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Die Runner of New York
Am nächsten Tag sprach René bei Surcouf vor,
sobald es hell war; Surcouf lag noch im Bett, war aber schon
wach.
»Mein lieber René«, sagte Surcouf, als René
eintrat, »Sie laden uns zu einem Frühstück im Grünen ein und
verwöhnen uns mit einem wahrhaft
königlichen Festschmaus. Das Frühstück im Grünen hätte ich
angenommen, aber ich muss Sie warnen, dass Bléas und ich
übereingekommen sind, uns die Kosten für diesen Ausflug mit Ihnen
zu teilen.«
»Verehrter Kommandant«, sagte René, »ich will Sie
um einen Gefallen bitten, der mich verpflichten wird, alles zu tun,
was in meiner Macht steht, um Sie zufriedenzustellen.«
»Sprechen Sie, mein Lieber, und sofern die Sache
nicht völlig unmöglich ist, sei Ihre Bitte Ihnen im Voraus
gewährt.«
»Ich möchte Sie bitten, mich unter einem beliebigen
Vorwand an die Küste von Pegu zu schicken. Sie sind auf der Île de
France monatelang festgehalten, und ich bitte Sie um sechs Wochen
Urlaub; danach werde ich mich Ihnen anschließen, wo immer Sie sich
befinden mögen.«
»Ich verstehe«, sagte Surcouf und lachte. »Ich habe
Sie zum Vormund der zwei hübschen Mädchen ernannt, deren Vater wir
unbeabsichtigt getötet haben, und Sie wollen Ihre Vormundschaft mit
größter Gründlichkeit erfüllen.«
»Was Sie sagen, ist so unwahr nicht, Monsieur
Surcouf; doch als jemand, der in Ihren Gedanken mehr liest, als
Ihre Worte sagen, will ich Ihnen verraten, dass mich nicht die
Liebe zu dieser Fahrt veranlasst, zu der ich bereits entschlossen
war, als ich dem Sklavenhändler sein Schiff abkaufte,
vorausgesetzt, ich erhielte Ihre Erlaubnis. Ich weiß nicht, wie
mein Geschick beschaffen ist, doch es würde mich verdrießen, der
indischen Küste so nahe gewesen zu sein, ohne eine der famosen
Tigeroder Elefantenjagden mitgemacht zu haben, die den Teilnehmern
ein stärkeres Lebensgefühl vermitteln, weil sie dem Tod ins Auge
geblickt haben. Und bei dieser Gelegenheit will ich die zwei Waisen
nach Hause geleiten, denen ich eine Anteilnahme entgegenbringe,
deren Grund ich niemals verraten werde. Sie denken an Liebe,
verehrter Kommandant; ich zähle noch keine sechsundzwanzig Jahre,
doch mein Herz ist so tot, als zählte ich ihrer achtzig. Ich bin
dazu verurteilt, mir die Zeit zu vertreiben, mein lieber Surcouf.
Und ich würde sie mir gern damit vertreiben, dass ich etwas
Außergewöhnliches erlebe. Mein Herz, das keine Liebe empfinden
kann, will ich mit anderen Empfindungen beleben; erlauben Sie mir,
sie zu suchen, und helfen Sie mir, sie zu finden, indem Sie mich
für eine Zeit von sechs Wochen bis zu zwei Monaten
beurlauben.«
»Und wie wollen Sie fahren?«, fragte Surcouf. »Etwa
mit Ihrer Nussschale?«
»Ja, ganz genau«, erwiderte René. »Sie wissen, dass
ich das Schiff unter amerikanischer Flagge und mit amerikanischen
Papieren gekauft habe. Mein Englisch ist so tadellos, dass kein
Engländer oder Amerikaner es wagen würde, meine Herkunft aus London
oder New York zu bezweifeln. Die Amerikaner sind mit aller Welt im
Frieden. Ich fahre unter amerikanischer Flagge. Man wird mich
meiner Wege ziehen lassen, und wenn nicht, dann werde ich mich
ausweisen. Was sagen Sie dazu?«
»Und Sie wollen Ihre zwei schönen Begleiterinnen in
einem Schiff fahren lassen, das eine Ladung Negersklaven befördert
hat?«
»Verehrter Kommandant, in zwei Wochen werden Sie
die Runner of New York nicht wiedererkennen; äußerlich wird
sie sich nicht verändert haben bis auf einen neuen Anstrich; doch
im Inneren wird sie sich dank der erlesenen Hölzer und der
prachtvollen Stoffe, die ich gestern erstand, in ein wahres Kleinod
verwandelt haben, vorausgesetzt, Sie gewähren mir den erbetenen
Urlaub.«
»Ihr Urlaub«, erwiderte Surcouf, »war Ihnen
gewährt, sobald Sie darum baten.«
»Dann bleibt mir nur noch, Sie um die Adresse des
besten Schiffsausstatters zu bitten, den Sie in Port Louis
kennen.«
»Ich werde mich für Sie verbürgen, junger Freund«,
sagte Surcouf, »und sollten die Kosten höher ausfallen als von
Ihnen kalkuliert, werde ich für die Differenz aufkommen, egal in
welcher Höhe.«
»Für diesen neuen Freundschaftsdienst wäre ich
Ihnen gerne zu Dank verpflichtet, verehrter Kommandant, doch allein
mit der Adresse wäre ich schon zufrieden.«
»Ha, dann müssen Sie Millionär sein!«, rief
Surcouf, der seine Neugier nicht länger zügeln konnte.
»Ein wenig mehr als das«, erwiderte René
nonchalant, »und wenn Sie jetzt so freundlich wären, mir zu sagen,
wann es Ihnen recht wäre, und falls Sie im Übrigen jemals meine
Dienste in finanzieller Hinsicht benötigen sollten...«
»Darauf können Sie sich verlassen, und wäre es nur,
um die Tiefe Ihrer Tasche auszuloten!«
»Nun gut«, sagte René, »wann wäre es Ihnen recht,
verehrter Kommandant?«
»Sogleich, wenn Sie wollen«, erwiderte Surcouf und
sprang aus dem Bett.
Zehn Minuten später gingen die zwei Gefährten die
Hauptstraße hinunter,
den Quai du Chien-de-Plomb entlang und betraten die Werkstatt des
besten Schiffsbauers von Port Louis.
In Port Louis war Surcouf fast so bekannt wie in
Saint-Malo.
»Oh!«, rief der Schiffsbauer. »Unser geschätzter
Monsieur Surcouf!«
»Ja, Monsier Raimbaut, und ich bringe Ihnen einen
guten Auftrag, wie mir scheint.«
Surcouf zeigte dem Schiffsbauer Renés Slup, die
gegenüber von Trou-Fanfaron in den Wellen schaukelte.
»Monsieur«, sagte er, »das ist die Slup eines
meiner Freunde, die es außen zu überholen und innen zu einem
Schmuckstück umzubauen gilt; für diesen Auftrag dachte ich an Sie,
und deshalb sind wir hier.«
Der Schiffsbauer dankte Surcouf, ging hinaus, sah
zu dem Schiff hinüber, indem er sich die Augen mit der Hand
schirmte, und sagte: »Das muss ich mir näher ansehen.«
»Nichts leichter als das«, erwiderte René. Und er
rief einem Matrosen an Deck der Slup zu: »He da, auf der Slup!
Schickt uns ein Boot herüber.«
Das Boot wurde zu Wasser gelassen, zwei Matrosen
sprangen hinein und ruderten zu Surcouf; wenige Augenblicke später
wurden die drei Männer zur Slup übergesetzt. Surcouf stieg als
Erster aus, als befände er sich auf seinem eigenen Schiff, und René
und der Schiffsbauer Monsieur Raimbaut folgten ihm.
Monsieur Raimbaut holte seinen Maßstab hervor, maß
alles aus und fragte René, welche Veränderungen er wünsche. Zu
verändern gab es nichts, nur zu verschönern: Die Aufteilung seiner
Räume ergab zwei kleine Kammern vorschiffs nahe der Luke, ein
Esszimmer und ein großes Schlafzimmer mit zwei Betten, welches das
ganze Heck einnahm und sich ohne Weiteres in zwei Zimmer teilen
ließ.
»Monsieur Raimbaut«, sagte René, »Sie werden mir
diese Räume mit Teakholz vertäfeln; für die vorderen Räume mag
Mahagoniholz genügen; das Esszimmer wünsche ich aus Ebenholz mit
goldenen Intarsien und alle Verzierungen aus unvergoldetem Kupfer,
damit sie jederzeit geputzt werden können. Veranschlagen Sie Ihre
Kosten, Monsieur Surcouf wird den Preis mit Ihnen aushandeln; in
zwei Wochen will ich mit dem Schiff in See stechen. Ich zahle Ihnen
die Hälfte auf der Stelle und die zweite Hälfte beim
Stapellauf.«
»Gevatter Raimbaut, schlagen Sie ein!«, sagte
Surcouf.
»Wie soll ich das können? Die Arbeiten würden einen
Monat in Anspruch nehmen.«
»Das interessiert mich nicht«, sagte René. »Ich
brauche meine Slup in vierzehn Tagen, und was die Kosten betrifft,
verlasse ich mich auf Ihre Rechnung und darauf, dass Sie mit
Monsieur Surcouf das Schiff begutachten werden.«
Kaum hatten sie sich an Deck der Slup begeben,
sahen sie auf Höhe der Standard eine Kutsche anhalten, der
zwei junge Damen entstiegen; sie riefen ein Boot herbei und ließen
sich zu Surcoufs Prisenschiff übersetzen.
»Nanu«, sagte Surcouf. »Wer sind die Damen, die uns
zu so früher Stunde einen Besuch machen?«
»Erkennen Sie sie denn nicht?«, fragte René.
»Nein«, sagte Surcouf.
»Das sind die Damen Sainte-Hermine, die am Sarg
ihres Vaters beten wollen; stören wir sie nicht in diesem frommen
Tun; wenn sie wieder an Deck kommen, können wir sie
begrüßen.«
Sie warteten einige Minuten; da die Schaluppe den
Kai berührte, sprangen sie vom Schiff auf die Kaimauer, gingen zur
Standard, bedeuteten dem Bootsführer, der die jungen Damen
gefahren hatte, er solle sie später zurückbringen, und kletterten
steuerbords das Fallreep hinauf.
Als sie an Deck ankamen, hörten sie den Hilferuf
eines badenden Matrosen: »Hilfe, Kameraden, Hilfe! Ein Hai!«
Alle Blicke richteten sich auf den Badenden, der
auf das Schiff zuschwamm und in dessen Kielwasser die Rückenflosse
eines Hais zu sehen war, die immer näher kam.
»Nur Mut! Wir kommen!«, erscholl es von Deck, doch
mit gebieterischer Geste unterbrach René das Stimmengewirr und
rief: »Niemand rührt sich von der Stelle! Ich übernehme die volle
Verantwortung!«
In diesem Moment kamen die Schwestern
Sainte-Hermine wieder an Deck, durch das Geschrei neugierig
gemacht; sie sahen, wie René die Hand zur Brust führte, um sich
seines Dolchs zu vergewissern, den er an einer Silberkette umhängen
hatte, wie er sich seiner Jacke und seiner Weste entledigte, sich
auf die Reling schwang und mit dem Ruf: »Nur Mut, Kamerad, schwimm
weiter!« ins Wasser sprang.
Jane erbleichte und stieß einen Schrei aus; Hélène
musste sie fast tragen, bis sie die Poop erreichte, wo Surcouf ihr
die Schwester abnahm.
Sie kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie René
an die Wasseroberfläche zurückkehrte, den Dolch zwischen den
Zähnen; dann tauchte er wieder und kam diesmal zwischen Seemann und
Hai zum Vorschein, keine drei Meter von dem Ungeheuer entfernt. Ein
drittes Mal verschwand
er im Wasser, in Richtung des Raubfischs, und plötzlich bäumte
dieser sich auf und peitschte das Wasser mit seinem Schwanz wie
unter schrecklichen Schmerzen; um ihn herum färbte sich alles
blutig. Ein Freudenschrei stieg vom Schiffsdeck auf. René tauchte
einen Meter hinter dem Hai wieder auf, doch nur um Luft zu holen;
kaum war er untergetaucht, peitschte der Hai das Wasser nochmals
mit seinem Schwanz, drehte sich in seinen Zuckungen auf den Rücken
und enthüllte seinen weißen Bauch mit einem einen Meter langen
klaffenden Schnitt.
Unterdessen hatten die Matrosen, ohne zu fragen
oder Befehle abzuwarten, ein Boot zu Wasser gelassen und ruderten
René entgegen, der seinen Dolch in die Scheide zurückgesteckt hatte
und zum Schiff schwamm, ohne sich weiter um den Hai zu scheren, der
sich vor Schmerzen wand und krümmte. Er traf auf das Boot, zwei
Matrosen halfen ihm hinein, umarmten ihn herzlich, warfen ihre
Mützen in die Luft und riefen: »Hoch lebe René!«
An Bord wiederholten alle den Hochruf, die Seeleute
und sogar die zwei Mädchen, die mit ihren Taschentüchern
winkten.
Der leichtsinnige Matrose, der sich gegen den Rat
seiner Kameraden ins Wasser gewagt hatte, war an einem Tau, das man
ihm zugeworfen hatte, an Bord zurückgeklettert.
Renés Ankunft an Deck der Standard kam einem
Triumph gleich. Bis dahin hatte es unter seinen Kameraden
vereinzelte Eifersüchteleien auf den reichen, schönen, gebildeten
jungen Mann gegeben, dessen Überlegenheit sich bei jeder
Gelegenheit bemerkbar machte, doch als sie gesehen hatten, wie er
für einen armen Teufel sein Leben aufs Spiel setzte, war ihre
Begeisterung grenzenlos, und die Eifersucht verwandelte sich in
Bewunderung und Dankbarkeit.
René wiederum dämpfte den Freudentaumel nach
Kräften und eilte zu der Poop, wo Hélène mit Tränen in den Augen
die halb ohnmächtige Jane mit Riechsalz zu beleben versuchte,
während Surcouf ihr die fühllosen Hände rieb.
Als René sich näherte, ergriff Jane seine Hand,
küsste sie, stieß einen Schrei aus und verbarg ihr Gesicht an der
Brust ihrer Schwester.
»Holla!«, sagte Surcouf staunend. »Entweder haben
Sie den Teufel im Leib, oder Sie sind des Lebens überdrüssig, dass
Sie ein Husarenstück nach dem anderen vollbringen!«
»Mein lieber Kommandant«, erwiderte René, »man hat
mir erzählt, wenn ein Neger in Gondar von einem Hai angegriffen
werde, tauche er
unter das Tier und schlitze ihm mit einem Messer den Bauch auf;
ich wollte mich vergewissern, ob das wahr sein kann.«
In diesem Moment stieg Monsieur Raimbaut, der den
Auftrag nachgerechnet und als eingefleischter Kaufmann für nichts
anderes Augen und Ohren gehabt hatte, zu ihnen hinauf und reichte
René ein Blatt Papier.
René warf nur einen Blick auf die Endsumme, die
achttausendfünfhundert Francs betrug, und hielt das Blatt Surcouf
hin.
Während die zwei Schwestern und vor allem Jane René
mit atemlosem Staunen betrachteten, examinierte Surcouf Monsieur
Raimbauts Kalkulation mit größter Aufmerksamkeit.
Dann gab er René das Blatt zurück und sagte: »Wenn
man fünfhundert Francs abzieht, ist der Betrag korrekt.«
»Aber«, fragte René, »wird die Slup auch in
fünfzehn Tagen fertig sein?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte Monsieur
Raimbaut.
»Geben Sie mir Ihren Bleistift, Monsieur«, sagte
René.
Der Schiffsbaumeister reichte ihm seinen Bleistift.
René schrieb unter die Kalkulation:
Bei Vorlegen dieses Papiers wird Monsieur
Rondeau an Monsieur Raimbaut den Betrag von viertausend Francs
auszahlen und bei Fertigstellung der Slup zwei Wochen darauf den
Betrag von viertausendfünfhundert Francs.
Surcouf wollte ihn mit einer Geste unterbrechen,
doch René schrieb unbeirrt weiter:
Die fünfhundert Francs sind als Belohnung unter
den Arbeitern zu verteilen.
RENÉ,
Matrose an Bord der Standard
Matrose an Bord der Standard