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Il Bizzarro
Saliceti und seine zwei Gäste kehrten in das
Kriegsministerium zurück. Saliceti hatte erraten, welchen Eindruck
René auf König Joseph gemacht hatte. Manhès hatten die wenigen
Worte beruhigt, die der König zu ihm gesagt hatte, nachdem René
gegangen war. Und der Händedruck zwischen Manhès und René hatte
genügt, Letzterem zu verstehen zu geben, was Ersterer ihm sagen
wollte.
Die Herzogin von Lavello erwartete ihren Vater und
die beiden Gäste im Salon.
Die Herzogin war eine ausnehmend hübsche Frau, noch
jung, und ihr Vater liebte sie abgöttisch. Als der Palast, in dem
das Kriegsministerium untergebracht war, im Jahr darauf einstürzte
und man befürchtete, die Herzogin könnte unter den Trümmern
begraben sein, wäre Saliceti fast gestorben, nicht wegen der
Verletzungen, die er selbst bei diesem Unglück erlitten hatte,
sondern aus Sorge um seine Tochter.
René wurde ihr vorgestellt, und als geschmackvolle,
elegante Frau erkannte sie sogleich die Eleganz und Weltgewandtheit
des jungen Mannes.
Man begab sich zu Tisch.
Saliceti hatte Wert darauf gelegt, en
famille zu speisen, um ungezwungen mit den neuen Gästen
plaudern zu können; aus René allein hätte er nicht viel
herausbekommen, denn er hatte erraten, wie ungern dieser von sich
sprach, ob aus Bescheidenheit oder aus Vorsicht; doch er hoffte,
Manhès gesprächiger über die Themen zu finden, zu denen René sich
ausschwieg.
Der sechste Gast war der erste Sekretär des
Ministers, Korse wie Saliceti.
Als das Gespräch lebhafter wurde, was immer erst
geschieht, wenn man bereits einige Zeit zu Tisch sitzt, sagte
Saliceti zu seinem jungen Gast: »Monsieur, unter welchem Namen
wollen Sie in Dienst treten? An Ihrer Stelle nähme ich den Namen
an, den Ihnen Ihr Freund Manhès verliehen hat: Graf Leo ist ein
schöner Name, nicht wahr, Tochter?«
»Vor allem, wenn Leo Löwe heißen soll, was ich
annehme«, erwiderte die Herzogin von Lavello.
»Ich werde ihn nicht annehmen, weil Leo Löwe heißt,
Madame, sondern weil er mir von einem Mann gegeben wurde, den ich
zuerst lieben und dann schätzen lernte; Ihre Exzellenz und Sie,
Madame, finden Gefallen an dem Namen, was ein weiterer Grund ist,
ihn zu behalten.«
»Und nun, mein lieber Gast«, sagte Saliceti,
»wollen wir versuchen, unsere Sache im Familienkreis zu regeln; wie
mein Freund Fouché Ihnen seinerzeit erklärt hat, dass es
Kaperschiffe und Schiffe der Kriegsmarine gibt, werde ich Ihnen nun
erklären, dass wir hier reguläre Truppen und Banditenjäger haben.
In den regulären Truppen gibt es nicht oft Gelegenheit, sich
auszuzeichnen und befördert zu werden. Bei den Banditenjägern
hingegen, deren Arbeit wesentlich gefährlicher ist als das normale
Kriegshandwerk, hat man zehnmal mehr Gelegenheit, Aufmerksamkeit zu
erregen. Major Hugo – wir sind unter uns, ich darf offen sprechen –
wurde trotz seines heldenmütigen Betragens in der Schlacht von
Caldiero nicht befördert, sondern blieb Major, weil man höheren
Ortes dazu neigt, nachtragend zu sein. Aber inzwischen hat er Fra
Diavolo zur Strecke gebracht, und es wird kein Monat vergehen, bis
er zum Oberst befördert sein wird.«
»Was sagen Sie dazu, Freund Manhès?«, fragte
René.
»Dass der Herr Minister Ihnen da einen
ausgezeichneten Rat gibt, sapperlot! – Oh, Verzeihung, Frau
Herzogin, ich bitte um Vergebung. Am liebsten bliebe ich hier, um
mit Ihnen zusammen auf die Jagd zu gehen.«
»Umso mehr«, sagte der Sekretär, »als ich Ihnen
einen prächtigen Banditen anbieten kann, neben dem ein Benincasa,
ein Taccone und ein Panzanera sich wie Taschendiebe ausnehmen, wenn
er so weitermacht wie bisher.«
»Haben Sie heute Depeschen erhalten?«, fragte
Saliceti.
»Ja, der Adjutant General Verdiers hat mir
geschrieben.«
»Und wie heißt Ihr Bandit?«, fragte der
Minister.
»Er ist noch nicht allzu bekannt, doch sein
Einstand in das Räubergewerbe gibt zu vermuten, dass er es bald
sein wird; er heißt Il Bizzarro; er ist noch jung, keine
fünfundzwanzig Jahre alt; man darf noch nicht zu viel von ihm
verlangen.«
»Seien Sie unbesorgt«, sagte Manhès, »das werden
wir schon selbst entscheiden.«
»Als Kind«, fuhr Salicetis Sekretär fort, »trat er
in den Dienst eines reichen Pächters, dessen Tochter er verführte;
das junge Paar war so unvorsichtig, die gegenseitige Neigung nicht
zu verbergen, der Argwohn der Brüder wurde geweckt, sie lauerten
dem Liebespaar auf, überraschten es in
einem Augenblick, in dem an der schuldhaften Liebe kein Zweifel
bleiben konnte -«
»Monsieur, Monsieur!«, sagte die Herzogin von
Lavello. »Nehmen Sie sich in Acht!«
»Aber Frau Herzogin«, erwiderte der Sekretär
lachend, »ich muss mich doch verständlich ausdrücken.«
»Das genügt, Robert«, sagte Saliceti.
»- an der schuldhaften Liebe kein Zweifel bleiben
konnte«, wiederholte der Sekretär hartnäckig, »durchbohrten den
Liebhaber mit Messerstichen und ließen ihn als tot auf einem
Misthaufen liegen. Gute Menschen, die vorbeikamen, sahen den
Leichnam, trugen ihn in die Dorfkirche, wo er bis zum nächsten
Morgen bleiben sollte, bis man die Totengebete über ihn gesprochen
haben würde.
Die Mörder dachten, sie hätten einen Toten liegen
lassen, und in der Tat hatte er im Sarg die Totengebete reglos über
sich ergehen lassen und darauf gewartet, dass die Nacht hereinbrach
und die des Gebetesprechens müden Priester aus der Kirche
vertrieb.
Die Priester verschwanden ausnahmslos in der
Überzeugung, dass sie nur noch den Deckel auf den Sarg nageln
mussten, bevor sie den armen Liebhaber in eine der offenen Gruben
in der Kirche senkten.
Doch kaum war der letzte Priester verschwunden,
öffnete der Tote zuerst ein Auge und dann das zweite, reckte den
Kopf aus dem Sarg und sah im Licht der Kerzen, die noch brannten,
dass die Kirche menschenleer war.
Zuerst wusste er nicht, was ihm widerfahren war und
wo er sich befand; doch das Blut, das an seinem Körper klebte, die
Schwäche, die der Blutverlust bewirkt hatte, und die schmerzenden
Wunden riefen ihm ins Gedächtnis, was geschehen war; er biss die
Zähne zusammen, stieg aus dem Sarg, verließ die Kirche und
schleppte sich in die Berge, das ewige Asyl all jener, die auf der
Flucht sind.
Dieser Prolog zu dem Drama, dessen ersten Akt ich
schildern werde, ereignete sich um das Jahr 1800; der Bizzarro, wie
der Held meiner Erzählung heißt, war damals keine neunzehn Jahre
alt.
Vier, fünf Jahre lang hörte niemand mehr von ihm;
als man den leeren Sarg vorgefunden hatte, war man der zutreffenden
Ansicht gewesen, dass er geflohen war. Man nahm an, er habe sich
einer Bande von Räubern und Mördern angeschlossen, die seit einigen
Jahren die Gegend von Soriano unsicher machte und die anlässlich
der zweiten französischen Invasion und der Ernennung Prinz Josephs
zum König von Neapel in aller
Bauernschläue beschlossen hatte, sich zu politischen Partisanen zu
erklären und sich unter das Banner der Bourbonen zu begeben.
Mut und Kaltblütigkeit des Bizzarro setzten ihn
bald bei seinen Gefährten in großes Ansehen. Er wurde zum Chef der
Bande ausersehen, und sobald er die unumschränkte Macht in Händen
hielt, schien ihm der Augenblick der Rache gekommen zu sein.
Eines Sonntags vor ungefähr einem halben Jahr war
die ganze Bewohnerschaft von Varano – so heißt das Dorf, in dem man
ihn als tot hatte liegen lassen -, die ganze Bewohnerschaft von
Varano und darunter die Familie seines früheren Herrn in ebenjener
Kirche versammelt, in der er eine so wenig heimelige Nacht
zugebracht hatte, als der Bizzarro mit seiner Bande die Kirche
betrat, zum Altar schritt, sich umdrehte und allen befahl, die
Kirche zu verlassen.
Die Menge hatte einen Augenblick lang verwirrt und
erschrocken gezaudert, doch sie gehorchte, als der Bizzarro seinen
Namen sagte und zu schießen drohte; er war bereits so berüchtigt,
dass niemand Widerstand leistete; alle stürzten zur Tür, und an den
Briganten zog eine stumme, verschreckte und zu Tode verängstigte
Menge vorbei.
Zwei Opfer erspähte der Bizzarro mitten unter den
Flüchtenden, zwei Söhne seines einstigen Herrn, Brüder seiner
Geliebten, zwei Rächer, die ihn mit Messerstichen traktiert
hatten.
Weniger glücklich als einst der Bizzarro, stürzten
die zwei armen Teufel tödlich getroffen zu Boden, um sich nie
wieder zu erheben; doch die Rechnung des Bizzarro war noch nicht
beglichen, denn sein ehemaliger Herr hatte fünf Söhne, seine
Tochter hatte fünf Brüder, und fünf, nicht zwei Rächer waren über
ihn hergefallen, so dass ihm noch drei Opfer fehlten.
Der Bizzarro durchsuchte mit seinen Leuten die
Kirche, und hinter dem Altar fand er die Gesuchten, die sich dort
versteckt hatten; er erstach sie mit eigener Hand, denn die Rache
wollte er ganz allein auskosten; doch zwei weitere Personen suchte
er noch immer, den Vater seiner Geliebten und die Geliebte
selbst.
Er eilte zum Haus des alten Mannes und fand diesen
krank im Bett vor, von seiner Tochter gepflegt. Diese erkannte
ihren einstigen Geliebten, ahnte, dass er gekommen war, um
schreckliche Rache zu üben, und warf sich zwischen ihn und ihren
Vater; doch der Bizzarro stieß sie weg, vollendete am Vater das
Massaker aller männlichen Familienmitglieder, entführte die in
seinen Armen ohnmächtig gewordene Geliebte, warf sie über sein
Pferd und ritt mit ihr in die Berge zurück.«
»Und was geschah mit ihr?«, fragte die Herzogin von
Lavello. »Hat man seither von ihr gehört?«
»Leider, Madame, muss ich zur Schande oder zur Ehre
Ihres Geschlechts – denn ich wüsste wahrhaftig nicht zu sagen,
welches von beiden zutrifft – Folgendes bemerken: Die Liebe war
stärker als die Blutsbande, sie hatte den Bizzarro als das Opfer
ihres Vaters und ihrer Brüder weitergeliebt, sie liebte ihn auch
als den Mörder ihres Vaters und ihrer Brüder, und da die Bande des
Bizzarro wie eine militärische Truppe geführt wird, sah man sie
seit jenem Tag zu Pferde und in Männerkleidung an seiner Seite, und
in dem unerbittlichen Partisanenkrieg hat sie eine Kühnheit und
einen Mut bewiesen, die sie ihrem Gefährten ebenbürtig
machen.«
»Und es war nicht möglich, dieses Elenden habhaft
zu werden?«, fragte die Herzogin.
»Auf seinen Kopf wurden zweitausend Dukaten
Belohnung ausgesetzt, Madame; doch bislang wagte kein Spitzel, ihn
zu verraten, und er ist allen Schlichen und Fallen entschlüpft, die
man gegen ihn ersonnen hat.«
»Wohlan, Graf Leo«, sagte Manhès, »an deiner Stelle
würde ich, zum Teufel auch, den Kopf des Bizzarro bekommen oder auf
meinen Namen verzichten.«
»Ich werde meinen Namen behalten«, sagte Leo, »und
seinen Kopf bekommen.«
»An diesem Tag«, sagte die Herzogin von Lavello,
»werde ich Sie meine Hand küssen lassen.«