Strang 1 / Kapitel 39

 

Er sah in den Rückspiegel. Das Bündel Mensch mit dem Jutesack über dem Kopf auf der Ladefläche rührte sich noch immer nicht.

Gut so.

Er kurbelte die Scheibe hinunter. Ja. Ja, da war es. Das Dröhnen eines Motorrads.

Er hatte ihn erwartet. Zwar nicht so früh, aber das spielte eigentlich keine Rolle. Das Motorrad und sein Fahrer würden den Balken so oder so nicht erreichen.

Er drosselte kaum das Tempo, als er den Pickup um die scharfe Kurve lenkte. Von der asphaltierten Strasse weg auf eine Schotterpiste. Der Weg war schmal und von Bäumen gesäumt, deren Äste so tief hingen, dass sie mancherorts kratzend das Dach des Pickups streiften. Ein abscheuliches Geräusch.

Tiefe Fahrrinnen und Schlaglöcher machten die Fahrt zu einer holprigen Angelegenheit.

Ihm war das egal.

Erneut warf er einen Blick auf seine Beute. Sie wurde wie ein Gummiball durchgeschüttelt. Immer wieder hüpfte der Körper, um dann wieder hart auf der Ladefläche aufzuschlagen.

Beim nächsten Loch schlug ihr Kopf gegen den Kanister, der ebenfalls auf der Ladefläche stand.

Autsch.

Lächelnd gab er noch etwas mehr Gas.

Nach einigen Metern wurde der Weg so schmal, dass die seitlichen Rückspiegel des Pickups beinahe die Baumstämme streiften.

Dort hielt er den Wagen an.

Er liess den Motor laufen, legte den Leerlauf ein, zog die Handbremse an und öffnete die Fahrertür. Bevor er ausstieg, griff er nach einem Gegenstand auf dem Beifahrersitz.

Eine massive Kette.

Er verliess den Wagen. Die Fahrertür schloss er nicht.

Auf der linken Seite trat er in den Wald.

Er musste nicht weit gehen, bis er fand, was er suchte.

Er legte die Kette um einen Baumstamm, über einen massiven Ast. Ungefähr auf Brusthöhe. Er verband das eine Ende der Kette vorne mit dem überschüssigen Teil. Den Rest hielt er fest, trat zurück auf den Weg und tauchte auf der anderen Seite wieder in den Wald ein. Dort wiederholte er den Vorgang. Nur schloss er die Kette nicht. Er legte sie um einen Baumstamm, über einen stützenden Ast. Dann liess er sie soweit absinken, dass sie flach auf dem Weg zu liegen kam. Es war immer noch eine ganze Menge von der Kette übrig, die er jetzt bis zu seinem Auto verlegte. Er band das lose Ende an der Anhängerkupplung fest.

Schnell war er mit seiner Konstruktion fertig.

Zufrieden mit seinem Werk tastete er nach Emmas Hals. Der Puls war da, aber schwach.

Gut.

Er lauschte. Er hörte ein Motorengeräusch. Und es näherte sich. Erstaunlich schnell, für dieses schwierige Gelände.

Aber das war ihm nur recht.

Je schneller, desto besser.

Er freute sich auf das, was folgen würde. Wie ein kleines Kind, das sich über ein neues Spielzeug freute.

 

Ben rutschte mehr, als dass er fuhr. Er wich den Schlaglöchern aus, so gut es ging. Dennoch setzte er seinen Weg unbeirrt fort.

Er kam auf die Gerade. Und sah den Pickup. Die Scheinwerfer waren noch an und beleuchteten den Weg davor. Zusammen mit dem Scheinwerfer seines Motorrads wirkte die Umgebung wie ein überdimensionales Schattenspiel. Auf der Ladefläche bewegte sich etwas. Ben konnte schemenhaft eine Gestalt erkennen. Sie war über etwas gebeugt. Jetzt hielt sie inne. Und sah sich um.

Ein Mann. Er entdeckte Ben. Und schien zu erstarren. Als hätte man ihn ertappt.

Erschrocken liess er etwas Langes, Schlankes los, das schlaff auf die Fläche fiel.

Ein Arm?

Hastig stand er auf und…

Zog er sich etwa die Hose hoch?

Ben kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Tatsächlich, der Mann schloss notdürftig seine Hose. Beinahe gleichzeitig sprang er vom Pickup. Und liess das, worüber er gebeugt gewesen war, auf der Ladefläche zurück.

Da waren Füsse. Eindeutig.

Emma. Das Bild von dem Mann, der sich die Hose hochzog, schoss Ben durch den Kopf und brannte sich ein.

Was hatte das Schwein mit ihr gemacht?

Ben sah rot.

Seine Alarmglocken schrillten, doch er konnte sie nicht hören.

Er legte den Gang ein und gab Gas.

 

So tat er es auch. Er hüpfte in seinen Wagen, legte den Gang ein, löste die Handbremse und sah in den Rückspiegel. Er schaute zu, wie das Motorrad sich näherte.

Nur noch einen kurzen Augenblick.

Noch ein bisschen. Noch ein bisschen. So ist es gut.

Jetzt.

Er drückte sein Gaspedal durch. Erde und Kies stoben in die Luft. Der Pickup raste bergan.

Er beobachtete das Motorrad im Rückspiegel.

Die Kette spannte sich.

Er lachte laut auf.

 

Ben traf an der schmalen Stelle ein, als die Kette voll gespannt war.

Er hatte keine Chance. Keine Zeit zu reagieren.

Sie erwischte ihn zuerst an den Oberarmen, traf gleich darauf auf die Brust und riss ihn in voller Geschwindigkeit vom Motorrad.

Das führerlose Fahrzeug spickte weg.

Ben wurde auf die Erde geschleudert. Regungslos blieb er liegen.

 

Auf den Boden geplumpst wie ein Kartoffelsack.

Er war sehr zufrieden mit sich selbst. Noch einmal hielt er kurz an, ging um den Wagen herum und löste die Kette. Jetzt war es egal, ob er Spuren hinterliess oder nicht. Es war das grosse Finale und alle sollten endlich erfahren, wer sie zum Narren gehalten hatte.

Zeit, den Menschen zu beweisen, dass der Idiot vom Reichhof so dämlich nicht war. Ganz im Gegenteil. Sie waren die Idioten gewesen. Die ganze Zeit über. Ihr grösster Fehler war, dass sie ihn unterschätzt hatten. Und jetzt war der Tag gekommen, diesen blasierten Dorfbewohnern ihre eigene Dämlichkeit ins Gesicht zu klatschen.

Immer noch lächelnd lenkte er den Pickup aus dem Wald hinaus, auf die grünbraune Ebene.

Es hatte sich nichts verändert.

Die Bergspitzen, die das ansteigende Gelände halbmondförmig einrahmten, waren immer noch dieselben. Genauso wie die mächtigen Tannen am Rand der Wiese.

Und dunkel erhob sich der Balken. Ein Mahnmal. Düster. Unheilvoll.

Er holperte mit seinem Pickup über das Feld. Stets bergan, bis er an einem steinernen Fundament ankam. Von der Erde nach und nach begraben. Von Pflanzen überwuchert.

Das war alles, was noch von der einst ertragsreichen Alphütte übrig geblieben war.

Und dass es so war, war sein Verdienst.

Er brachte den Wagen vor den Überresten des Fundaments zum Stehen. So nahe wie möglich an Miriams Balken.

Dieses Mal stellte er den Motor aus. Er wollte sich Zeit lassen. Das Ende geniessen.

Immer noch ein Lächeln auf den Lippen ging er zu der Ladefläche. Er nahm sich das Seil, legte es sich über die Schulter und kletterte zum Balken.

Miriams Balken war ein hufeisenförmiges Konstrukt aus zwei Beinen und einem Querbalken. Früher gab es darum herum Wände. Und das massive Holz stützte das Tenn.

Zumindest solange, bis er alles abgefackelt hatte.

Er erinnerte sich an den Moment, in dem das Feuer langsam schwächer geworden war. Fasziniert hatte er beobachtet, wie die Balken den Flammen trotzten. Dass die Balken fast unversehrt blieben, hielten die Menschen für ein Wunder.

Dabei war es einfache Wissenschaft gewesen.

Er hatte das Holz nur gut wässern müssen. Das war alles.

In seiner Erinnerung konnte er die Hitze erneut auf der Haut spüren. Er schüttelte den Kopf.

Weg mit der Vergangenheit. Zurück in die Gegenwart. Denn die galt es jetzt zu geniessen. Er nahm das Seil von der Schulter und warf es über den Querbalken.

Wie damals.

Das eine Ende band er zu einem Henkersknoten. Das andere behielt er in der Hand, während er zum Pickup zurückkehrte. Dort band er das zweite Ende um den Abschlepphaken.

Voller Vorfreude widmete er sich anschliessend seinem Opfer.

Während er sie voller Abscheu betrachtete, dachte er an seinen grandiosen Einfall zurück. So zu tun, als hätte er sich an der Kleinen vergangen, war einfach sensationell gewesen. Ihr Beschützer hatte sich genauso verhalten, wie gehofft. In blinder Wut war er gedankenlos losgeprescht. Und direkt in die Falle gegangen.

Dabei hatte er überhaupt kein Interesse an Sex. Befriedigung, ja. Aber Sex? Das war zu wenig. Zu menschlich. Zu banal.

Er schnaubte zufrieden.

Da regte sich das gefesselte Bündel. Ein leises Stöhnen war zu vernehmen.

Sie wachte auf.

Genau rechtzeitig.

„Guten Abend, Schlafmütze. Hast du süss geträumt?“, fragte er lakonisch.

Emma zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen.

Martin.

„Ich werde dir jetzt erklären, was ich als nächstes tue. Aber vorher weise ich dich darauf hin, dass du dich nicht zu wehren brauchst. Es bringt nichts. Ich werde dir gleich den Jutesack vom Kopf nehmen, damit ich dir in die Augen sehen kann, während dir Schritt für Schritt die Erkenntnis darüber kommt, was mit dir geschehen wird.“

Das war es. Genau dieses erhabene Gefühl der Macht. Das war erregend. Nicht dieser triebgesteuerte Austausch von Körperflüssigkeiten.

Sie dabei zu beobachten, wie die Angst anschwoll und sie sich dann darin verlor. Zu sehen, wie sie zuerst noch glaubte, sie könnte sich retten. Zu beobachten, wie sie dann nach und nach bemerkte, dass es keinen Ausweg gab. Sich daran weiden, wie zuerst ihr Kampfgeist erlosch, dann ihr Leben. Das war Befriedigung.

Er konnte es kaum noch erwarten. Er zog ein Messer aus dem Schaft seines Stiefels und schnitt das Seil, mit dem er den Sack um ihren Hals befestigt hatte, auf.

Er riss ihr den Sack vom Kopf. Und sah ihr in die Augen.

Verstört blinzelte sie. Sie war vollkommen orientierungslos. Ausgeliefert. Schutzlos.

Einfach herrlich.

Erwartungsvoll stand er da und sah ihr zu. Geduldig wartete er, bis sie seinen Blick endlich erwiderte.

Unscheinbar
titlepage.xhtml
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_000.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_001.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_002.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_003.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_004.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_005.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_006.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_007.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_008.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_009.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_010.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_011.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_012.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_013.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_014.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_015.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_016.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_017.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_018.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_019.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_020.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_021.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_022.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_023.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_024.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_025.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_026.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_027.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_028.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_029.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_030.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_031.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_032.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_033.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_034.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_035.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_036.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_037.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_038.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_039.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_040.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_041.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_042.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_043.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_044.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_045.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_046.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_047.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_048.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_049.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_050.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_051.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_052.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_053.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_054.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_055.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_056.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_057.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_058.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_059.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_060.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_061.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_062.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_063.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_064.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_065.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_066.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_067.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_068.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_069.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_070.html