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Auf See
Sobald die Flüchtlinge über den Kutter verfügen
konnten, war es ihre erste Sorge, ihn genau zu untersuchen, um sich
seiner Ausstattung zu vergewissern. Er war mit Torf beladen und
führte daneben nichts mit als hundert Erdäpfel, acht Kohlköpfe,
zwei Fässchen Butter und zehn bis zwölf Wasserflaschen sowie ein
völlig zerfetztes Großsegel, einen kaum besseren Klüver und ein
noch übleres Vorstagsegel.
Unter Wahrung größter Sparsamkeit hatte man für
allerhöchstens sechs Tage Lebensmittel an Bord; Brot gab es keines,
weder an Bord noch im Haus der ursprünglichen Schiffseigner, denn
das war und ist die Regel in Irland.
»Nun gut«, sagte René, »ich glaube, wir täten gut
daran, uns sofort auf Diät zu setzen; gestern haben wir üppig zu
Abend gespeist, heute Morgen haben wir gut gefrühstückt, und vor
dem heutigen Abend müssen wir nichts zu uns nehmen.«
»Hmm, hmm«, ließen sich vereinzelte Stimmen
vernehmen.
»Nichts da«, sagte René, »reißt euch zusammen, und
über eine Sache wollen wir uns im Klaren sein: Keiner von uns wird
vor acht Uhr abends Hunger haben.«
»Einverstanden«, sagte der Ire, »keiner von uns
wird vor acht Uhr Hunger haben; und wer dennoch Hunger hat, wird
sich den Bauch halten oder ein Schläfchen machen; wer schläft, kann
vom Essen träumen.«
»Hoppla!«, sagte ein Matrose. »Finden Sie nicht,
dass es im Augenblick am dringlichsten wäre, Feuer zu
machen?«
»Ha«, sagte Sullivan, »an Torf wird es uns dafür
jedenfalls nicht mangeln; die Sonne hat sich verkrochen und will
offenbar nicht wiederkommen, es schneit unentwegt, was uns Wasser
verschaffen wird, sofern wir den Schnee auffangen können, doch
warum sollten wir uns nicht ein bisschen aufwärmen?«
Ein Kohlenbecken wurde angezündet, das man Tag und
Nacht unterhielt.
Die Nachtkälte ist im Januar und im Februar an der
englischen Küste und im Ärmelkanal geradezu unerträglich, und in
diesem Fall ging es nicht nur um die Kälte, sondern auch um die
Orientierung für die Navigation. Einen Kompass gab es, doch er war
alt und verrostet, so dass man auf gröbste Fehlanzeigen gefaßt sein
musste. Vergebens hatte man nach einem Log gesucht, um den
zurückgelegten Weg zu messen; keine Instrumente halfen erkennen,
mit welchem Wind man gefahren war oder fahren sollte, kein Öl und
keine Kerzen erhellten das Kompasshäuschen; man wusste nur, dass es
zuerst nach Süden und dann nach Osten zu segeln galt, doch dafür
besaß man nur Renés kleinen Taschenkompass und kein anderes Licht
als das des anfangs so verachteten Torfs.
René wurde als Kundigster von ihnen und als
derjenige, dessen Mut man am meisten vertraute, einstimmig zum
Kapitän gewählt.
Das Meer war stürmisch, der Wind wehte heftig und
unberechenbar, und die Segel des Kutters waren zu Fetzen zerrissen;
René befahl, alles Segeltuch, das man finden konnte,
zusammenzutragen. Sullivan entdeckte eine Truhe, in der sich
Segeltuch in recht gutem Zustand nebst einer Kerze befand, die dazu
verwendet wurde, den Matrosen zu leuchten, während sie ein großes
Segel zusammennähten.
Um acht Uhr abends war an alle die Ration aus zwei
Kartoffeln, zwei Kohlblättern, etwas Butter und einem Glas Wasser
ausgeteilt worden.
Da man nicht genug Segeltuch besaß, wurde
beschlossen, auf das Vorstagsegel
zu verzichten und das Segeltuch für das Großsegel zu verwenden;
diese Umstellung brachte einen Zeitverlust von fünf Tagen mit sich.
Sobald das Großsegel installiert war, fuhr man schneller und
sicherer.
Die Kerze hatte man durch Kienspäne ersetzt, die
mit Torf am Brennen gehalten wurden. Über den Kurs machte man sich
keine Sorgen, denn mit Renés Taschenkompass konnte man ihn
jederzeit korrigieren. Wenngleich die Flüchtlinge sich nicht gerade
begeistert über die Verköstigung gezeigt hatten, sah man am vierten
Tag, dass ihnen noch Nahrung für zwei bis drei Tage verblieb. Am
Wasser hatte man gespart, so gut es ging, doch es war zum Kochen
des Kohls benötigt worden, während die Kartoffeln im heißen Torf
gebacken wurden.
Am fünften Tag sah man ein Schiff am Horizont. René
rief seine Gefährten und zeigte ihnen das Schiff.
»Es ist ein Engländer oder das Schiff eines
verbündeten Landes; wenn es englisch ist, kapern wir es; wenn es
einer befreundeten Nation angehört, bitten wir um Hilfe, die man
uns gewähren wird, so dass wir weiterfahren können. Die
Standard, die wir mit der Revenant gekapert haben,
hatte vierhundertfünfzig Mann Besatzung, und wir hatten nur
hundertzwanzig Mann an Bord, sie hatte achtundvierzig Kanonen, und
wir hatten nur sechzehn, und ausgehungert waren wir auch nicht. In
den Wind, Ire, und auf ins Gefecht.«
Jeder nahm seine Segelmacherahle, und René ergriff
seinen Gitterstab, doch das verbündete oder gegnerische Schiff,
Kauffahrer oder Kriegsschiff, ergriff die Flucht vor dem Kutter,
der auf eine weitere Verfolgung verzichten musste.
»Kann mir niemand einen Tropfen Wasser abgeben?«,
fragte ein Matrose in jämmerlichem Ton.
»Gewiss doch, mein wackerer Junge«, sagte
René.
»Und Sie?«, fragte ihn der Matrose.
»Ich«, sagte René mit einem Lächeln, um das ihn die
Engel beneidet hätten, »ich bin nicht durstig.«
Und er gab dem Matrosen seine Wasserration.
Es wurde Abend, und die letzte Ration wurde
ausgeteilt, die aus einer Kartoffel, einem Kohlblatt und einem
halben Glas Wasser pro Mann bestand.
Seit Langem ist bekannt, dass die schlimmste aller
Qualen notleidender Schiffsbesatzungen der Durst ist: Der Durst
macht uns sogar dem engsten Freund gegenüber unbarmherzig.
Am Tag nach der letzten Ration hatte die Not unsere
Flüchtlinge zu Rasenden gemacht; jeder hatte sich von den anderen
abgesetzt, und alle Mienen waren bleich und abgezehrt. Unvermittelt
ertönte ein Schrei, und einer der Matrosen sprang in seinem
Fieberwahn ins Wasser.
»Aufbrassen und Rettungstaue auswerfen!«, rief
René, der dem Matrosen hinterher ins Meer sprang.
Zwei Sekunden später kam René an die
Wasseroberfläche zurück; er hielt den Matrosen im Arm und wehrte
sich gegen dessen wilde Schläge. Er ergriff ein Tau, schlang es dem
anderen um den Körper und verknotete es.
»Zieht jetzt!«, rief er.
Die anderen zogen den Matrosen an Bord.
»Und jetzt mich«, sagte René.
Mehrere Taue waren ihm zugeworfen worden, und er
ergriff eines und war im nächsten Augenblick wieder an Bord des
Kutters.
Renés zierlicher und zarter Körper schien als
Einziger weder unter dem Hunger noch unter dem Durst zu
leiden.
»Ach,«, sagte der Ire, »hätte ich doch nur etwas
Blei zum Lutschen!«
»Meinst du, dass man mit Gold die gleiche Wirkung
erreichen kann?«, fragte ihn René.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Ire, »denn bisher
war ich mit Blei vertrauter als mit Gold.«
»Lass uns sehen: Nimm dieses Goldstück in den
Mund.« Der Ire sah die Münze an, ein Goldstück im Wert von
vierundzwanzig Francs mit dem Bildnis Ludwigs XVI.
Seine Gefährten standen mit offenem Mund und
ausgestreckten Armen da.
»Oh, das schmeckt gut, das kühlt«, sagte der
Ire.
»Haben Sie gehört, Monsieur René?«, sagten die
anderen und hechelten vor Gier.
»Hier«, sagte René, der die Goldstücke verteilte,
»probiert selbst.«
»Und Sie?«, fragten sie.
»Ach, mein Durst ist nicht so unerträglich, ich
werde mir dieses Mittel als letzten Ausweg aufsparen.«
Und wahrhaftig war diese eigentümliche Art der
Erfrischung, welche die Matrosen sich für gewöhnlich mit einem
Stück Blei im Mund verschaffen, mit einem Goldstück genauso
wirksam. Sie beklagten sich zwar den ganzen Tag über, lutschten und
kauten jedoch dabei ihre Louisdors.
Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch lichtete sich
der Himmel im Süden. René, der die Nacht am Steurruder verbracht
hatte, stellte sich auf die Zehenspitzen, und dann rief er
unvermittelt: »Land!«
Dieser Ruf wirkte wie ein Zauberwort: Auf der
Stelle waren die sieben Matrosen auf den Beinen.
»Steuern Sie steuerbords«, rief einer von ihnen,
»denn das da ist Guernsey. Die Engländer kreuzen sicherlich vor den
französischen Inseln, setzen Sie deshalb Kurs nach
Steuerbord.«
Eine Drehung des Steuerrads entfernte das Schiff
von der Insel und ließ es Kurs auf Kap Tréguir nehmen.
»Land!«, rief René abermals.
»Ah«, sagte der Matrose, »das ist Kap Tréguir, das
sehe ich, da haben wir nichts zu befürchten; segeln Sie jetzt so
eng an der Küste wie möglich, und in zwei Stunden sind wir in
Saint-Malo.«
Der Ire, der seinen Posten am Steuerruder wieder
eingenommen hatte, befolgte die Anweisungen gewissenhaft, und eine
Stunde später ließ er zur Rechten die Felsklippen von Grand-Bé
liegen, einer Halbinsel, auf der sich heute Chateaubriands Grabmal
erhebt, und fuhr mit vollen Segeln in den Hafen von Saint-Malo
ein.
Die Bauweise des Kutters verriet dessen englische
Herkunft, doch an der Kleidung der Besatzung erkannte man sogleich,
dass es sich um Matrosen handelte, die englischen Hulken oder
englischen Kerkern entflohen waren.
An der Mole hielt der stellvertretende Vorsteher
der Marineakademie das Schiff an und kam in einer Kriegsschaluppe,
um es zu rekognoszieren.
Das Rekognoszieren war schnell erledigt; René
berichtete alle Einzelheiten ihrer Flucht, und der Marineschreiber
protokollierte seine Aussage.
Nachdem das Protokoll abgefasst und von René und
den vier anderen schreibkundigen Matrosen unterzeichnet war,
erkundigte sich René, ob im Hafen ein amerikanisches Schiff mit
Namen The Runner of New York unter dem Kommando eines
Kapitäns François bekannt sei.
Das Schiff lag nahe der Werft vor Anker; es war vor
kaum zwei Wochen eingetroffen.
René erklärte, dass es sein Eigentum sei, wiewohl
augenblicklich auf den Namen des Maats von Robert Surcouf
eingetragen, und fragte, ob ihm gestattet sei, sich an Bord dieses
Schiffs zu begeben.
Man erwiderte ihm, er könne tun und lassen, was ihm
beliebe, nachdem seine Identität festgestellt war.
Während das Protokoll aufgesetzt wurde, hatte die
Verfassung der bejammernswerten Flüchtlinge Mitleid in dem
stellvertretenden Vorsteher der Marineakademie geweckt, und nachdem
einige von ihnen gemurmelt hatten, sie würden verschmachten, und
ohnmächtig geworden waren, hatte er acht Tassen Kraftbrühe und eine
Flasche guten Weins herbeordert und den Wundarzt der Akademie rufen
lassen.
Der Arzt traf zusammen mit der Nahrung ein, die von
den armen Flüchtlingen so sehr ersehnt wurde und die ihnen nur
behutsam eingeflößt werden durfte.
Der Arzt bestand darauf, dass sie die Kraftbrühe
Löffel für Löffel zu sich nahmen, ohne Brot einzutunken, und dass
sie den Wein in kleinen Schlucken tranken.
Nach einer Viertelstunde wollten die Matrosen René
die Louisdors zurückgeben, doch er weigerte sich, sie zu nehmen,
und sagte zu den Männern, sie stünden in seinem Dienst, bis sie
eine bessere Arbeit fänden.
Als Nächstes erklärte René, er und seine Gefährten
hätten den Kutter, auf dem sie gekommen waren, mit Gewalt irischen
armen Teufeln entwendet, und er bat darum, dass der Wert des
Schiffs geschätzt würde, damit er es den Besitzern ersetzen
konnte.
Dies war umso einfacher, als René in einer Art
Wandschrank im Schiff das Schiffspatent gefunden hatte, das die
Adresse des Schiffseigners enthielt.
Der Kutter blieb daher vor dem Hafen liegen,
während René und seine Gefährten, die ihre Kräfte allmählich
wiedererlangten, in eine Barke sprangen.
»Auf, meine Freunde, so schnell ihr könnt!«, rief
René. »Bringt mich zur Runner of New York. Für die Ruderer
gibt es zwei Louis.«
»Ha!«, sagte einer der Rudernden, der René
wiedererkannte. »Das ist Monsieur René, der für all meine Kumpane
auf Monsieur Surcoufs Revenant ihre Schulden bezahlt hat.
Hurra für Monsieur René!«
Und angespornt von der Aussicht auf doppelte
Belohnung, riefen alle Rudernden aus voller Kehle: »Hurra!«
Bei diesem Geschrei kam die Mannschaft der
Runner of New York an Deck, und auf der Poop erkannte René
seinen Freund François, der mit dem Fernglas in der Hand Ausschau
nach ihm hielt.
Kaum hatte François gerufen: »Kameraden, es ist der
Patron! Hurra für Monsieur René!«, wurde das Schiff im Handumdrehen
beflaggt, und
ohne die Erlaubnis des Hafenkommandanten abzuwarten, feuerte die
Mannschaft einen Salut von acht Kanonenschüssen ab. Dann kletterten
alle die Wanten empor, schwenkten ihre Mützen und riefen: »Hurra,
Monsieur René, hurra!«
François wartete oben an der Strickleiter mit
ausgebreiteten Armen auf seinen Kapitän, als wollte er am liebsten
ins Meer springen, um ihn so bald wie möglich in die Arme zu
schließen.
Man kann sich denken, mit welcher Begeisterung René
an Bord willkommen geheißen wurde. Seine Ruderer bezahlte er, wie
sie es sich erhofft hatten, und seine Reisegefährten berichteten
unterdessen jedem, der es hören wollte, alle Einzelheiten ihrer
Flucht: wie René auf seine Wasserration verzichtet hatte, um sie
ihnen zu geben, wie er alle dazu gebracht hatte, den Mut nicht
sinken zu lassen, und dass er sie nun angestellt hatte, so dass sie
bei ihm bleiben konnten, bis sich etwas Besseres fand.
Und damit jeder mitfeiern konnte, der mit René zu
tun gehabt hatte, kamen einige Matrosen zu ihm und fragten, ob sie
ihre Rationen mit den Ruderern teilen durften, die ihn an Bord
gebracht hatten.
»Freunde«, sagte René, »sie werden nicht eure
Ration mit euch teilen, sondern an meinem Festmahl teilhaben. Der
Tag meiner Rückkehr ist ein Festtag, und jeder Matrose an Bord
meines Schiffs darf sich als Offizier fühlen an dem Tag, an dem ich
aus Englands Gefängissen zurückkehre.«
Nachdem er abermals Erfrischungen an seine
Fluchtgefährten hatte austeilen lassen, ließ er den Koch rufen, um
ihm den Speisezettel für das Festmahl zu diktieren.
Alles, was es in Saint-Malo an Feinem und
Köstlichem gab, war an diesem Tag für die Mannschaft der Runner
of New York und für ihren Kapitän bestimmt.