Strang 2 / Kapitel 18
Ein Jägersmann ohne Skrupel und Respekt vor Mensch und Tier machte sich eines Tages auf den Weg, seinen hundertsten Gämsbock zu schiessen. Von den weissen Gämsen hatte er gehört, aber noch nie eine gesehen. Bis zu diesem Tag. Als der Jäger Rast machte, entdeckte er den weissen Bock. Sofort nahm der Jäger die Verfolgung auf. In seinem Wahn verstieg er sich aber entsetzlich, bis er nicht mehr vor und nicht mehr zurück konnte. Die Gämse war weg. Der Abgrund lag vor ihm. Da erkannte der Jäger seine missliche Lage. Aber es war zu spät. Er wurde zunehmends schwächer, bis er sich schliesslich unter geisterhaftem Geflüster in sein Schicksal ergeben musste. Er stürzte in die Tiefe. Ein Sturz, den keiner überlebt. So auch nicht der Jägersmann.
Lächelnd sah er zu ihm hinunter.
Ruhe in Demut, Rudi. Auf das deine perverse Art, Lebewesen zu quälen sich im Tode räche und ihn zu deiner persönlichen Hölle mache. Dann wandte er sich ab. Er sammelte den weiss angemalten Kopf der Gämse und den weissen Geissenfuss ein und machte sich an den Abstieg. Irgendwo unterwegs warf er seine Utensilien in eine tiefe, dunkle Felsspalte. Dort würden sie nie wieder ans Tageslicht kommen. Da war er sich sicher.
Rudi wurde erst eine Woche später gefunden, nachdem Ruth darauf bestanden hatte, ihn suchen zu lassen.
Über seinen Tod sagte man, er hätte sich beim Versuch, die weisse Gämse zu erlegen, in unwegsamem Gelände verirrt und sei abgestürzt.
Unter seinen Habseligkeiten fand man unter anderem ein rotes Hundehalsband. Es gehörte dem Rüden Seppi, der auf unerklärliche Weise zum gleichen Zeitpunkt verschwunden war wie Rudi.
Niemand fand das weiter verdächtig. Auch Ruth nicht. Es erfüllte sie nur mit tiefer Trauer und einem nie gekannten Hass Rudi gegenüber.
Niemand zweifelte noch daran, dass Rudi Seppis Mörder war.
Alle waren sich einig.
Und alle irrten sich.