Strang 2 / Kapitel 20
„Da bist du ja! Was machst du denn da oben?“ Martin stand unten in der Scheune und sah hoch zum Heuboden. „Vater braucht die Bücher mit den neuen Zahlen. Er kann sie nicht finden. Kannst sie ihm geben?“
Gregor legte die Heugabel beiseite. Er trat näher an die Kante heran und schaute auf seinen Bruder herab. Er wankte leicht, als würde er das Gleichgewicht verlieren. Plötzlich machte er noch einen Schritt nach vorne. Direkt auf den Abgrund zu. Bedrohlich nahe am Rand setzte er den Fuss wieder ab.
Martin zuckte erschrocken zusammen. „Gregor! Pass doch auf, Mensch!“
„Tu ich ja. Keine Sorge. Paps will die Bücher? Paps kann die Bücher haben.“ Gregor trottete zur Leiter. Etwas unbeholfen stieg er auf die Sprossen.
Unten angekommen hüpfte er von der letzten Sprosse weg, riss die Arme in die Luft und rief begeistert: „Da bin ich!“
„Ja, das sehe ich.“ Skeptisch musterte Martin seinen Bruder. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er ihn für betrunken gehalten.
Gregor wankte leicht, als er den Ausgang der Scheune ansteuerte. Auf einmal blieb er stehen. Er riss den Kopf nach oben und zog langsam den Finger nach. Er zeigte auf den Balken im Tenn. „Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass Miriam an genau einem solchen Balken baumelte, als wir sie fanden?“
Martin schüttelte nur den Kopf. Er legte den Arm um seinen Bruder und zog ihn mit. „Komm. Vater wartet.“
Martin stellte Gregor bei Erwin ab. „Hier hast du deinen Sohn. Er benimmt sich heute etwas seltsam. Die Luft auf dem Heuboden war ihm vielleicht etwas zu dünn.“
„Auf dem Heuboden?“ Erwin liess den Blick verwundert von einem Sohn zum anderen wandern.
„Keine Ahnung, was er da oben gesucht hat. Frag gar nicht erst.“
Erwin folgte Martins Rat und fragte nicht. Stattdessen schickte er Gregor voraus die Bücher zu holen. Leichtfüssig tänzelte Gregor zum Seiteneingang des Haupthauses. Dorthin, wo sich das Büro befand. Dass er nicht noch ein Liedchen trällerte, war auch schon alles.
Martin sah ihm noch nach, bis er hinter der Tür verschwunden war.
Seltsam. Zuerst bekam er kaum einen Fuss vor den anderen, jetzt tanzte er förmlich.
Martin war gespannt, was als nächstes kommen würde.
Gregor betrat mit Schwung sein Büro, rasselte in das Bücherregal, das gegenüber der Tür aufgebaut war und landete in seinem hölzernen Drehstuhl. Marke Eigenbau.
Erwin folgte ihm in einigem Abstand. Als sein Schatten in der Tür auftauchte, gab Gregor dem Stuhl einen Stoss. Der Stuhl wirbelte drei Mal um die eigene Achse. Dann bremste ihn Gregor so ab, dass er mit dem Gesicht zu seinem Vater zum Stillstand kam.
Auch jetzt zog Erwin nur eine Augenbraue hoch. Seine Fragen schluckte er aber hinunter. Bis auf eine. „Gregor, wo hast du die neuen Zahlen?“
Gregor verzog seinen Mund zu einer Fratze, dann zu einem Lächeln. „Im Nirgendwo.“
„Gregor, was soll das heissen?“
„Sie sind überall und doch nirgends.“
Erwin wurde ungeduldig. „Ich habe noch anderes zu tun. Also lass das und gib mir einfach die Bücher, ja?“
„Nein.“
Erwin sog scharf die Luft ein. „Und warum nicht?“
„Weil es sie nicht gibt.“
„Wie bitte?“
„Du weisst schon. Ich habe sie nicht. Es gibt sie nicht.“
Langsam dämmerte Erwin, was Gregor sagen wollte. „Sekunde. Willst du mir mitteilen, dass du die Buchhaltung nicht gemacht hast?“
„Jetzt hat er’s!“, rief Gregor in Richtung des schmutzigen Fensters. Als stünde da sein Publikum.
„Gregor.“ Erwin atmete schwer aus. „Es ist gut. Es muss nicht heute sein. Aber bitte, mach deine Arbeit. Gib mir die Bücher Ende Woche. In Ordnung?“
„Ja, Sir!“ Gregor riss die linke Hand zur Schläfe und salutierte.
Kopfschüttelnd trat Erwin zurück ins Freie.
„Gregor?“ Eine halbe Stunde, nachdem Erwin Gregor zurückgelassen hatte, riss Martin die Tür zum Büro auf. Aber der Holzstuhl war leer.
Wo steckte er denn nun schon wieder?
Schwungvoll zog Martin die Tür wieder zu und starrte seine staubigen Schuhspitzen an. Fast so, als könnten sie ihm die gewünschte Antwort liefern.
Schliesslich kam die Antwort von Gregor selbst.
Ein gellender Schrei zerriss die mittägliche Ruhe, die den Hof einhüllte. Und durchbrach Martins Gedanken. Mit einem Ruck riss er seinen Kopf hoch und starrte dorthin, woher der Schrei kam.
Zu der Scheune.
Martin zögerte keine Sekunde. Sofort rannte er los. Er schob die schwere Tür auf und hastete ins Innere. Durch das Spiel von Licht und Schatten konnte Martin nicht sofort erkennen, was los war. Seine Augen gewöhnten sich aber rasch an das Zwielicht.
Er entdeckte ihn auf einem Heuhaufen.
Martin erfasste die Situation umgehend.
Gregor war vom Heuboden abgestürzt.
Sein Aufenthalt dort oben war heute schon einmal beinahe schief gegangen. Man sollte das Glück kein zweites Mal herausfordern.
Aber was hatte er dort überhaupt zu suchen? Zweimal!
Martin stürzte auf den Haufen zu. Wenigstens war Gregor nicht direkt auf dem harten Boden aufgeschlagen. Das Heu hatte den Aufprall gedämpft. Ob ihm das geholfen hatte, stand allerdings noch nicht fest.
„Gregor!“ Besorgt liess er seine Hände über dem seltsam gekrümmten Körper seines Bruders schweben. Er wagte es nicht ihn anzufassen. „Gregor, um Himmels willen! Warum warst du Idiot schon wieder auf dem Heuboden? Da gibt es nichts für dich zu tun! Und schon gar nicht zweimal!“
Plötzlich entrann Gregors Kehle ein Laut.
Martin redete weiter auf ihn ein. Er beleidigte ihn, er zog ihn auf. Er beschimpfte ihn als Bücherwurm und als unfähigen Fachidioten. Ob diese Worte es waren oder ob Gregors Kreislauf sich vom Schock erholte, spielte keine Rolle.
Langsam kam er zu sich.
„Oh, verdammte Scheisse. Das tut vielleicht weh.“ Vorsichtig unterzog Gregor seine Gliedmassen einer Funktionsprüfung. Er hob ein Bein nach dem anderen und winkelte sie an. Dann kamen die Arme dran. Behutsam stützte er sich darauf ab. Ganz langsam richtete er seinen Oberkörper auf. Sofort zuckte er vor Schmerz zusammen.
In seinem Kopf hämmerte ein ganzes Bergwerk.
„Könnte mal jemand die Arbeiter nach Hause schicken?“, grummelte Gregor.
Arbeiter? Welche Arbeiter? Martin bekam es mit der Angst zu tun. Hatte er sich den Verstand rausgehauen?
„Oh mein Gott!“, Ruth schlug sich die Hände vor dem Gesicht zusammen.
Martin fuhr herum. Er hatte sie nicht kommen gehört. Aber er war erleichtert, sie zu sehen.
Allerdings fürchtete er, ihre Sorge um den Sohn könnte ihre Souveränität beeinflussen. Und genau dort holte er sie ab. „Mutter, wir brauchen jetzt deine heilenden Hände, okay?“
Man konnte fast sehen, wie der Schalter in ihr beinahe augenblicklich umgelegt wurde. Sie senkte die Hände und trat besonnen auf Gregor zu. Vorsichtig tastete sie ihn ab. Hie und da stöhnte er auf. In diesen Momenten huschte ein Schatten über ihr Gesicht, der zeigte, dass es eben nicht irgendjemand war, der da lag.
Martin beobachtete seine Mutter besorgt. Er versuchte mehr aus ihrer Miene zu lesen, aber sie liess keine Schlüsse über Gregors Zustand zu.
Nach einer Weile liess Ruth von Gregor ab. „Okay. Kannst du aufstehen?“
Gregor biss die Zähne zusammen und versuchte sich zu erheben. Es fiel im sichtlich schwer und es bereitete ihm augenscheinlich Schmerzen. Aber er packte es.
Gestützt von seinem Bruder und seiner Mutter humpelte er aus der Scheune heraus und liess sich ins Wohnhaus bringen.
Mutter und Sohn betteten Gregor gemeinsam auf sein Nachtlager. Ruth zog ihn aus.
Auf dem Oberkörper zeichneten sich bereits die ersten blauen Stellen ab.
Martin stockte der Atem. Sie hatte noch nichts über seinen Gesamtzustand gesagt. Wie schlimm war es?
„Martin“, Ruth fasste ihn an der Hand, „du holst mir bitte Wasser und Tücher. Ich werde die Medikamente holen. Und du“, fuhr sie an Gregor gewandt fort, „bewegst dich nicht. Verstanden?“
Martin und Ruth verliessen das Zimmer gemeinsam. Ruth wollte bereits den Gang hinauf davon gehen, als Martin sie zurück hielt.
„Mama“, er sah sie ernst an, „was ist mit ihm?“
Ruths strenger, konzentrierter Blick wurde mit einem Mal weich. Als Martin die Tränen in ihren Augen glitzern sah, schnürte ihm die schlimmste Befürchtung die Kehle zu.
„Er wird doch nicht…“
„Oh, nein.“ Ruth wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. „Ich heule nur, weil die Anspannung sich verflüchtigt. Nein. Er wird wieder. Er hatte grosses Glück. Ein paar Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Nicht einmal einen Bruch hat er sich geholt.“
„Ach nein? Wenigstens das hätte er sich verdient, nachdem er zweimal auf den Heuboden geklettert ist.“
Ruth legte die Stirn in Falten. Der Heuboden. Zweimal?
„Was ist eigentlich passiert? Was hat er da oben gewollt?“
„Ich habe absolut keine Ahnung.“ Martin zuckte mit den Schultern.
„Das wird er uns noch erklären müssen.“ Ruth wandte sich erneut zum Gehen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um. „Dein Vater und ich haben heute Abend noch etwas mit euch zu bereden. Sag es bitte Antonius, wenn du ihn siehst, ja?“
Martin konnte den seltsamen Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht enträtseln. Daher nickte er nur kurz und ging dann ebenfalls seines Weges.
Am Abend, nachdem Gregor eingeschlafen war, versammelten sich Ruth, Erwin, Antonius und Martin um den Holztisch in der Küche.
„Aaaalso, waas ist los?“ Antonius lächelte aufmunternd in die Runde.
Ruth war allerdings nicht zum Lächeln zumute. Sie legte schützend die Hand über diejenige von Antonius, ehe sie das Wort ergriff. „Wir machen uns grosse Sorgen um Gregor.“
Hilfesuchend sah sie zu Erwin. Doch Erwin schwieg. Und hypnotisierte den Tisch.
Ruth ahnte, dass sie von ihm nichts erwarten konnte. Also fuhr sie fort. „Seit Sandrines“, sie zögerte, „nun, seit ihrem Weggang ist er vollkommen durch den Wind.“
„Das sind wir alle“, sagte Martin.
Antonius pflichtete Martin bei.
„Ja, sicher. Aber er hat seither den Alkohol nicht mehr beiseite gelegt.“
Also doch betrunken. Martin hatte es nicht wahrhaben wollen.
„Mutter. Es ist kaum zwei Tage her, seit Sandrine uns verlassen hat“, gab Martin zu bedenken.
„Du hast ja Recht. Ich will auch nicht sagen, dass er endgültig verloren ist. Ich möchte nur, dass wir alle ein Auge auf ihn haben. Aus naheliegenden Gründen verkraftet er die jüngsten Ereignisse viel schlechter als wir. Ich mache mir Sorgen, dass er etwas Dummes tut.“
„Wie auf den Heuboden zu klettern?“ Martin sah seiner Mutter direkt in die Augen. Und sie verstand.
„Oder herunterzuspringen.“ Ihre Antwort klang nüchtern. Eine simple Feststellung. Sie war offenbar schon viel früher auf den Gedanken gekommen, denn sie wirkte nicht im Mindesten überrascht.
„Ich wollte nur wissen, ob ich noch am Leben bin. Spüren, ob ich noch etwas empfinden kann.“ Wankend stand Gregor im Eingang zur Küche. Er war so schwach, dass seine Beine wegzukippen drohten. Schwer stützte er sich am Türrahmen ab.
Alle sahen gleichzeitig auf.
„Überraschung!“, lallte Gregor.
Ruth brach der Anblick das Herz. Erwin fuhr mit der Hypnose des Tisches fort. Seine Art, mit dem Problem umzugehen.
Antonius lächelte unsicher und verlegen.
Nur Martin reagierte. Er schob den Stuhl geräuschvoll zurück, stand auf und ging zu Gregor.
„Wehe, deine schwere Zunge kommt nicht von den Medikamenten und deinem angeknacksten Gehirn“, flüsterte er ihm zu. Dann griff er ihm unter die Arme. Er lud sich das ganze Körpergewicht seines Bruders auf die Schultern und führte ihn zurück ins Schlafzimmer.
„Schlaf jetzt. Und ich flehe dich an, komm zurück zu uns. Ich weiss nicht, was ich ohne dich tun soll. Du bist schliesslich nicht nur mein Bruder, sondern auch mein bester Freund. Wir brauchen dich hier. Wir alle.“
Gregors Augenlieder wurden schwer. Sie flatterten leicht. Dann dämmerte er weg.
Martin wusste nicht, ob Gregor alles gehört hatte. Aber er war sich sicher, dass er verstanden hatte.
Es musste einfach so sein.