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In welchem Kapitel Fouché daran arbeitet, in
das Polizeiministerium zurückzukehren, aus dem er noch nicht
ausgeschieden ist
Fouché verließ den Tuilerienpalast zornentbrannt.
Er war ein kluger Kopf, aber ein kluger Kopf mit begrenztem
Wirkungsfeld. Ohne seine Polizei war Fouché nur von zweitrangiger
Bedeutung.
Er hatte ein nervöses, reizbares, ängstliches
Naturell, und die Natur schien ihm schielende Augen und große Ohren
verliehen zu haben, damit er gleichzeitig in verschiedene
Richtungen sehen und in alle Richtungen lauschen konnte. Bonaparte
hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen: Indem er die
Polizei verlor, verlor er die Oberaufsicht über das Glücksspiel,
die ihm jährlich mehr als zweihunderttausend Francs einbrachte.
Unvorstellbar reich, hatte Fouché nur eines im Sinn, nämlich das
Vermögen zu mehren, das zu genießen ihm nicht gegeben war, und sein
Ehrgeiz, die Grenzen seines Landbesitzes in Pontcarré zu weiten,
war kaum geringer als Bonapartes Ehrgeiz, Frankreichs Grenzen weit
in das Ausland zu versetzen.
Er ging nach Hause, begab sich in sein Kabinett und
warf sich in seinen Sessel, ohne mit einer Menschenseele ein Wort
gewechselt zu haben. Seine Gesichtsmuskeln bebten wie die
Meeresoberfläche bei Sturm. Nach einigen Minuten glätteten sich
seine Züge: Fouché war der Einfall gekommen, den er gesucht hatte,
und das matte Lächeln, das auf seine Züge trat, verriet, dass
zumindest Windstille eingekehrt war, wenngleich das schöne Wetter
noch auf sich warten ließ.
Er ergriff die Klingelschnur über seinem
Schreibtisch und zog daran mit noch leicht bebender Hand.
Der Bürodiener erschien.
»Monsieur Dubois!«, rief Fouché.
Der Bürodiener machte eine Kehrtwendung und
verschwand.
Unmittelbar darauf wurde die Tür geöffnet, und
Dubois trat ein.
Dubois war ein Mann mit sanften, ruhigen Zügen und
mildem Lächeln, alles andere als modisch gekleidet, aber mit
größter Reinlichkeit, wie die weiße Krawatte und die Manschetten
bezeigten.
Er trat näher, wobei er sich leicht in den Hüften
wiegte und wie ein Tanzlehrer mit den Schuhsohlen über den Teppich
glitt.
»Monsieur Dubois«, sagte Fouché, der sich in seinem
Sessel zurücklehnte, »heute bin ich auf all Ihre Intelligenz und
all Ihre Verschwiegenheit angewiesen.«
»Ich kann dem Herrn Minister allein meine
Verschwiegenheit zusichern«, sagte Dubois. »Der Wert meiner
Intelligenz bemisst sich nur in Abhängigkeit von der Ihren.«
»Schon gut, schon gut, Monsieur Dubois«, sagte
Fouché etwas gereizt. »Keine Komplimente. Haben Sie in Ihrer
Behörde einen Mann, dem man vertrauen kann?«
»Zuerst müsste ich wissen, wofür er benötigt
wird.«
»Das ist wahr. Er soll in die Bretagne fahren und
dort drei Banden von Fußbrennern ins Leben rufen: Eine, die
wichtigste, soll auf der Straße von Vannes nach Muzillac operieren;
die zwei anderen kann er einrichten, wo er will.«
»Ich höre«, sagte Dubois, als er sah, dass Fouché
innehielt.
»Die eine soll sich ›Cadoudals Bande‹ nennen und so
tun, als wäre Cadoudal selbst ihr Anführer.«
»Nach dem, was Eure Exzellenz mir sagen -«
»Dieses eine Mal lasse ich es durchgehen«, rief
Fouché lachend, »insbesondere Sie mich nicht mehr lange so nennen
können.«
Dubois verneigte sich, und als Fouché ihn mit einer
Geste dazu aufforderte, fuhr er fort: »Nach dem, was Eure Exzellenz
mir sagen, wird ein Mann gebraucht, der notfalls im zerstreuten
Gefecht kämpft.«
»Der notfalls alles tut.«
Monsieur Dubois überlegte und schüttelte dann den
Kopf. »So jemanden habe ich nicht unter meinen Leuten«, befand
er.
Als Fouché verärgert eine Handbewegung machte,
sagte er: »Warten
Sie, warten Sie einen Augenblick. Gestern hat sich mir ein
gewisser Chevalier de Mahalin vorgestellt, ein Bursche, der bei den
Compagnons de Jéhu war und den es nur nach einer Sache gelüstet,
wie er behauptet, nämlich nach gefährlichen Aufträgen, die
gut bezahlt sind. Ein Spieler in der ganzen Bedeutung des Wortes,
bereit, sein Leben wie sein Geld auf einen Würfelwurf zu setzen.
Das ist unser Mann.«
»Haben Sie seine Adresse?«
»Nein; doch er kommt heute zwischen ein und zwei
Uhr in mein Büro, und jetzt ist es eins. Er ist entweder schon dort
oder wird bald eintreffen.«
»Dann holen Sie ihn und bringen Sie ihn her.«
Als Monsieur Dubois gegangen war, stand Fouché auf
und holte einen Karton, dem er ein Dossier entnahm, das er auf
seinen Schreibtisch legte.
Es war das Dossier über Pichegru.
Er studierte es mit größter Aufmerksamkeit, bis
Monsieur Dubois in Begleitung des Mannes, über den sie gesprochen
hatten, zurückkam.
Es war derselbe, der Hector de Sainte-Hermine an
sein feierliches Gelöbnis erinnert und ihn in Laurents Bande
eingeführt hatte. Als ihm dort die Arbeit ausgegangen war, hatte
sich der wackere Edelmann anderswo nach Betätigung umgesehen.
Er mochte zwischen fünfundzwanzig und dreißig
Jahren zählen, war von angenehmem Äußeren, mehr schön als hässlich,
mit gewinnendem Lächeln, und man hätte ihn für durch und durch
einnehmend halten können, wäre in seinen Augen nicht etwas
Verstörendes, Beunruhigendes gewesen, das sich dem Gemüt jener, die
mit ihm zu tun hatten, sogleich mitteilte. Im Übrigen war er nach
der Mode der Zeit gekleidet, nicht schlicht, sondern eher
elegant.
Fouché maß ihn mit dem Blick, mit dem er einen
Menschen moralisch einzuschätzen pflegte. In diesem Mann erriet er
die Liebe zum Geld, Mut in der Verteidigung, weniger beim Angriff,
und den unbezähmbaren Willen, in seinen Unternehmungen erfolgreich
zu sein.
Das war der Mann, den er suchte.
»Monsieur«, sagte Fouché, »man hat mir
hinterbracht, Sie wollten in die Dienste der Regierung eintreten.
Ist das wahr?«
»Es ist mein größter Wunsch.«
»Und in welcher Funktion?«
»In jeder Funktion, in der es Schläge zu kassieren
und Geld einzustecken gibt.«
»Kennen Sie die Bretagne und die Vendée?«
»In- und auswendig. Ich war dreimal zu General
Cadoudal entsendet.«
»Hatten Sie mit den anderen Anführern zu
tun?«
»Mit einigen, vor allem mit einem Leutnant
Cadoudals, den man seiner Ähnlichkeit mit dem General wegen Georges
II. nannte.«
»Ei der Teufel!«, sagte Fouché. »Der könnte uns
sehr nützlich sein. Trauen Sie sich zu, drei Banden von jeweils
zwanzig Mann aufzustellen?«
»In einem Land, dessen Gemüter noch vom Bürgerkrieg
erhitzt sind, kann man jederzeit drei Banden von je sechzig Mann
aufstellen. Geht es um einen Zweck, den man offenbaren kann, werden
die braven Bürger Ihnen Ihre sechzig Mann stellen, und Sie werden
nicht viel mehr dafür benötigen als schöne Worte und hochtrabendes
Gerede. Wenn es um einen etwas trüberen Zweck geht, werden Sie
dafür weniger reine Gewissen und käufliche Arme finden, doch die
sind natürlich kostspieliger.«
Fouché bedachte Dubois mit einem Blick, der
bedeutete: »Mein Lieber, da haben Sie einen prächtigen Fund getan«,
und zu dem Chevalier sagte er: »Monsieur, innerhalb von zehn Tagen
benötigen wir drei Banden von Fußbrennern, zwei im Morbihan, eine
in der Vendée, und alle drei sollen in Cadoudals Namen tätig
werden. In einer von ihnen soll ein Maskierter sich Cadoudal nennen
und so tun, als wäre er der ehemalige bretonische Anführer.«
»Nicht weiter schwierig, aber teuer, wie ich
bereits sagte.«
»Genügen fünfzigtausend Francs?«
»O ja, das ist mehr als genug.«
»Dann wäre das geklärt; wenn Sie Ihre drei Banden
auf die Beine gestellt haben, könnten Sie dann nach England
gehen?«
»Nichts leichter als das, wenn man bedenkt, dass
ich englischer Herkunft bin und Englisch wie meine Muttersprache
spreche.«
»Kennen Sie Pichegru?«
»Dem Namen nach.«
»Haben Sie Mittel und Wege, sich mit ihm bekannt zu
machen?«
»Ja.«
»Wenn ich Sie frage, welche Mittel -«
»Würde ich es Ihnen nicht sagen; auch ich muss
meine Geheimnisse haben, sonst wäre ich wertlos für Sie.«
»Sie haben recht. Sie werden nach England reisen,
Sie werden Pichegru auf den Zahn fühlen und in Erfahrung bringen,
ob er gegebenenfalls nach Paris zurückkehren würde; wenn er es
wollte und Geld benötigen sollte,
können Sie es ihm im Namen von Fauche-Borel anbieten; merken Sie
sich diesen Namen.«
»Der Name des Schweizer Buchhändlers, der ihm schon
im Auftrag des Prinzen von Condé Avancen gemacht hat, ich kenne
ihn; und wenn er Geld benötigen und nach Paris kommen wollen
sollte, an wen habe ich mich dann zu wenden?«
»An Monsieur Fouché auf seinem Landsitz in
Pontcarré, merken Sie sich das gut; auf keinen Fall an den
Polizeiminister.«
»Und dann?«
»Dann kehren Sie nach Paris zurück, wo Sie weitere
Anweisungen erhalten werden. Monsieur Dubois, Sie zahlen dem
Chevalier fünfzigtausend Francs aus. Und noch etwas,
Chevalier.«
Der Chevalier drehte sich um.
»Wenn Sie Coster Saint-Victor begegnen sollten,
bringen Sie ihn dazu, nach Paris zurückzukehren.«
»Droht ihm nicht die Verhaftung?«
»Nein, es wird ihm alles erlassen werden, das
dürfen Sie mir glauben.«
»Was soll ich ihm sagen, um ihn zu
überzeugen?«
»Dass alle Frauen von Paris ihm nachtrauern und
ganz besonders Mademoiselle Aurélie de Saint-Amour; sagen Sie ihm
außerdem, seine galante Karriere wäre unvollständig, wenn er nach
Barras nicht auch den Ersten Konsul zum Rivalen gehabt hätte. Das
wird ihn dazu bewegen, herzukommen, es sei denn, heilige Bande
hielten ihn in London fest.«
Als die Tür geschlossen war, ließ Fouché durch eine
Ordonnanz folgenden Brief zu Dr. Cabanis bringen:
Am Tag darauf fand sich Madame de Sourdis in besagter Absicht im
Tuilerienpalast ein und stieß auf eine vor Freude jubilierende
Joséphine und eine in Tränen aufgelöste Hortense.
Mein lieber Doktor,
der Erste Konsul, den ich bei Madame Bonaparte
sah, hat äußerst wohlwollend das Begehren der Madame de Sourdis
hinsichtlich der Heirat ihrer Tochter aufgenommen, und er schenkt
dieser Heirat seine volle Zustimmung.
Unsere liebe Schwester kann Madame Bonaparte den
fraglichen Besuch machen, je eher, desto besser.
Seien Sie meiner aufrichtigen Freundschaft
versichert, lieber Freund
IHR J. FOUCHÉ
Hortenses und Louis Bonapartes Heirat war so gut
wie beschlossen, und das war der Grund für Hortenses Kummer und
Joséphines Freude.
Was war geschehen?
Als Joséphine aus Bonapartes Gebaren erraten hatte,
dass er aus unerfindlichen Gründen guter Laune war, ließ sie ihn
bitten, nach seiner Rückkehr vom Staatsrat zu ihr zu kommen.
Doch bei seiner Rückkehr hatte der Erste Konsul
Cambacérès vorgefunden, der auf ihn wartete, um ihm Erklärungen zu
einigen Punkten des Code Napoléon zu geben, die ihm noch nicht klar
genug erschienen.
Sie hatten bis spät in die Nacht gearbeitet, und
dann war Junot gekommen, um Bonaparte seine Hochzeit mit
Mademoiselle de Permon zu melden.
Diese Heirat stimmte den Ersten Konsul nicht
annähernd so zufrieden wie die der Mademoiselle de Sourdis. Zum
einen war er früher einmal in Madame de Permon verliebt gewesen und
hatte beabsichtigt, sie zu heiraten; Madame de Permon hatte seinen
Antrag abgelehnt, und das hatte er ihr nie ganz verziehen; zum
anderen hatte er Junot empfohlen, eine reiche Erbin zu ehelichen,
und stattdessen hatte Junot die Tochter eines Bankrotteurs gewählt.
Die Mutter entstammte einem alten byzantinischen
Herrschergeschlecht, und das junge Mädchen, das Bonaparte
vertraulich Loulou nannte, war eine Comnène, doch seine Mitgift
betrug nicht mehr als fünfundzwanzigtausend Francs.
Bonaparte sagte Junot zu, ihm mit hunderttausend
Francs unter die Arme zu greifen. Als Gouverneur von Paris würde er
Einkünfte in Höhe von fünfhunderttausend Francs beziehen. Damit
musste er auskommen.
Joséphine hatte den ganzen Abend ungeduldig auf
ihren Ehemann gewartet, doch dieser hatte mit Junot gespeist und
war mit ihm ausgegangen. Um Mitternacht sah sie ihn im Schlafrock
und mit einem Seidentuch auf dem Kopf eintreten, was bedeutete,
dass er erst am nächsten Morgen in sein Zimmer zurückgehen würde,
und die Freude, die sie bezeigte, verriet, dass sie für ihr langes
Warten entschädigt werden würde.
Während solcher nächtlichen Besuche erlangte
Joséphine all ihren Einfluss auf Bonaparte wieder.
Nie zuvor hatte sie die Heirat Hortenses mit Louis
Bonaparte hartnäckiger
verlangt, und als der Erste Konsul zurück in seine Räume ging,
hatte er so gut wie eingewilligt.
Joséphine hielt Madame de Sourdis zurück, um ihr
eingehend von ihrem Glück zu berichten; Claire schickte sie zu
Hortense, damit sie diese tröstete.
Claire versuchte gar nicht erst, Trost anzubieten,
denn sie wusste nur zu gut, was es sie gekostet hätte, auf Hector
zu verzichten.
Sie weinte mit Hortense und riet ihr zu, sich an
den Ersten Konsul zu wenden, der sie gewiss zu sehr liebte, um sie
in ihr Unglück zu stürzen.
Mit einem Mal kam Hortense ein eigenartiger
Gedanke, den sie ihrer Freundin mitteilte – der Gedanke, mit der
Erlaubnis ihrer beiden Mütter Mademoiselle Lenormand zu
befragen.
Joséphine hatte sie seinerzeit aufgesucht, und es
ist bekannt, was sie ihr geweissagt hat.
Und nun wollte Hortense erfahren, ob ihr Traum
Wirklichkeit werden würde.
Mademoiselle de Sourdis wurde mit der Aufgabe
betraut, den Wunsch der beiden vorzutragen und die Erlaubnis zu
erwirken, ihn in die Tat umzusetzen.
Die Verhandlungen dauerten lange. Hortense lauschte
an der Tür und unterdrückte ihr Schluchzen.
Claire kam freudig zurück: die Erlaubnis war
erteilt, allerdings unter der Bedingung, dass Mademoiselle Louise,
Madame Bonapartes erste Kammerfrau, die deren ungeteiltes Vertrauen
genoss, den beiden jungen Damen nicht von der Seite wich.
Mademoiselle Louise wurde geholt und mit strengsten
Instruktionen versehen. Sie gelobte hoch und heilig, sich daran zu
halten, und die jungen Damen bestiegen tiefverschleiert den
unauffälligen Wagen ohne Wappen, den Madame de Sourdis für ihre
Vormittagsbesuche zu benutzen pflegte.
Der Kutscher wurde angewiesen, vor dem Haus Nummer
sechs in der Rue de Tournon zu halten, ohne dass man ihm einen
Namen nannte.
Mademoiselle Louise stieg wie angewiesen als Erste
aus; sie wusste, dass Mademoiselle Lenormand am Ende des Hofs
wohnte, dass man dort drei Stufen die Treppe hinaufgehen und dann
an der rechten Tür klopfen musste.
Sie klingelte, man öffnete, ließ sie eintreten und
führte sie auf Mademoiselle Louises Bitte in einen kleinen Raum,
der normalerweise den Besuchern nicht zugänglich war.
Die jungen Mädchen wurden aufgefordert,
nacheinander einzutreten, in der Reihenfolge der ersten Buchstaben
ihres Nachnamens, denn Mademoiselle Lenormand wurde nie in
Anwesenheit mehrerer Personen tätig.
So kam es, dass Hortense Beaumarchais die Erste
war.
Nach einer halben Stunde des Wartens wurde sie
vorgelassen.
Mademoiselle Louise war schrecklich nervös, da man
ihr eingeschärft hatte, keines der jungen Mädchen aus den Augen zu
lassen. Blieb sie bei Claire, entwischte ihr Hortense. Begleitete
sie Hortense, entzog sich Claire ihrer Aufsicht.
Die Frage war so wichtig, dass man sie mit
Mademoiselle Lenormand erörterte, die einen Vorschlag hatte, wie
alles unter einen Hut gebracht werden konnte.
Mademoiselle Louise blieb bei Claire, doch die Tür
zu dem Kabinett wurde nicht geschlossen, so dass Hortense sichtbar
blieb, gleichzeitig aber weit genug von ihren Begleiterinnen
entfernt war, dass diese die leise gemurmelten Worte der Seherin
nicht vernehmen konnten.
Selbstverständlich hatte Hortense darum gebeten,
dass alle Tarotkarten gelegt wurden.
Was Mademoiselle Lenormand in ihren Karten sah,
schien sie stark zu beeindrucken; ihre Gesten und ihr
Gesichtsausdruck kündeten von wachsendem Erstaunen.
Als sie ihre Karten abgelegt und sich die
Handfläche des jungen Mädchens genau angesehen hatte, erhob sie
sich und sagte nachdrücklich einen einzigen Satz zu Hortense, den
diese mit sichtlich ungläubiger Miene vernahm.
Auf alle weiteren Fragen Hortenses blieb die Pythia
stumm und sagte nur die Worte: »Das Orakel hat gesprochen, glauben
Sie dem Orakel!«
Dann bedeutete sie ihr mit einer Handbewegung, dass
sie gehen und ihrer Freundin Platz machen solle.
Obwohl Mademoiselle de Beauharnais die Idee gehabt
hatte, Mademoiselle Lenormand aufzusuchen, war Claire durch das,
was sie mit angesehen hatte, fast ebenso neugierig geworden wie
ihre Freundin, und sie ließ sich nicht zweimal bitten, das
Allerheiligste der Prophetin zu betreten.
Doch dass ihr Schicksal Mademoiselle Lenormand
nicht weniger erstaunen würde als das ihrer Freundin Hortense,
damit hatte Claire nicht gerechnet.
Mit der Sicherheit einer Frau, die weiß, was sie
tut, und die zögert, etwas
zu sagen, was völlig unwahrscheinlich klingt, mischte Mademoiselle
Lenormand ihre Karten dreimal neu, betrachtete die rechte
Handfläche und dann die linke, entdeckte beide Male die Linie des
gebrochenen Herzens, die Glückslinie, die bis zur Herzlinie
verläuft und sich bei Saturn verzweigt, und dann sprach sie so
feierlich, wie sie Mademoiselle de Beauharnais geweissagt hatte,
ihr Orakel für Mademoiselle de Sourdis, die daraufhin totenbleich
und mit tränennassen Augen zu Mademoiselle Louise und Hortense
zurückkehrte.
Solange sie unter dem Dach Mademoiselle Lenormands
weilten, hatten die jungen Mädchen kein Wort gesagt und einander
keine Fragen gestellt. Man hätte meinen können, sie fürchteten, ein
Wort oder eine Frage müssten das Haus unweigerlich zum Einsturz
bringen.
Doch sobald sie im Wagen saßen und der Kutscher
seine Pferde lostraben ließ, fragten beide wie aus einem Mund: »Was
hat sie Ihnen gesagt?«
Hortense, die als Erste bei der Seherin gewesen
war, antwortete zuerst. »Sie hat gesagt: ›Du wirst die Frau eines
Königs und die Mutter eines Kaisers, und du wirst im Exil sterben.‹
Und was hat sie dir gesagt?«, fragte sie neugierig.
»Sie hat gesagt: ›Du wirst vierzehn Jahre lang die
Witwe eines Lebenden sein und dein restliches Leben lang die Gattin
eines Toten!‹«