Strang 1 / Kapitel 18
Kirchen hatten einige Vorteile. Sie waren meist schon von weit her sichtbar und standen in der Regel mitten im Dorf. So musste Emma nicht suchen und konnte das Gotteshaus auf direktem Weg ansteuern. Von ihrem Hotel aus brauchte sie wenige Minuten zu Fuss. Sie öffnete die schwere Holztür und trat in das Kirchenschiff ein. Emma war positiv überrascht. Von aussen machte die Kirche bereits den Eindruck, als wäre sie neueren Datums, von innen bestätigte sich diese Vermutung. Die hohen Fenster waren mit wunderschönen Motiven ausgestattet, die in kräftigen Farben leuchteten. Die Wände waren weiss getüncht und man hatte helles Holz verwendet. Die Kirche wirkte hell und freundlich.
Ihre Schritte hallten durch den Raum, als sie auf den Altar zuging.
Sie fürchtete schon, alleine zu sein, als sich die schmale Tür zur Sakristei öffnete. Ein junger Mann kam heraus, der erstaunt aufsah, als Emma ihn ansprach.
„Entschuldigung? Sind Sie der Pfarrer?“
„So ist es. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Oh. Ich bin mir nicht sicher. Sie sind irgendwie so jung.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Ein Jammer, dass die Frauenwelt diesen Mann an die Kirche verloren hatte, ging es Emma sofort durch den Kopf.
„Stellt mein Alter denn ein Hindernis dar?“
„Möglicherweise.“ Emma dachte kurz über ihre Worte nach. „Tut mir leid, das war nicht besonders nett. Ich habe mich nur gefragt… Wie soll ich sagen…?“
„…so, wie es Ihnen einfällt. Ich fand den Anfang unserer Begegnung ganz witzig. Ich bin gespannt, wie es weiter geht. Also genieren Sie sich nicht.“
„Gut.“ Emma ordnete ihre Gedanken. „Ein Pfarrer weiss doch meistens wesentlich mehr über seine Schäfchen und gewisse Vorkommnisse, als manch anderer.“
„Das ist richtig. Aber dieses Wissen ist meist auch im Vertrauen ausgetauscht worden.“
„Verstehe. Aber gilt das auch, wenn die Betroffenen alle tot sind?“
Der Pfarrer zog fragend eine Augenbraue hoch. „Sie sind alle tot? Dann, glaube ich, weiss ich, weswegen Sie mich aufsuchen. Sie sind die junge Dame, die seit ihrer Ankunft ganz schön für Wirbel sorgt. Stimmt’s?“
Emma fand es seltsam, von einem Pfarrer als junge Dame bezeichnet zu werden, der kaum älter war als sie selbst. „Schätze, ich habe das schlafende Nest tatsächlich etwas unsanft geweckt. Aber das war nie meine Absicht. Ich war ja völlig ahnungslos, als ich hier ankam.“
„Keiner macht Ihnen einen Vorwurf.“
„Ach, nein? Das sehen Ihre Schäfchen wohl etwas anders.“
„Da mögen Sie Recht haben. Aber ich mache Ihnen keinen. Daher bin ich ganz Ohr.“
Emma lächelte den Pfarrer dankbar an. „Mir geht die Sache mit dem Fluch nicht mehr aus dem Kopf. Dann kamen noch die Themen Sünde und Gottesfurcht zur Sprache. Irgendwie erinnerte mich das alles ein wenig an Zeiten, in denen die Kirche, oder eher deren Hüter, noch mit drohendem Finger auf die Menschen zeigte. Vor allem, wenn unerklärliches Unheil über das Land zog.“
„Ich glaube, ich verstehe. Sie fragen sich, was die Reichs ausgefressen haben könnten, um ein solches Schicksal zu verdienen?“
Emma nickte vage. „Ja, so in etwa.“
„Tja, dann haben Sie Recht mit meinem Alter. So genau erhielt ich keine Einsicht in die Familiengeschichte, als ich hierher kam. Mein Vorgänger weiss da sicher mehr.“
Enttäuscht blies Emma ihre Backen auf und liess die Luft dann langsam wieder entweichen, als der Pfarrer den Blickkontakt wieder aufzubauen suchte. „Aber ein bisschen was kann ich Ihnen vielleicht trotzdem auf den Weg geben.“
„Im Ernst? Was denn?“ Auf einmal war Emma ganz aufgeregt. Ihr ganzer Körper kribbelte, als sässe sie auf einem Ameisennest.
„Warten Sie. Da war der Bernard Reich, nein, Knecht, Bernard Knecht“, korrigierte er sich. „Er war der Bruder der Frau Reich. Und sie war eine ehemalige Knecht. So stimmt’s. Jedenfalls waren dieser Bernard und seine Frau Käthe stolze Besitzer eines ansehnlichen Hauses ein ganzes Stück weiter hinten im Tal. Sie lebten zusammen mit Käthes Mutter unter einem Dach. Offenbar wollte das Ehepaar Knecht das Haus aber umbauen oder sie bauten es gar um. In den neuen Plänen fand aber die alte Dame keinen Platz mehr. Anstatt die Pläne anzupassen, wollte man die Frau kurzerhand ausquartieren. Soweit ich mich erinnere, fand das Ehepaar aber nicht gleich ein freies Zimmer im Altersheim, also begann der Umbau, noch während die Dame im Haus lebte. Man riss Wände ein, um die Räume heller und grösser zu gestalten. Diesen Massnahmen fiel das Schlafzimmer der alten Dame zum Opfer, noch während sie darin wohnte.“
„Wie jetzt? Dann hatte die Gute eines schönen Tages einfach keine Wände mehr?“
„So kann man sich das wohl vorstellen. Man munkelt, diese drastische Art hätte dazu führen sollen, dass die alte Dame es zu ungemütlich fand, weiter dort zu hausen und freiwillig auszog. Dieser Schuss ging aber nach hinten los. Einer der grossen Deckenbalken barst in zwei Teile und hätte die Gute beinahe erwischt. Der Boden zum oberen Stockwerk brach an dieser Stelle ein, aber der Schutt traf sie nicht. Dennoch schien die Aufregung zu viel gewesen zu sein. Sie legte sich in ihr staubiges Bett - wohl um sich zu beruhigen - schlief ein, und wachte nie wieder auf.“
„Das ist ja gemein!“ Emma war empört. „Bernard und Käthe haben die alte Dame auf dem Gewissen. Dachten die Menschen hier deshalb, die beiden hätten dafür die Quittung erhalten?“
Der Pfarre nickte zustimmend. „Das und weil sie die Mutter nicht ehrten.“
„Die zehn Gebote.“ Auf einmal zog sich Emmas Magen zusammen. „Du sollst Vater und Mutter ehren.“
„Ich bin beeindruckt.“
„Glücksgriff. Ich kenne lange nicht alle. Aber kennen Sie dafür noch mehr Hintergrundgeschichten?“
„Spontan fällt mir noch die von Miriam und Ruben ein. Soweit ich weiss, war Miriam die Schwester vom Vater Reich, also von Ruths Ehemann. Sie hat sich aus Verzweiflung am Tenn in der Hütte auf der Alp erhängt, weil ihr Ruben von dort nicht mehr zu ihr zurückgekommen ist, während alle anderen Bauern nach dem Sommer auf der Alp zusammen mit ihrem Vieh wieder nach Hause gefunden hatten. Ruben sagte man sowieso schon Vielweiberei nach, und als er dann noch die Rückkehr verpasste, wurde es Miriam zu bunt. Sie wollte es genau wissen, marschierte alleine auf die Alp. Was dann dort oben geschah, weiss niemand so genau. Jedenfalls fanden die Reich-Jungs Miriam schliesslich an einem Strick hängend im Tenn wieder. Sie begruben sie.“
„Und Ruben?“
„Den sah man nie wieder. Man könnte meinen, er sei einfach abgehauen. Seltsam erscheint dann aber, was des Nachts nach der Beerdigung Miriams geschah.“
Emma bekam Gänsehaut. „Was ist passiert?“
„Die Alphütte brannte bis auf die Grundmauern nieder. Einfach so.“
„Einfach so?“
„So scheint es zumindest. Im Dorf hält sich aber hartnäckig das Gerücht, Miriam hätte das Haus angezündet.“
„Aber Miriam war doch tot, oder doch nicht?“
„Oh, sie war tot. Aber sie hatte Selbstmord begangen. Sich den Todeszeitpunkt selbst zu erwählen war ein Akt gegen das Schicksal. Der Todeszeitpunkt eines jeden ist vorbestimmt. Nimmt man sich das Recht, oder eher die Frechheit, heraus, sich über diese Bestimmung hinwegzusetzen, muss man büssen. Und zwar bis zu dem Tag, an dem der Tod eigentlich hätte kommen sollen. So ist die Regel.“ In den Augen des Pfarrers flackerte der Schalk, aber Emma wusste, was heute wie ein schlechter Scherz klang, war vor 30 Jahren todernst. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nachdenklich starrte Emma auf ihre Füsse.
„Vielweiberei. Also Ehebruch. Ebenfalls eines der Gebote. Der Selbstmord passt aber nicht so richtig in diese Liste.“
„Was ist damit, dass man nicht töten soll?“, gab der Pfarrer zu bedenken.
„Gehört der Mord an sich selbst da auch dazu?“
Der Pfarrer zuckte mit Schultern. „Ich habe mich noch nie so genau mit dem Gedanken auseinandersetzen müssen, wie sich das fünfte Gebot auslegen lässt. Es gibt hierzu sicher einige spannende Meinungen. Dem gehe ich mal nach, aus reiner Neugierde.“
Sofort war Emma wieder wohler. „Ihnen fällt nicht zufällig noch etwas ein?“
Ein kurzer Blick gen‘ Himmel, ein Naserümpfen, dann folgte die Andeutung eines Kopfschüttelns. „Nein, das war’s, glaube ich. Aber wenn mir noch etwas einfällt, weiss ich, wo ich Sie finde.“
„Danke. Und auch wenn Sie’s nicht wüssten, das Dorf weiss es auf jeden Fall.“
Er musste lächeln.
Ja. Wirklich ein Verlust für die Frauenwelt.
Emma drehte ihm den Rücken zu und spazierte zum Haupteingang zurück. Sie war schon fast zur Tür raus, als der Pfarrer sie zurückrief.
„Mein Vorgänger, er weiss bestimmt mehr!“
Emma drehte sich noch einmal zu ihm um. „Und wo finde ich ihn?“
„Er ist wohl auf der Jagd.“
„Auf der Jagd? Um diese Jahreszeit? Was jagt er? Schmetterlinge?“
„Fast. Käfer.“
„Urgh, wie eklig. Und wann kann man normalerweise mit ihm sprechen?“
„Entweder Sie gehen in seine Waldhütte oder Sie warten, bis er zurückkommt.“
„Dann warte ich.“
„Das dauert in der Regel aber bis zu einem Monat.“
„Oh. Dann denke ich nochmals darüber nach. Wo finde ich denn diese Waldhütte?“
„Sie folgen der alten Strasse, die zum Grundstück der Reichs führt, fahren aber an der Abzweigung vorbei, immer weiter bis auf die Anhöhe. Am Strassenrand finden Sie ein verwittertes Holzkreuz. Das steht aber nicht dort um einen Unfallort zu kennzeichnen, sondern den Weg zur Hütte.“
„Er hat sich das Zeichen seines Berufes als Logo genommen? So wie der Seefahrer sich einen Anker tätowieren lässt?“
„Dann noch lieber das Kreuz an der Strasse, als ein Kruzifix in der Haut. Meinen Sie nicht?“
„Auf jeden Fall! Vielen Dank!“ Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln und verliess das Gotteshaus.
Sollte sie den Pfarrer wirklich aufsuchen? Ging er nicht in seine Waldhütte um Ruhe zu haben? Wahrscheinlich würde er sie mit Schimpf und Schande vertreiben, wenn er erst erfuhr, wofür sie sich interessierte. Und wie sollte sie dorthin kommen? Sie hatte kein Auto mehr. Denjenigen, den sie um einen Chauffeursdienst hätte bitten können, hatte sie verärgert.
Ob Walter ihr noch ein Auto geben würde?
Und da fiel ihr ein, weshalb Ben ein gelbes Motorrad fuhr und nicht seine schwarze Maschine und warum sie auch das zweite Auto verloren hatte.
Die Felslawine.
Was hatte der Pfarrer gesagt, welche Strasse sie nehmen sollte? Die zu den Reichs?
Wunderbar. Genau die Strasse war zugeschüttet.
Sie konnte überhaupt nicht zu der Hütte gelangen. Und der alte Pfarrer konnte umgekehrt nicht mehr ins Dorf zurück. Es sein denn, er kannte einen Weg zu Fuss.
Es gab sicher einen Wanderweg. Nur, wie lange wäre sie unterwegs? War das sinnvoll?
Emma gab sich ein Nein zur Antwort. Es musste doch noch jemand anderes geben, der Bescheid wusste und sein Wissen auch mit ihr teilen wollte.
Grübelnd schlenderte Emma an der Seite des Kirchenschiffs entlang, bis zum Fuss des erhabenen Glockenturms. Als sie den Weg einschlagen wollte, der vom Kirchgelände weg führte, hörte sie über sich ein schabendes Geräusch. Sie blieb stehen und blickte nach oben. Neugierig musterte sie den Glockenturm und dessen Öffnungen, aber sie konnte nichts entdecken. Achselzuckend setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie machte einen Schritt. Nur einen einzigen. Da traf etwas klirrend auf dem Boden auf. Direkt neben ihr.
Emma fuhr erschrocken herum. Unzählige steinerne Scherben lagen auf dem Boden verteilt. Exakt dort, wo sie gerade eben noch gestanden hatte.
Zögernd erhob Emma den Blick noch einmal. Wieder konnte sie nichts Ungewöhnliches erkennen. Nur eine Taube, die aus einer der Öffnungen davon flog.
Stirnrunzelnd besah sie sich die Scherben.
Eine Figur. Eindeutig. Ein Stück des Bildnisses war in Takt geblieben. Es zeigte ein Gesicht. Und Emma erkannte, um wessen Gesicht es sich handelte.
Neben ihr auf der Erde lag zerbrochen eine Statue der heiligen Jungfrau Maria. Emma wurde unheimlich zumute.
Wenn das kein schlechtes Omen war...
Schaudernd verliess sie das Gelände ohne dem Pfarrer von der zerstörten Figur zu berichten.
Er hielt sich hinter dem Mauervorsprung der Öffnung im Kirchturm verborgen. Neben ihm hing schwer die riesige, gusseiserne Glocke. "Die Nachtspinnerin soll das gewesen sein. Die Tochter glaubte ihrer Mutter aber nicht. Sie sprach nur von dem steinernen Heiligenbild auf der Brücke. Doch beim Näherkommen erkannte auch die Tochter, dass auf der Brücke eine Frau im schneeweissen Gewand sass. Die Mutter bekreuzigte sich respektvoll, die Tochter ging Lieder singend über die Brücke", flüsterte er grimmig vor sich hin. "Und was war dann? Die Tochter erblindete. Und in meiner eigenen Interpretation dieser erheiternden Geschichte starb das faule Ding von Tochter. Erschlagen von der Jungfrau Maria, dem Heiligenbild auf der Brücke. Und dir, meine Liebe, hat die gute Jungfrau wohl einen ganz schönen Schrecken eingejagt."
Und wie wundervoll sich seine Taube in den Himmel erhoben hatte, nachdem die Statue abgestürzt war. Ganz zufällig, natürlich.
Er kicherte.
Das war ein erheiterndes Zwischenspiel gewesen. Nun galt es aber, sich wieder den aufwendigeren Inszenierungen zu widmen.