Strang 2 / Kapitel 15
Was würde nur aus diesem nutzlosen Kind werden? Wusste dieses Gör denn überhaupt nichts zu schätzen? Auf ihrem Melkschemel sass Rosa Knecht vor der gleichnamigen Kuh und bearbeitete sanft, aber bestimmt deren Euter. In regelmässigen Spritzern floss die Milch in den Eimer, begleitet von den metallenen Klängen, wenn die Flüssigkeit auf das Blech traf. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Ritzen des Holzstalles. Man konnte den Staub in den Lichtstreifen tanzen sehen, die sich warm über die Rücken der geduldigen Kühe legten. Rosa fuhr mit der Hand über die Flanke der Kuh und sandte ihr ihren Stillen Dank für die immerzu fliessende, frische Milch. Dann erhob sich Rosa langsam. Vorsichtig bog sie den Rücken durch. Im Kreuz knackte es leise und Rosa liess zischend die Luft durch die zusammengebissenen Zähne entweichen. Sie war zu alt für eine solche Arbeit. Aber was hätte sie tun sollen? Ihre unnütze Tochter krümmte keinen Finger und Ruths Angebot, das Rosa aus ihrer Miesere geholfen hatte, abzulehnen, wäre ein Akt der Selbstverstümmelung gewesen.
Natürlich wusste Ruth um Rosas schlimmen Rücken, schliesslich waren sie Schwestern. Deshalb hatte Ruth auch Silina diese Arbeit zugewiesen. Aber wie immer war Silina nirgendwo zu finden.
Dem Kind schien alles egal zu sein.
Rosa umfasste den Henkel des Eimers und hob ihn an. Da schoss ein stechender Schmerz durch die Wirbelsäule. Rosa liess den Eimer los. Er landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem mit Stroh bedeckten Erdboden. Die Milch schwappte gefährlich in dem Gefäss. Es entwichen aber nur wenige Tropfen.
„Oh nein! Rosa!“ Ruth war gerade in den Stall gekommen um zu sehen, ob Silina sich vielleicht endlich ihren Aufgaben stellte. Stattdessen musste Ruth zusehen, wie Rosa sich unter Schmerzen abmühte. „Das musst du doch nicht tun. Ich hätte Ernst schicken können.“
„Die Zeit war zu knapp. Ernst war bereits weg, als sich Silina verdrückt hat.“
„Wo ist sie denn schon wieder?“ Ruth nahm den Kessel in die Hand und mit dem freien Arm stützte sie ihre Schwester.
„Sie ist aufgestanden, hat sich die Gummistiefel übergezogen und ist im Stall verschwunden. Ich hatte sie aus dem Schlafzimmerfenster beobachtet. Du kannst dir vorstellen, wie sehr mich dieser Anblick erfreut hat. Endlich, dachte ich, endlich hat sie’s verstanden. Ich wollte ihr sagen, wie stolz ich war, also ging ich eine halbe Stunde später ebenfalls in den Stall.“ Rosa sah enttäuscht zu Ruth auf.
„Aber sie war nicht da.“
„Nein. Sie war nicht da. Sie ist wohl durch die kleine Tür hinten aus dem Stall raus. Nicht einmal einen Eimer hatte sie geholt. Als ich die Milchkannen kontrollierte, waren sie noch leer. Dafür waren die Euter der Kühe prall gefüllt. Ich ging nochmals raus und habe nach Ernst gesucht, der war aber schon mit den Jungs weg.“
„Und warum hast du nicht mich geholt?“
„Wie kann ich dir eine Hilfe sein, wenn ich dich immer um Hilfe bitten muss?“
„Ach, Rosa! Sag nicht so etwas! Seit du Hans verloren hast, schlägst du dich so gut durch. Niemals hast du Hilfe angenommen, du hast die Wäscherei und die Schneiderei ganz alleine betrieben, bis dein Rücken nicht mehr mitmachte. Ich hätte dir schon viel früher geholfen, aber du hast es ja nicht zugelassen. Jetzt habe ich endlich die Chance, also lass mich diese auch nutzen.“
„Aber du sollst uns nicht aushalten müssen. Wir wollen nicht schmarotzen. Zumindest ich nicht.“
Ein Lächeln huschte über Ruths Gesicht. „Ich weiss. Aber bedenke, wir haben hier genügend Platz. Das Haus ist so gross. Es wäre mir lieber, wenn du uns mit deinen Kochkünsten beglücken würdest, als dich hier im Stall zu quälen. Für meine Nichte finden wir schon eine passende Beschäftigung. Ernst und die Jungs werden ihr noch Verstand einhauchen, glaube mir.“
Dankbar liess sich Rosa von Ruth zu einer Bank vor dem Haus begleiten. Dort angekommen liess Ruth ihre Schwester kurz alleine, um den Eimer mit Milch in die Kanne zu leeren.
„Welche muss noch gemolken werden?“ Ruth war mit ihrer kräftigen Stimme leicht über den ganzen Hof zu hören. Rosa hingegen musste sich anstrengen, wenn sie laut genug rufen wollte, damit Ruth sie verstehen konnte.
„Keine mehr.“
Ruth schüttelte tadelnd den Kopf. „Du Verrückte. Gut. Dann ist jetzt Pause angesagt. Wenn du unbedingt etwas tun willst, stell dich in die Küche. Aber sei dir nicht zu schade, einfach nichts zu tun. Verstanden?“
Rosa nickte leicht. Ruth wusste genau, dass Rosa die Finger nicht still halten würde. Aber was blieb ihr anderes übrig, als sie zu lassen? Wie konnte Rosas Tochter nur ein solch extremes Gegenteil ihrer Mutter werden? Sie würde es herausfinden. Jetzt sofort.
„Ich werde mich währenddessen mal auf die Suche nach deinem Balg machen, ja?“
Ruth wartete kurz das zustimmende Nicken ihrer Schwester ab und ging dann zurück in den Stall. Sie durchquerte ihn und trat auf der hinteren Seite wieder nach draussen. Es war ihr nicht wohl beim Gedanken, so viel Arbeit zurückzulassen, aber das musste jetzt einfach sein. Nur einmal.
Hinter dem Stall tat sich die offene Wiese auf. Das Gelände stieg an, bis das helle Grün in das dunklere des Waldes überging und der schliesslich im Grau der Berge endete. Da Ruth keine Ahnung hatte, wohin sie eigentlich gehen sollte, entschied sie die Richtung nach Gefühl.
Silina war faul. Die Wiese führte bergauf und Unterholz lag ihr nicht besonders. Also der Weg des geringsten Widerstandes. Ruth drehte sich um und ging als erstes an den Aussenwänden des Stalls entlang.
Keine Silina. Das wäre auch zu einfach gewesen.
Dann doch die Wiese. Ruth entschied, das Land einfach zu durchqueren. Sie wanderte bis zum Waldrand. Immer wieder rief sie nach Silina, hielt Ausschau und spähte in den Wald. Nichts. Entweder wollte sie nicht hören oder sie war weiter gekommen, als Ruth angenommen hatte. Der Stand der Sonne verriet Ruth, dass sie seit über einer Stunde unterwegs war. Obwohl sie mit jeder Minute mehr Lust hatte, der Kleinen die Leviten zu lesen, musste sie zurück. Sie durfte ihre Pflichten nicht länger vernachlässigen. Schliesslich hiess sie nicht Silina.
Die Kleine würde zurückkommen. Spätestens wenn es dunkel und sie hungrig wurde.
Aber sie kam nicht.
Die Nacht brach herein, die Männer waren zurückgekehrt, Rosa hatte sich um das Essen gekümmert und Ruth alles aufgeholt, was sie liegen gelassen hatte. Doch Silina blieb verschwunden.
Ernst hatte mit aufsteigender Wut Ruths Geschichte gelauscht. Inzwischen war der Ärger aber Sorge gewichen.
„Wo kann sie nur sein?“ Gregor stocherte abwesend in den Resten auf seinem Teller herum.
Keiner wusste eine Antwort. Schliesslich wurde es so still im Raum, dass nur noch die Kuckucksuhr mit ihrem leisen Ticken zu hören war.
„Mist!“ Mit einem Ruck schob Martin den Stuhl zurück, dass er umkippte und krachend auf dem Boden aufschlug.
Rosa und Ruth zuckten über der heftigen Reaktion zusammen. Antonius, Gregor und Ernst sahen Martin nur fragend an.
„Du wwwillst sie suchen?“ Antonius betrachtete seinen Bruder gutmütig.
Martin erwiderte nichts. Er schaute nur auffordernd in die Runde. Da erhob sich Gregor. Mit Bedacht schob er seinen Stuhl zurück. „Na, dann los.“
„Jungs, bald wird es stockfinster sein.“ Besorgt beobachtete Ruth, wie sich die Situation entwickelte.
„Mmama, ich bbleibe bei dir uund paass auf euch auf.“
„Gute Idee, Antonius.“ Ernst erhob sich ebenfalls. „Martin, du gehst in den Schopf und holst die Petroleumlampen. Gregor, du holst die Wolldecke aus dem Wohnzimmer und eine kleine Kanne Milch. Silina braucht vielleicht eine kleine Stärkung.“
Gesagt, getan. Wenige Minuten später trafen sich die Männer vor dem Haus.
Ruth war nicht wohl beim Gedanken, dass sie bei Nacht unterwegs sein würden. „Seid bitte vorsichtig. Der Nebel, die Tiere, die Felsen…“
Beruhigend legte Ernst den Arm um seine Frau. „…genau. Wie könnten wir Silina dem allem überlassen? Gerade sie, die noch weniger Ahnung hat als ein Schaf? Wir passen auf uns auf, das weisst du.“
Er küsste sie zum Abschied und drehte sich dann um. „Kommt, Jungs.“
Wie Ruth bereits am Nachmittag, gingen die drei zum Kuhstall. Von dort gingen sie den ersten Teil des Weges gemeinsam.
„Wir sollten uns trennen.“
Gregor sah seinen Bruder an, als hätte er den Verstand verloren. „Und wenn einem von uns etwas geschieht? Dann müssen wir den auch noch suchen. Das ist zu gefährlich.“
„Aber Mama hat doch heute hier alles schon alleine abgewandert. Ohne Erfolg. Wenn wir uns trennen, erhöhen sich unsere Chancen sie zu finden.“
Gregor nickte. „Papa? Was denkst du?“
Ernst starrte eine Weile schweigend ins Leere. Dann hob er den Kopf und betrachtete die Gesichter seiner Söhne. „Ihr seid fantastische Jungs, wisst ihr das? Solch ein Theater hatte ich mit euch nie. Gnade ihr Gott, wenn dieses kleine Ding mit ihrer Aktion dafür sorgt, dass einem von uns etwas zustösst!“
Martin und Gregor tauschten einen kurzen Blick. Wie aus einem Munde antworteten sie: „Also dann, auf geht‘s.“
Während Martin die Idee gehabt hatte, feilte Gregor den Plan weiter aus. „Gut. Papa, du gehst weiter geradeaus. Am Wald angekommen schlage ich vor, du folgst dem Trampelpfad, der am Waldrand entlang führt, und zwar folgst du ihm nach rechts. Du machst die grosse Route hinter unseren Indianerhöhlen von früher durch und zurück zum Haus. Ich gehe links, den Hügel hinunter, sicher bis zur Brücke, dort werde ich dann die Richtung wechseln und ebenfalls zum Wald gehen, dann in den Wald hinein und den Trampelpfad von der linken Seite her verfolgen. Martin, du gehst nach rechts bis zu unseren Indianerhöhlen. Die suchst du ab, dann gehst du die kleine Route vorne durch und zurück zum Haus. Alles klar?“
Alle nickten.
„In spätestens vier Stunden sollten wir alle beim Haus zurück sein.“
Ein Blick an den Nachthimmel und alle wussten Bescheid. Zwar war der Himmel bedeckt, doch hie und da schimmerte der Mond hervor. Das musste genügen, um ungefähr abzuschätzen, wann die vier Stunden um waren.
Weiterer Erklärungen bedurfte es nicht. Die Männer trennten sich in die angewiesenen Richtungen. Bis sie sich aus den Augen verloren, dauerte es seine Zeit. Doch dann waren alle auf sich allein gestellt.
Martin und Gregor waren früher oft in der Nacht heimlich zu ihren Indianerhöhlen aufgebrochen. Martin kannte daher jeden Stein und jede Wölbung dieses Gebiets. Die Höhlen waren nicht wirkliche Höhlen. Es waren eher Nischen in den Felsen und Mulden unter überhängendem Gestein. Sie lagen erhöht und waren halbkreisförmig angeordnet. In ihrer Freizeit hatten die Jungs so manches Material an diesen Ort geschleppt. So gab es nun auch waschechte Höhlenmalereien und eine grosse Feuerstelle, an der so manche Wurst gegrillt worden war.
Martin kam diesem Ort seiner Kindheit immer näher, ohne eine Spur von Silina zu entdecken. Er hoffte inständig, die anderen hätten mehr Glück.
Ernst näherte sich dem Wald. Mit den Geräuschen der Nacht war er vertraut. Es machte ihm nichts aus, alleine hier zu sein. Sonst hätte er diesen Ort nicht als Heim wählen dürfen. Aber es beunruhigte ihn, dass er keine Anzeichen entdecken konnte, die davon zeugten, dass kürzlich ein anderer Mensch diesen Weg gegangen war. Am Vortag hatte es noch geregnet. Trotz des heutigen Sonnenscheins war der Boden an manchen Stellen noch immer feucht. Dort mussten sich doch Fussabdrücke finden. Es konnte doch nicht sein, dass Silina jeder matschigen Stelle so penibel ausgewichen war.
Es sei denn, sie war nicht hier gewesen.
Ernst musste einfach glauben, dass seine Söhne mehr Erfolg hatten.
Gregor wanderte durch die Dunkelheit. Seine Lampe bewegte er immer im Halbkreis um sich herum, um ja nichts zu verpassen. Eigentlich machten ihm die nächtlichen Schatten nichts aus. Aber generell fühlte er sich wohler in seinem kleinen Büro. Dort war jedes Geräusch, jede Bewegung und jeder Geruch vertraut. Hier lauerten Dinge, die er nicht berechnen konnte und das bereitete ihm Unbehagen. Aber er zog weiter. Die Umgebung fest im Auge. So gut es eben ging.
Vom Wind getragen waberten Gregor in kleinen Fetzen die ersten Nebelschwaden entgegen. Er wusste, was das bedeutete. Der Fluss war nicht mehr weit. Ihn fröstelte. Seit er seinen Bruder und seinen Vater verlassen hatte, hielt er das erste Mal an. Er stellte die Lampe vor seine Füsse und rieb sich die Hände warm. Auf einmal hielt er inne.
War da nicht etwas gewesen?
Er drehte sich um, hob die Lampe wieder an und leuchtete in die Nacht.
Nichts.
Kopfschüttelnd senkte er den Arm und wandte sich ab. Und da war es wieder.
Ein kaum hörbares Winseln. Oder ein Stöhnen?
Gregor hatte Mühe, Ruhe zu bewahren. War das Silina?
Er strengte sich an und horchte.
Es war der Wind. Der Wind trug ihm die Geräusche zu. Sie kamen aus der Richtung, in die er eigentlich unterwegs war. Sofort setzte Gregor seinen Weg fort. Was, wenn sie in den Fluss gefallen war? Das Wasser war eisig kalt…
Gregor gestattete sich keinen weiteren Gedanken. Stattdessen beschleunigte er seinen Schritt. Er horchte noch einmal auf. Aber der Wind schwieg. Das Geräusch war verschwunden. Beunruhigt hastete Gregor weiter.
Dabei übersah er eine Wurzel. Er stolperte, konnte sich aber gerade noch auf den Füssen halten. Er wollte nach etwas greifen, das ihm Halt bot, aber es gab auf dem offenen Feld nichts. Er strauchelte einige Schritte vorwärts, bis er sein Gleichgewicht wiederfand. Fluchend kam er zum Stehen. Als er entdeckte, wo er stand, kroch ihm der Schrecken in die Glieder.
Er stand direkt am Flussbett. Ein Schritt weiter und er hätte sich in den Verwirbelungen des Wassers wiedergefunden. Erleichtert trat er weg von der Kante. Er dachte an seine Eltern und daran, was sie über diesen Flussabschnitt gesagt hatten. So manches Tier ertrank an dieser Stelle, denn unter der harmlos aussehenden Wasseroberfläche trieben gefährliche Strudel ihr Unwesen. Sie konnten jemanden unter Wasser ziehen und liessen ihn nicht mehr los, bis er nach Luft ringend nur Wasser einatmete und schliesslich kläglich ertrank.
War Silina diese Grausamkeit zugestossen? Gott bewahre…
Gregor wandte sich in Richtung der Brücke. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er die dunklen Umrisse der alten Steinbrücke zu erkennen. Aber der Nebel war zu dicht. Immer Ohren und Augen offen näherte er sich der Brücke. Da erhoben sich in dem undurchdringlichen Nebel langsam schemenhafte Umrisse.
Die Brücke. Sein Fixpunkt auf dieser Suche. Er war zum Greifen nah.
Aber was war das?
Die Umrisse zeichneten den Brückenbogen. Doch in der Mitte des Bogens erhob sich ein schmaler länglicher Schatten.
Gregor kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Stand da jemand?
Silina?
Ehe er sich weitere Gedanken machen konnte, rannten seine Füsse bereits los.
Er kam am Brückenkopf an. Aber nicht weiter.
Der Nebel bewegte sich. Zwischen das gräuliche Weiss mischte sich ein dunkler Schatten.
Gregor blieb abrupt stehen. Er konnte nicht einordnen, was er sah. Sein Mut wollte ihn verlassen, aber Gregor war stärker. Er trat auf die Brücke. Schritt für Schritt arbeitete er sich vorwärts. Immer weiter auf die Mitte zu. Immer weiter auf den hohen dunklen Schatten zu.
Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen.
Auf halben Weg kam ihm die Erinnerung.
Was für ein Idiot er doch war. Seine Nervosität entlud sich in einem leisen Auflachen.
Die Marienstatue. Natürlich. Sie stand auf dem Rand der Brücke. In der Mitte. Das war die dunkle Erhöhung.
Die Jungfrau Maria war vor Wind und Wetter geschützt in einem steinernen Pavillon auf der Brüstung in der Mitte der Brücke platziert worden. Die heilige Jungfrau sollte diejenigen
schützen, die diesen Weg passierten.
Erleichtert ging Gregor auf die Stelle zu. Er hob seine Lampe und leuchtete in den Pavillon. Aber der war leer.
Neugierig trat Gregor noch einen Schritt näher. Da stiess er mit dem Fuss gegen etwas, das auf dem Boden lag.
Verwundert suchte er mit Hilfe seiner Lampe den Boden vor sich ab.
Der Schreck fuhr ihm durch Mark und Bein.
Er wusste nicht, was er zu finden erwartet hatte. Auf keinen Fall das.
„Silina!“
In einen dunklen Umhang gehüllt lag der Körper der zierlichen Frau auf dem kalten Stein.
Daneben die Statue der Heiligen Jungfrau Maria.
Gregor liess sich auf die Knie fallen. Ihr Kopf war zur Seite gedreht und von einer Kapuze eingehüllt, die auch ihr Gesicht verbarg. In der Hand hielt sie eine Spindel.
Er umschloss ihren Kopf mit beiden Händen, um ihn vorsichtig zu sich drehen zu können.
Unter seiner Hand wurde es feucht und klebrig.
Gregor zögerte kurz. Dann fuhr er in seinem Vorhaben fort.
Aber er wusste es bereits.
Er drehte ihren Kopf so, dass er in ihr Gesicht sehen konnte.
Und sie sah in seines.
Aus leeren, starren Augen.
Gregor tastete sicherheitshalber nach ihrem Puls. Unter ihrer eisigen Haut fand er aber kein Leben mehr.
Er liess sie los. Langsam setzte er sich neben sie. Fassungslos starrte er seine Hände an. Sie glänzten. Blutverschmiert.
Sein Blick wanderte zurück zu Silina‘s leblosem Körper. An ihrer Schläfe klaffte eine Wunde.
An der Statue neben ihr klebte die schwarzrötliche Masse.
Gregor war fassungslos.
Hätte er sie lebend finden können, wenn er nur schneller gewesen wäre?
Nein. Die Blutgerinnung an der Wunde hatte bereits eingesetzt. Die Blutlache war dabei zu trocknen. Sie war schon längere Zeit tot. Aber was waren das dann für Geräusche, die ihm der Wind zugetragen hatte? Tiere? Wahrscheinlich. Eine andere Erklärung hatte er nicht.
Gregor wusste nicht wie lange er regungslos dagesessen hatte.
Scheinbar eine Ewigkeit. Denn plötzlich hörte er Stimmen. Sie riefen laut seinen Namen.
Ehe er antworten konnte, tauchte Martin aus dem Nebel auf.
„Gregor! Was ist denn passiert?“ Da entdeckte auch Martin die Leiche. Wie bei einem gehetzten Tier wanderte sein Blick von der Leiche über Gregors blutverschmierte Hände zum leeren Pavillon und zurück.
„Oh, nein. Oh mein Gott, nein! Paps! Ich habe sie! Ich habe sie beide! Hier auf der Brücke! Aber Paps, es ist etwas Schreckliches geschehen…“