Strang 2 / Kapitel 23

 

„Sie sind tot. Einfach tot. Alle. Nur noch wir sind übrig. Wie konnte das passieren?“ Verzweifelt schlug Ruth die Hände vor ihr Gesicht. „Womit haben wir das verdient? Welche Sünde haben wir begangen, um so bestraft zu werden?“ In ihren Augen glänzten die Tränen. Sie konnte sie aber nicht mehr weinen. Sie hatte schon zu viele vergossen. Ihr Gesicht war rot und aufgedunsen. Ihre Brust schmerzte. Schluchzer schüttelten sie, wie kleine Nachbeben. Sie hatte Mühe zu atmen. Ihre Kehle war zugeschnürt.

Martin legte ihr den Arm um die Schulter. Erwin sass vor ihr und hielt ihre Handgelenke. Immer wieder küsste er ihre Finger, damit sie ihr Gesicht wieder zeigte, das sie hinter den Händen vergrub. Er strich ihr übers Haar. Er wollte sie trösten. Dabei war er selbst untröstlich.

Nun hat es also auch seinen Sohn erwischt. Diese seltsame Welle des Unglücks holte sich jetzt auch die nahe Verwandtschaft. Wann kam er selbst an die Reihe? Hoffentlich bald. Es würde das entsetzliche Leid lindern.

Doch das war egoistisch. Er konnte es verkraften. Er musste stark sein. Für seine Frau. Für die beiden verbliebenen Söhne. Wenn es sein musste, dass der Tod sich noch mehr holte, dann sollte es ihn zuletzt treffen. Er würde bis zum Schluss da sein, um diejenigen zu trösten, die noch verschont blieben.

Rosa sass in der Ecke neben dem Herd. Das Feuerchen strahlte eine wohlige Wärme ab. Es vermochte aber ihr Herz nicht aus den eisigen Klauen zu befreien. Silina. Ihr einziges Kind. Und jetzt auch noch Gregor. Nachdem Rudi, Käthe, Bernard, Peter… Oh, wie schrecklich! Es waren einfach zu viele!

Sie glättete ihr zerknäultes Taschentuch und schnäuzte hinein.

Antonius sass auf der langen Bank am Tisch. Seine Augen leuchteten wie immer. Aber selbst sein Lächeln war nicht mehr ganz so breit. Mit einem unsicheren Halbgrinsen äugte er in die Runde. „Iiihr dürft ddas Poositive nicht vergessen. Jjjetzt haaben wir einige Mmäuler weniger zu sttopfen.“ Sein Grinsen wurde breiter. Hoffnungsvoll sah er seine Familie an.

Sie ignorierten ihn. Nur Martin blickte kurz auf, warf ihm einen traurigen Blick zu. Aber er sagte nichts.

Antonius‘ Versuch, die Stimmung aufzulockern blieb in peinlicher Stille hängen.

Es störte ihn nicht. Sein Gesichtsausdruck war nach wie vor gutmütig. Er wusste allerdings nicht, was er mit dem schwermütigen Schweigen anfangen sollte, das im Raum dominierte. Als wäre das nicht genug, lag der Raum auch noch im Halbdunkel. Draussen brach die Nacht herein und auf dem Tisch in der Küche brannte nur eine einzige Kerze.

Im Gedenken an den verstorbenen Bruder.

Er begutachtete die Mienen der anderen und wartete. Aber nichts passierte. Langsam wurde er nervös. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Kaum hörbar.

Das Feuer knisterte im Herd. Die Kuckucksuhr tickte. Ab und an gab jemand ein Seufzen oder Schluchzen von sich.

Draussen prasselte der Regen nieder.

Noch während der Beerdigungszeremonie hatte der Niederschlag eingesetzt. Unaufhörlich rauschte er auf die noch aufgewühlte Erde von Gregors Grab nieder.

Ein schlimmes Gewitter stand an.

Das schien aber niemanden zu interessieren.

Da tat sich endlich etwas. Martin stand auf. Er ging zum Schrank, nahm einen Krug hervor und verliess das Haus durch die Küchentür.

Als er zurückkam, hielt er den mit Brunnenwasser gefüllten Krug in den Händen und ein Kännchen Milch. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, trat er an die Arbeitsplatte und machte sich ans Werk.

Sie mussten schlafen. Aber sie würden den Schlaf nicht finden. Keiner von ihnen. Er musste etwas tun. Sonst gewann die Erschöpfung die Oberhand. Und so entsetzlich alles war, der Hof wartete nicht. Er nahm keine Rücksicht auf seine trauernden Bewohner. Im Gegenteil. Vernachlässigung führte nur zu neuen Problemen.

Zuerst füllte Martin eine grosse Tasse mit aufgewärmter Milch. Damit ging er zu Rosa und vor ihr in die Hocke. Er suchte ihre Aufmerksamkeit. Aus gläsernen Augen sah sie ihn an. Martin drückte ihr die Tasse in die Hände. „Trink.“

Das war alles. Dann stand er wieder auf und ging, gefolgt von Rosas Blick, an die Arbeitsplatte zurück. Dort bereitete er drei weitere Getränke zu.

Den Tee brachte er seiner Mutter. Antonius stellte er ebenfalls eine Milch hin und seinem Vater setzte er einen Kirsch vor die Nase. Dann nahm Martin seinen Platz bei seiner Mutter wieder ein. Die Flasche Kirsch stellte er neben sich ab.

„Nnnimmst du nichts?“, kam die Frage von Antonius, der Martins Handeln interessiert verfolgt hatte.

Martin schüttelte den Kopf. „Nein. Trinkt. Es wird euch gut tun.“ An seinen Vater gewandt fügte er hinzu: „Und dir vielleicht ein bisschen wohltuende Wärme schenken.“

Erwin nahm seinen Kirsch und leerte ihn in einem Zug. Sofort schenkte Martin nach.

Drei. Mehr würde er ihm nicht geben. Sonst ging der Schuss nach hinten los. Und einen Alkoholiker hatten sie schon beerdigt. Das brauchten sie kein zweites Mal.

Ruth rührte den Tee nicht an. Sie hielt ihn fest und starrte auf den Henkel. Aber sie sah ihn nicht. Ihr Blick ging ins Leere.

Martin schupste sie vorsichtig an. „Mutter, du musst trinken. Und morgen wirst du etwas Frühstücken. Bitte. Du brauchst die Kraft. Du darfst um deinen Sohn trauern, wir trauern auch um unseren Bruder. Aber vergiss nicht, wir haben alle eine grosse Verantwortung. Jetzt, da wir nicht mehr so viele sind, mehr denn je. Du warst doch immer die hoffnungsfrohste unter uns. Wenn alles schief ging, konnte man sich wenigstens immer auf dich verlassen. Gib das nicht auf. Gib dich nicht auf. Wir brauchen dich hier. Was sollten wir denn auch tun, ohne deinen Optimismus und Einfallsreichtum?“

Jetzt schon eine solche Rede zu schwingen, kam Martin verfrüht vor. Doch wenn Ruth wirklich in der Trauer versank, wurde es nur umso schwerer sie zurückzuholen. Also warum nicht gleich daran erinnern, dass noch ein Leben auf sie wartete?

Allerdings war sich Martin nicht sicher, ob er zu ihr durchgedrungen war. Zumindest hatte er aber Rosas Aufmerksamkeit gewonnen. Obwohl sie nicht angesprochen war, schien die Nachricht bei ihr angekommen zu sein.

Aufgeben galt nicht. Stimmt.

Vorsichtig trank sie einen Schluck.

Da reagierte auch Ruth. Sie drehte den Kopf langsam zu Martin. Als käme sie aus einer anderen Welt zurück, sah sie zuerst durch ihn hindurch, dann direkt in seine Augen.

Martin lächelte erleichtert. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Ruths Mundwinkel zuckten.

Ein Lächeln?

Er wusste es nicht. Aber das spielte keine Rolle. Denn als nächstes führte sie die Tasse zum Mund. Sie trank ihren Tee. Sehr gut.

Antonius beobachtete das Szenario.

Sein Bruder war gut. Während er selbst nur Schweigen und Ignoranz geerntet hatte, hatte Martin alle reanimiert. Mit ein paar wenigen Worten.

„Aach komm. Ddie werden schon wieder.“

Martin presste abwehrend die Lippen aufeinander. „Antonius, geh doch mit Rosa bitte schon nach oben und leg dich hin. Ja?“

Für andere hätte das geklungen, als wollte Martin Antonius loswerden. Ihn abwimmeln.

Aber Antonius lächelte nur. Er schob sich von der Bank und trottete zu Rosa. Sie liess sich aufhelfen. Als sie die Tasse beiseite stellen wollte, schaltete sich Martin ein. „Nein. Nimm sie mit. Trink sie leer. Du wirst danach schlafen wie ein Baby.“

Das entging Ruth nicht. Mit einem Ruck riss sie den Kopf hoch.

„Martin?“

Das erste Wort seit ihrem letzten Gefühlsausbruch.

Schuldbewusst schaute Martin seine Mutter an. „Es tut mir leid. Ich musste es tun. Ihr müsst schlafen. Ihr braucht Kraft. Sonst schaffen wir das nicht.“

„Was hast du da rein getan?“

„Nichts Wildes. Nur Baldrian. Johanniskraut. Melisse.“

„Das ist ja ein ganzer Cocktail! Fehlt nur noch Kamille.“

„Ah, nein. Fehlt nicht. Habe ich nur nicht aufgezählt.“

„Zum Glück haben wir keine Tabletten aus der Apotheke. Sonst hättest du die zerbröselt untergemischt, nicht wahr?“

Martin biss sich auf die Unterlippe.

„Das ist nicht dein Ernst.“ Ruths Blick wanderte zur Anrichte. Sie entdeckte den Mörser und feine weisse Rückstände auf der Arbeitsplatte. Sie konzentrierte sich wieder auf Martin. Fassungslos. „Woher…?“

„Von damals. Von Sandrine. Sie hatte noch welche übrig. Sie bewahrte sie in ihrem Nachttisch auf. Ich habe sie zufällig gefunden. Und da ich nicht wollte, dass Gregor sie in seinem schlechten Zustand in die Hände bekommt, habe ich sie an mich genommen.“ Martin senkte betrübt den Kopf. „Naja. Was es genutzt hat, ist ja deutlich. Er hat sich einfach einen anderen Weg gesucht, sich aus dem Leben zu schleichen.“

Der Schmerz bohrte sich wie ein Schwert in den Bauch und bis zur Wirbelsäule, nur kam er auf der anderen Seite nicht wieder raus.

Ruth gähnte. Der Tee fing an zu wirken. „Du machst dir Vorwürfe. Lass das. Es ist schwer zu akzeptieren, aber wir haben unser Möglichstes getan, ihm aus seinem Elend herauszuhelfen.“ Die Augenlieder wurden schwer. „So, dank dir gehe ich jetzt schlafen. Und ihr beide auch, meine Lieben.“

Ruth betrachtete Erwin, der im Sitzen eingeschlafen war. „Ihm hast du aber keine Tabletten gegeben, oder?“

„Mit Alkohol? Nein. War nicht nötig. Vater kombiniert mit Kirsch war bisher immer ein bewährtes Schlafmittel.“

„Stimmt.“ Ruth schüttelte Erwin unsanft an der Schulter. Er gab nur ein mürrisches Grunzen von sich. „Komm mein Guter, im Bett ist’s gemütlicher."

Die Schlaftabletten entfalteten auch eine andere Wirkung. Sie betäubten nicht nur die Sinne, sondern auch den Schmerz. Vorübergehend war die Trauer gelähmt. Ruth fühlte sich besser, aber auch entsetzlich müde.

Martin half ihr, Erwin auf die Beine zu stellen. Den Rest machte Erwin wörtlich im Schlaf. Ruth hielt ihn am Ellbogen fest und führte ihn so durch die Räume. In der Küchentür blieb sie stehen. „Kommst du nicht mit?“, fragte sie Martin, der in der Küche zurückgeblieben war.

„Ich bleibe noch ein wenig hier sitzen. Geht ihr nur.“

„Aber nicht mehr lange, ja? Dein Vortrag gilt für dich genauso wie für uns.“

Martin lächelte halbherzig. „Stimmt. Ich komme auch bald. Versprochen.“

„Gut.“ Zufrieden mit der Antwort ging Ruth davon. Erwin im Schlepptau. Zusammen schlurften sie die Treppe hinauf zu den Schlafräumen. Dorthin, wo auch Martin sich gemäss seinem Versprechen bald zurückziehen sollte.

Martin verfolgte jedoch einen ganz anderen Plan.

 

 

Unscheinbar
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