Strang 1 / Kapitel 5
Emma machte in dieser Nacht kein Auge zu. Immer und immer wieder drehten sich die Gedanken um die Ereignisse des vergangenen Tages. Begonnen mit ihrer Nervosität vor der Hausbesichtigung, über das verträumte Gesicht der schwangeren Käuferin zu der anfänglich erheiternden Begegnung mit Martin, die dann äusserst unerfreulich endete und schliesslich ihr Schlussstrich unter eine lieblose Beziehung mit einem Egomanen. Super.
Emma sah auf die Zeitanzeige ihres digitalen Weckers. So deutlich, als würden sie sie verhöhnen, leuchteten ihr die Ziffern entgegen. Fünf Uhr. Weder die Zeit um aufzustehen, noch die Zeit um einzuschlafen. Entnervt und ratlos rollte sich Emma aus dem Bett. Sie trat an den grossen Kleiderschrank heran und zog sich das Erstbeste aus ihrem Fach für Sportkleidung über. Viel Auswahl lag darin sowieso nicht. Ihre langen Haare band sie zu einem Pferdeschwanz. Sie schlüpfte in ihre Joggingschuhe und trat anschliessend auf die Strasse. Es war noch nicht allzulange her, seit sie mit dem Laufen begonnen hatte. Die ersten Minuten kosteten sie auch jedes Mal aufs Neue Überwindung. Aber sobald die Muskeln warm wurden und der Körper sich an die Bewegungsabläufe erinnerte, bekam sie das Gefühl ewig joggen zu können. Ohne ein fixes Ziel rannte sie los. Sie genoss die kühle Morgenluft und die ganz eigene Stille der Umgebung. Zwar war der Tag noch nicht richtig angebrochen, dennoch brodelte unter dem Frieden bereits die Betriebsamkeit des Tages.
Nur noch eine Ecke, dann eine Pause.
Ausgepowert stützte sich Emma an der nächstbesten Hauswand ab. Um Atem ringend beugte sie sich vornüber. Ihre übersäuerten Muskeln schrien förmlich nach Dehnung. Den Boden konnte sie nicht berühren, dafür war sie zu ungelenk. Aber um die Hände auf die Schienbeine zu legen reichten auch ihre Bänder aus. Die Welt sah aus dieser Position seltsam aus. Alles stand auf dem Kopf. Auch der Mann, der hinter sie getreten war.
Erst nahm sie die zwei Beine wahr. Dann den Spazierstock. Und schliesslich fiel der Groschen. Sie war direkt zum alten Stadthaus zurückgerannt.
Langsam richtete sie sich auf und drehte sich um.
„Hallo Martin.“
„Guten Morgen Emma. So früh schon unterwegs?“
„Diese Frage kann ich zurückgeben.“
Martin nickte bedauernd. „Schlaflosigkeit. Und deine Ausrede?“
„Dasselbe. Die Ereignisse gestern gaben mir zu denken.“ Emma sah Martin forschend an. Sollte sie aufs Geratewohl mit der Sprache rausrücken? Und ob. „Vor allem dein plötzlicher Rausschmiss.“
„Das war nicht in Ordnung, ich weiss. Aber die Geschichte hat mich aufgewühlt. Ich habe sie lange niemandem mehr erzählt.“
Emma dachte kurz nach. „Machen wir einen Deal. Ich habe gestern nach deiner Abfuhr noch etwas anderes erledigt, das dich interessieren könnte. Wenn ich dir das erzähle, beantwortest du mir eine Frage, die mir seit deiner Erzählung nicht mehr aus dem Kopf will.“
Martins Gesicht blieb regungslos. Doch dann hoben sich langsam die Mundwinkel und formten ein Lächeln. „In Ordnung. Aber nur wenn du mich zum Frühstück einlädst.“
Emma sah an sich hinunter. Sie war verschwitzt und ihr Gesicht leuchtete von der Anstrengung bestimmt in einem fröhlichen Rot. Was soll’s. Sie willigte ein.
„Wohin?“
„Ich kenne da ein kleines Kaffee mit sensationellen Frühstücksplatten.“
„Um diese Zeit?“ Emma legt skeptisch die Stirn in Falten, doch Martin wies sie an, ihm zu folgen.
Das kleine Kaffee an der Strassenecke war tatsächlich bezaubernd. Alles war in unterschiedlichen Brauntönen gehalten. Es hatte nur wenige Tische und drei Sitzecken, umgeben von einem urwaldähnlichen Pflanzenmeer. Hinten im Raum befand sich eine kleine Theke, deren Ausstattung in Altrosa gehalten war. Man fühlte sich, als sässe man in einem riesigen Kuchen mit rosa Zuckerguss. Emma wunderte sich, dass sie diese Lokalität nicht schon früher entdeckt hatte.
Da sie die ersten waren, konnten sie sich ihren Platz auswählen. Sie setzten sich in eine der Nischen.
„Gut. Du zuerst. Was hast du gestern angestellt?“
„Ich habe den Pflanzenmörder kalt gestellt.“
Überrascht wich Martin zurück. „Tatsache? Einfach so?“
„Nicht ganz. Er hatte wohl eine oder auch mehrere Affären. Das habe ich gestern in Form eines BH’s herausgefunden.“
„Erst gestern?“
Emma schnaubte verächtlich. Nein, nicht wirklich. „Ich schätze, eine Ahnung hatte ich schon länger. Aber es ist so eine Sache mit dem Nichtwahrhabenwollen.“
„Verstehe. Was ist passiert?“
Sie erzählte die ganze Geschichte. Dazwischen kam die Kellnerin, um ihre Bestellung aufzunehmen, verschwand und kam zurück um die Bestellung zu servieren.
„…dann habe ich ihn noch ein wenig heiss gemacht und bin gegangen. Arschwackelnd.“
Martin bemühte sich ernsthaft, doch er konnte nicht mehr anders. Er prustete laut los. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder erholte. „Emma, du hast dir deine Frage verdient. So gelacht habe ich schon lange nicht mehr.“ Grinsend wischte er sich eine Träne aus dem Auge.
„Gut. Aber diesmal machst du keinen Rückzieher. Klar?“
„Ehrenwort.“
„Was geschah dann?“
Prüfend sah Martin Emma in die Augen. „Du wirst eine Antwort auf diese Frage erhalten. Aber nicht sofort.“
Emma wollte bereits zum Widerspruch ansetzen, aber er unterbrach sie mit einer einzigen Handbewegung. „Hör mich an. Ich habe den Kontakt zu dir nicht zufällig gesucht.“
Wieder wollte Emma widersprechen. Aber sie besann sich eines Besseren.
„Du bist Immobilienmaklerin und du bist gut in dem, was du tust. Keine Widerworte. Ich habe dich beobachtet. Es gibt ein Haus auf einem ansehnlichen Grundstück. Niemand will dieses Anwesen haben. Es ist wie verhext. Aber ich glaube, du kannst den wahren Wert dieser Liegenschaft erkennen und sie aus dem Schlaf holen.“
„Ist das ein Auftrag?“
„Man kann es als solchen werten. Ja.“
„Wo liegt dieses Hexenhaus?“
„In Weiler.“
„Weiler? Ich fürchte, du musst schon etwas präziser werden. Davon gibt es einige.“
„Im Kanton Bern.“
„Ja…?“
Unter Emmas verwundertem Blick zog Martin eine Landkarte aus der Innentasche seines Jackets und breitete sie vor ihnen auf dem Tisch aus.
„Trägst du diese Karte immer bei dir?“
„Erst seit ich dich getroffen habe.“
Überrascht sah Emma von der Karte auf. Was ging hier vor?
Aber sie schwieg. Sie hatte begriffen. Er würde ihr nichts erklären. Sie musste es selbst herausfinden.
Eine Frage erlaubte sie sich jedoch noch. „Und wenn ich es mir ansehe, was dann?“
„Geh einfach hin und verschaff dir einen Eindruck. Wirst du das für mich tun?“
Sie wollte zögern, aber das Ja lag so weit vorne auf ihrer Zungenspitze, dass es richtiggehend aus ihrem Mund purzelte. „Ich schätze, ich brauche sowieso einen Luftwechsel. Wann geht’s los?“
„Wann immer du willst.“
Emma legte sechzig Franken auf den Tisch und erhob sich. „Wie wär‘s mit sofort?“