte, zum Gouverneur von Paris
geschickt worden war, und er sah, dass der zuständige Adjutant
bereits zu Pferde wartete, um die Hinrichtung anzuordnen und
durchzuführen, sobald die Ordonnanz mit dem Befehl zurückkehrte.
Die Dragoner, die ihm als Eskorte dienen würden, warteten ebenfalls
aufgereiht zu Pferde, und ihr Offizier hatte die Zügel seines
Pferdes an das Gitter des Fensters gebunden, aus dem er sah. In
diesem
schrecklichen Warten verbrachte er die Zeit von halb sieben bis um
neun Uhr morgens.
Nachdem er darauf gelauscht hatte, wie die Glocke
halbe Stunden und Viertelstunden schlug, vernahm er um neun Uhr
endlich das gleiche Räderrollen, das er um fünf Uhr gehört
hatte.
Ängstlich heftete sein Blick sich auf die Tür; sein
Ohr suchte die Geräusche im Flur aufzufangen, und die Gefühle, die
er vor Stunden empfunden hatte, ließen wieder sein Herz
klopfen.
Réal trat lächelnd ein.
»Oh, Sie würden nicht lächeln«, rief der
unglückliche Gefangene, warf sich vor ihm nieder, umschlang seine
Knie und preßte sie an seine Brust, »wenn ich zum Tode verurteilt
wäre!«
»Ich habe Ihnen nicht die Begnadigung versprochen«,
sagte Réal, »ich habe Ihnen einen Aufschub versprochen, und
Aufschub wird Ihnen gewährt, doch ich verspreche Ihnen, alles zu
tun, was in meiner Macht steht, um Ihr Leben zu retten.«
»Aber dann«, rief der Gefangene, »dann lassen Sie
diese Dragoner, diesen Fiaker, diese Soldaten entfernen, wenn ich
nicht vor Angst sterben soll. Meinetwegen sind sie hier, und
solange sie hier sind, kann ich nicht glauben, was Sie mir
sagen.«
Réal ließ den Gefängnisdirektor kommen. »Die
Hinrichtung ist aufgeschoben«, sagte er, »durch Ordre des Ersten
Konsuls. Bringen Sie Monsieur in eine Einzelzelle, und lassen Sie
ihn heute Abend in das Temple-Gefängnis überstellen.«
Querelle atmete auf. Im Temple befanden sich
Häftlinge mit langen Haftstrafen, aber keine zum Tode Verurteilten.
Das war die Bestätigung dessen, was Réal ihm gesagt hatte. Als
Nächstes sah er aus dem Fenster, von dem er den Blick nicht
abwenden konnte, dass das Trittbrett des Fiakers eingezogen und die
Tür geschlossen wurde, dann sah er, dass der Offizier sein Pferd
losband, es bestieg, an die Spitze seiner Männer ritt, und dann sah
er nichts mehr.
Im Übermaß seiner Freude war er ohnmächtig
geworden.
Der Arzt wurde gerufen und ließ den Gefangenen zur
Ader. Querelle kam wieder zu sich, wurde in Einzelhaft
untergebracht und wie befohlen am Abend in das Temple-Gefängnis
überführt.
Monsieur Réal war bei ihm geblieben, solange er
ohnmächtig war, und hatte bei seinem Erwachen das Versprechen
wiederholt, sich bei dem Ersten Konsul für ihn zu verwenden.