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Teneriffa
In nicht allzu weiter Entfernung zur Küste
Marokkos erhebt sich gegenüber dem Atlasgebirge, zwischen den
Azoren und den Kapverdischen Inseln, die Königin der Kanarischen
Inseln, deren Gipfel sich in siebentausendfünfhundert Metern Höhe
in den Wolken verliert, die ihn fast ständig umhüllen.
Die Luft ist in diesen herrlichen Breiten so klar,
dass man den Berggipfel auf dreißig Meilen Entfernung erkennen
kann, und von den Bergen der Insel sieht man Schiffe bis zu zwölf
Meilen weit, während man sie andernorts bei sieben Meilen aus den
Augen verliert.
Dort, im Schatten des gewaltigen Vulkans, inmitten
der Inselgruppe, welche die Völker der Antike die Glücklichen
Inseln nannten, dort, wo man den Blick gleichzeitig auf die
Meerenge von Gibraltar, auf die Route der Spanier nach Nord- und
Südamerika und auf die Route der Europäer nach Indien richten kann
– dort hatte Surcouf einen Zwischenhalt eingelegt, um Wasser und
frische Lebensmittel an Bord zu nehmen und um an die hundert
Flaschen des zu jener Zeit begehrten Madeiraweins zu kaufen, dieses
Lieblingssohnes der Sonne, der heute völlig aus der Mode gekommen
ist und dem alkoholischen Gebräu Platz gemacht hat, das man
Marsalawein nennt.
Von Saint-Malo bis Teneriffa waren die
Wetterverhältnisse günstig gewesen, abgesehen von den
unvermeidlichen Sturmwinden im Golf der Gascogne, und die Fahrt war
gut verlaufen, wenn man die Fahrt eines Kaperschiffs gut nennen
will, dem kein einziges Schiff begegnet, das zu jagen sich lohnen
würde; zudem war man einer englischen Fregatte ausgewichen und
hatte sich davon überzeugen können, dass die Revenant wendig
und schnell war, denn hoch am Wind machte sie bis zu zwölf Knoten.
Das gute Wetter hatte Surcouf erlaubt, sich seinen täglichen
Übungen zu widmen, und eine große Zahl aufgehängter Flaschen waren
von ihm und von René, der selten danebenschoss, geköpft
worden.
Die Matrosen, die sich an Gewandtheit mit ihrem
Anführer nicht messen konnten, hatten Renés Schießkünste mit
Beifall bedacht, doch was die Herren Offiziere für ihn einnahm, und
zwar uneingeschränkt, das waren die schönen Waffen, mit denen oder
dank derer er seine Wunder an Geschicklichkeit
vollbrachte.
Diese Waffen waren ein Gewehr mit gewöhnlichem Lauf
für die Jagd auf Niederwild und ein Stutzen gleichen Kalibers mit
gerieftem Lauf für die Jagd auf Hochwild oder um auf Menschen zu
schießen in jenen Ländern, in denen der Mensch als schädliches Tier
eingestuft wird. Zwei kleinere Futterale enthielten jeweils ein
Paar Pistolen, gewöhnliche Duellpistolen und Gefechtspistolen mit
übereinanderliegenden Läufen.
Außerdem hatte René sich eine Enteraxt anfertigen
lassen, ohne jede Verzierung, aus schlichtem poliertem Stahl, doch
von so hervorragender Härte, dass sie auf einen Hieb ein
kleinfingerdickes Stück Eisen durchtrennte, als wäre es Schilf;
seine Lieblingswaffe jedoch, die er mit besonderer Hingabe pflegte
und an einer Silberkette um den Hals trug, war ein Dolch von
türkischer Form, leicht gebogen, mit dem er einen Seidenschal in
der Luft zerschneiden konnte, wie es die Araber von Damaskus mit
ihren unvorstellbar scharfen Säbeln tun.
Surcouf war sehr zufrieden, René als seinen
Sekretär an Bord zu haben, denn das erlaubte ihm, sich mit ihm zu
unterhalten, so viel er wollte. Surcouf war von schwermütigem und
gebieterischem Charakter und wortkarg, und um seine bunt
zusammengewürfelte Mannschaft aus den verschiedensten Ländern und
mit den verschiedensten Berufen in passivem Gehorsam zu halten, war
er darauf bedacht, stets für Unterhaltung und Zerstreuung seiner
Männer zu sorgen. An Bord der Revenant hatte er zwei
Rüstkammern eingerichtet, die eine auf dem Back für die Offiziere,
die andere auf der Schanz für diejenigen unter den Matrosen, die
Neigung zum Fechten hatten. Er unterwies sie auch im Schießen, doch
der Schießstand der Offiziere lag steuerbords und der jener
rangniederen Offiziere und der Matrosen backbords.
Nur der erste Offizier Monsieur Bléas hatte
jederzeit und in jeder Angelegenheit Zutritt zu Surcoufs Kajüte;
die anderen Offiziere, sogar der Kapitänleutnant, durften nur mit
einem wichtigen Anliegen unaufgefordert
vorsprechen. René war von dieser Vorschrift ausgenommen, doch um
keine Eifersucht unter seinen Gefährten zu wecken, nutzte er dieses
Privileg so selten wie möglich, und statt Surcouf aufzusuchen, ließ
er sich lieber von Surcouf besuchen. Die Kajüte des Kommandanten
war von ausgesprochen militärischer Eleganz: Die zwei
Vierundzwanzigergeschütze, die ganz eingezogen waren, wenn kein
Feind in Sicht war, bestanden aus Kupfer, das wie Gold glänzte, auf
Hochglanz poliert von dem Neger Bambou, der besonderes Vergnügen
daran empfand, sich in den blanken Rohren zu spiegeln. Die
Wandbespannungen waren aus indischem Kaschmir, geschmückt mit
Waffen aus allen Ländern der Erde. Eine einfache Hängematte aus
gestreiftem Segeltuch hing in dem Zwischenraum zwischen den zwei
Kanonen und diente Surcouf als Bett, doch häufig warf er sich
angekleidet auf das große Kanapee, das ebenfalls zwischen den
Kanonen stand. Wenn zum Kampf gerüstet wurde, ließ er alle
Möbelstücke, die beim Bedienen der Kanonen stören konnten, aus der
Kajüte entfernen, und der Raum wurde den Kanonieren
überlassen.
Wenn Surcouf auf Deck umherwanderte, richtete er
das Wort fast nur an den wachhabenden Leutnant; alle machten ihm
von sich aus Platz, und um sie nicht in ihrer Arbeit zu hindern,
hielt er sich deshalb lieber auf dem Hackbord auf.
Wenn er in seiner Kajüte war, rief er seinen Neger
Bambou, indem er auf ein Tamtam schlug; die Vibration war im ganzen
Schiff zu vernehmen, und dem Grad der Heftigkeit dieser Vibration
konnte man Surcoufs Laune entnehmen.
In dem irdischen Paradies am Fuß des Gipfels von
Teneriffa, in dem Surcouf und seine Männer sich seit acht Tagen
aufhielten, fügte der Kapitän den Freuden der Jagd und des
Fischfangs ein weiteres Vergnügen hinzu: das Tanzen.
Unter dem schönen Himmel voller unbekannter Sterne
kamen jeden Abend zu der Stunde, wenn die Bäume ihren balsamischen
Duft verströmen und eine frische Brise vom Meer hereinweht, über
den Rasen, der so weich wie ein Teppich war, aus den Dörfern
Chasna, Vilaflor und d’Arico schöne Bäuerinnen in ihrer malerischen
Kleidung herunter. Am ersten Tag hatte man nicht recht gewusst,
welche Musik man wählen sollte, doch René hatte gesagt: »Besorgt
mir eine Gitarre oder eine Geige, dann werde ich versuchen, mich
meiner Tage als Wandermusikant zu erinnern.«
In einer spanischen Stadt braucht man nur die Hand
auszustrecken, wenn man eine Gitarre haben will, und am nächsten
Tag konnte René zwischen zehn Geigen und ebenso vielen Gitarren
wählen; er ergriff die nächstbeste, und schon dem ersten Ton, den
er anschlug, war seine Meisterschaft anzuhören. Tags darauf wurde
das Orchester durch den Pfeifer und den Trommler verstärkt, die
jeden Abend den Zapfenstreich bliesen und nun unter Renés Leitung
mit ein paar hohen Tönen oder mit einem Trommelwirbel das spanische
Instrument begleiteten.
Bisweilen geschah es, dass René Tanz und Tanzende
vergaß und sich, von seinen Erinnerungen überwältigt, in eine
melancholische Improvisation verlor; dann hielten die Tanzenden
inne, Stille trat ein, und mit dem Finger auf dem Mund näherte man
sich ihm; wenn er nach kürzerer oder längerer Zeit die Melodie
beendete, sagte Surcouf leise im Selbstgespräch: »Meine Frau hatte
recht, dahinter steckt irgendein Liebesleid.«
Eines Morgens wurde René durch Vorbereitungen zu
einem Gefecht geweckt; auf der Höhe der Kapverdischen Inseln war
wenige Meilen seewärts ein Schiff zu sehen, dem Schnitt seiner
Segel nach zu schließen, ein Engländer. Bei dem Ruf: »Segel in
Sicht!« war Surcouf an Deck gesprungen und hatte Befehl gegeben,
Segel zu setzen. Zehn Minuten später stach die Revenant
unter einer Wolke von Segeln, die jede Sekunde dichter wurde, und
im Gelärme der Kampfvorbereitungen in See und nahm Kurs auf das
englische Schiff. Keine fünf Minuten darauf kam René aus seiner
Kajüte, den Stutzen in der Hand und seine doppelläufigen Pistolen
im Gürtel.
»Nun«, sagte Surcouf, »es hat ganz den Anschein,
als würden wir uns jetzt ein wenig amüsieren.«
»Endlich!«, sagte René.
»Sie wollen also dabei sein, sehe ich das
richtig?«
»O ja, aber ich bitte Sie, mir einen Platz
zuzuweisen, an dem ich niemandem im Weg bin.«
»Gut! Halten Sie sich in meiner Nähe, und nehmen
wir uns jeder einen Matrosen, der unsere Gewehre lädt. – Bambou!«,
rief Surcouf.
Sein Negerdiener kam angelaufen.
»Hole mir meine Donnerbüchse.« (Das war der Name
seiner Doppelflinte, während sein Stutzen Spaßvogel hieß.) »Und«,
fuhr er fort, »hole auch das Gewehr von Monsieur René.«
»Nicht nötig«, sagte René, »an meinem Gürtel habe
ich den Tod von
vier Männern, und in der Hand halte ich den eines fünften; für
einen Amateur finde ich das ausreichend.«
»Was macht der Engländer, Monsieur Bléas?«, fragte
Surcouf, der sein Gewehr lud, den ersten Offizier, der vom Hackbord
aus die Fahrt des Engländers mit dem Fernrohr verfolgte.
»Er macht eine ganze Wendung, um uns auszweichen,
mein Kommandant«, erwiderte der junge Offizier.
»Holen wir auf?«, fragte Surcouf.
»Wenn ja, dann so langsam, dass ich davon nichts
bemerke.« »Holla!«, rief Surcouf. »Hisst Vorbramsegel und Beisegel!
Setzt alle Segel der Revenant, auch den kleinsten Fetzen
Segeltuch!«
Die Revenant pflügte durch die Wellen, und
der Schaum, den ihr Kiel nun aufwirbelte, zeigte deutlich, dass sie
wie ein Rassepferd die Sporen ihres Herrn gespürt hatte. Der
Engländer wiederum setzte ebenfalls alle Segel und musste sich
eingestehen, dass das Kaperschiff schneller war als er.
Daraufhin ließ Surcouf einen Kanonenschuss
abfeuern, um das andere Schiff aufzufordern, seine Nationalität zu
erkennen zu geben, und hisste die Trikolore. Die englische Flagge
entfaltete sich am Mast des Engländers, und als die beiden Schiffe
nur mehr halbe Gefechtsdistanz trennte, eröffnete der Engländer das
Feuer mit seinen zwei hintersten Geschützen in der Hoffnung, das
Kaperschiff zu entmasten oder eine Havarie zu bewirken, die es von
seinem Kurs abbrachte, doch die Salven richteten nur wenig Schaden
an und verwundeten nur zwei Männer. Eine dritte Salve war von einem
unheimlichen und grauenerregenden Heulen begleitet, das sich René,
der mit solchen Phänomenen noch nicht vertraut war, nicht erklären
konnte.
»Was zum Teufel ist da eben über unsere Köpfe
hinweggeflogen?«, fragte er.
»Mein junger Freund«, erwiderte Surcouf ebenso
ruhig, wie René seine Frage gestellt hatte, »das waren zwei
Kettenkugeln. Kennen Sie den Roman des Monsieur de Laclos?«
»Welchen?«
»Gefährliche Liebschaften.«
»Nein.«
»Nun, der Verfasser ist der Erfinder dieser
gefährlichen Abtakelungsgeschosse, die Sie eben fast den Kopf
gekostet hätten. Ist diese Bemerkung Ihnen unangenehm?«
»O nein, keineswegs; wenn ich tanze, will ich den
Namen der Instrumente wissen, die das Orchester bilden.«
Daraufhin stieg der Kapitän auf seine Wachtbank,
und als er sah, dass die Entfernung zu dem englischen Schiff halbe
Gefechtsdistanz betrug, rief er: »Sechsunddreißiger klar zum
Gefecht?«
»Jawohl, Kommandant«, erwiderten die
Kanoniere.
»Was für Munition?«
»Drei Kartätschenladungen.«
»Klar zum Gefecht, Ruder nach Backbord!«
Und als er sah, dass sein Schiff auf der Fährte des
Engländers war, befahl er: »Feuer!«
Die Kanoniere gehorchten, visierten den Engländer
vom einen bis zum anderen Ende an, und ihre Geschosse bereiteten an
seinem Deck Tod und Verwüstung.
Dann wies Surcouf den Rudergänger an, nach
Steuerbord zu gehen, damit die Revenant aus dem Kielwasser
des Engländers herausgelangte. »Rankommen lassen!«, rief er.
Und als sie sich nahe genug befanden, schoss
Surcouf beide Läufe seiner Donnerbüchse ab, und von dem Mastkorb
des Großmasts stürzten zwei Männer auf das Deck.
René sah, wie er sein Gewehr fallen ließ und die
Hand ausstreckte. »Schnell, gib mir dein Gewehr!«
Wortlos reichte René ihm sein Gewehr.
Surcouf legte an und feuerte.
In der Kajüte des englischen Kapitäns, der sie sich
näherten, hatte Surcouf einen Kanonier gesehen, der sich
anschickte, eine lange Zwölfpfünderkanone abzuschießen, die auf
Surcouf und die Offiziere in seiner Umgebung gerichtet war; bevor
der Kanonier die Zündschnur anzünden konnte, war er tot.
Mit diesem Schuss hatte Surcouf sein eigenes Leben
und das nicht weniger seiner Offiziere gerettet. Da man inzwischen
auf Pistolenschussweite an den Engländer herangekommen war,
erschoss René den englischen Kanonier, der die Zündschnur
aufgehoben hatte und das Werk seines toten Kameraden fortsetzen
wollte. Dann gab René seine weiteren drei Schüsse in Richtung der
Mastkörbe des Großmasts und des Fockmasts ab und entsandte damit
drei Todesboten. Die zwei Schiffe waren nurmehr zehn Schritte
voneinander entfernt, Seite an Seite, als Surcouf rief: »Feuer
Backbord!«
Ein Granatenhagel ergoss sich aus den Mastkörben
der Revenant auf das Deck des Engländers, während sich die
Marsgäste auf zwanzig Schritt ein Musketengefecht lieferten. Im
selben Augenblick, in dem die Engländer ihre Steuerbordgeschütze
zünden wollten, krachte eine gewaltige Salve der Revenant in
ihr Schiff, riss die Verschanzung in Stücke, zerstörte fünf oder
sechs Kanonen, stürzte den Großmast um und expedierte die Marsgäste
der zwei Mastkörbe des Großmasts ins Meer hinaus.
Mitten in diesem Höllenlärm hörte man Surcouf
rufen: »Entern, Leute, entern!«
Diesen Ruf wiederholten hundertfünfzig Stimmen, und
Surcoufs Mannschaft schickte sich an, ihn in die Tat umzusetzen,
als an Bord des englischen Schiffs ein anderer Ruf ertönte: »Wir
ergeben uns!«
Der Kampf war beendet. An Bord des Kaperschiffs gab
es zwei Tote und drei Verwundete, an Bord des Engländers waren
zwölf Tote und zwanzig Verwundete zu beklagen.
Surcouf ließ den englischen Kapitän auf sein Schiff
holen. Von ihm erfuhr er, dass er die Star of Liverpool
gekapert hatte, die mit sechzehn Zwölfpfündern bewaffnet war.
Angesichts ihres geringen Werts gab Surcouf sich mit einem Lösegeld
zufrieden.
Das Lösegeld betrug sechshundert Pfund Sterling,
die Surcouf zur Gänze als Prisengeld unter seinen Leuten verteilte,
um sie zu noch besseren Leistungen anzuspornen; er selbst nahm
nichts; um zu verhindern, dass der Engländer auf seiner Rückkehr
ein schwächeres Schiff überfiel und seinen Zorn über die Niederlage
an diesem ausließ, befahl Surcouf Monsieur Bléas, an Bord des
englischen Schiffs zu überwachen, dass alle Kanonen über Bord
geworfen wurden und alles Schießpulver ins Meer gestreut
wurde.
Dann nahm die Revenant Kurs auf das Kap der
Guten Hoffnung; die Mannschaft war stolz auf ihren Sieg, beglückt
von den acht Tagen Urlaub auf Teneriffa und voller Vorfreude
darauf, den Äquator mit einem so großzügigen Kameraden wie René zu
überqueren, der es zweifellos nicht versäumen würde, seine Taufe
großzügig zu begießen.
Doch im Logbuch der Revenant war bereits
verzeichnet, dass ihre Besatzung an jenem Tag eine andere Aufgabe
haben würde als die, dem alten Neptun ein groteskes Schauspiel über
die Meeresgötter darzubieten.