Strang 1 / Kapitel 23

 

„Mutter?“ Ben wütete wie ein Orkan durch das Haus. Jedes Zimmer riss er auf, durch jeden Raum wirbelte er hindurch. „Wo bist du? Wir müssen uns unterhalten. Jetzt.“

Nach Emmas Abgang war auch Ben aus der Garage hinausgestürmt, hatte sich auf das Motorrad gesetzt und war zum Haus seiner Mutter gerast.

Er fand Alice schlussendlich in ihrem eigenen Badezimmer, das an ihr Schlafzimmer angrenzte. Sie lag in der Badewanne. Das hielt Ben aber nicht davon ab, den Duschvorhang zurückzuzerren und sie wütend anzufunkeln.

Erschrocken riss Alice die Augen auf. Sie musterte das Gesicht ihres Sohnes, und sie wusste um seinen inneren Zustand.

Jetzt war mütterliche Ruhe angesagt. Langsam hob sie die Hände aus dem Wasser, durchbrach mit den Armen die Schaumberge und zog die Kopfhörer aus den Ohren. Vorsichtig legte sie sie auf den Schemel neben der Badewanne, damit sie nicht nass wurden.

„Ich bin ganz Ohr.“

Auf einmal schien Ben nicht mehr zu wissen, was er hier eigentlich wollte. Mit der Unsicherheit eines kleinen Jungen unter den erfahrenen Augen einer Mutter trat er erst von einem Bein aufs andere, dann setzte er sich auf den Deckel der Toilette.

„Mama?“

Wo sollte er nur anfangen?

„Kannst du mir endlich sagen, was in diesem vermaledeiten Dorf gespielt wird?“

Alice sah ihn traurig an. Hin und her gerissen zwischen Geheimhaltung und der Forderung ihres Sohnes, das Schweigen zu brechen. „Du hast mir doch immer vertraut, oder, Ben?“

„Ja, das habe ich. Es dauerte aber eine Weile, bis ich begriff, dass du mir das Wissen um meinen Vater nicht vorenthältst, um mich zu ärgern.“

Das Lächeln kehrte in Alices Augen zurück.

„Ich habe dir geglaubt, als du sagtest, es wäre besser, wenn ich nicht wüsste, wer er war. Du hattest immer ein sicheres Gespür dafür, was das Beste war.“

„Natürlich. Ich bin deine Mutter.“

„Das heisst aber nicht, dass du automatisch alles richtig machst.“

Sie entdeckte den Schalk in seinen Augen. Das stimmte sie ein wenig ruhiger.

„Wie dem auch sei.“ Der Schalk verschwand wieder. Der Blick wurde ernst. „Mama. Du schleppst ein Geheimnis mit dir herum. Seit Jahrzehnten. Dieses Geheimnis hast du gewahrt um jemanden zu schützen. Um mich zu schützen. Ist es nicht so?“

Alice zeigte keine Regung.

„Okay. Ich werte das jetzt einfach als Zustimmung. Die jüngsten Ereignisse zeigen deutlich, dass noch jemand anderes von dieser Sache Wind bekommen hat. Und dieser Jemand veranstaltet nun ordentlich Wirbel. Du glaubst nicht daran, dass das alles nur Zufall ist, was hier geschieht. Ich bin mir sicher, die wenigsten glauben das. Nur will es niemand zugeben. Niemand spricht es aus. Und dieses Schweigen könnte tödlich sein. Glaubst du, es geht alles wieder vorbei, wenn man die Augen davor verschliesst? Schon wieder? Beim letzten Wegsehen wurde eine ganze Familie ausgelöscht. Wie soll es diesmal enden? Der Name Reich kommt wieder aufs Parkett und die Katastrophen fangen von vorne an.“

Die Katastrophen fangen von vorne an. Augenblick.

In Bens Gehirn kreisten die Gedanken. Felssturz. Autounfall. Feuer.

Die Geschichte wiederholte sich.

Ben starrte ins Leere. „Die Geschichte wiederholt sich“, flüsterte er. „Emma krachte sogar an derselben Stelle in den Fels, an der auch schon Bernard und Käthe verunfallten! Wie konnte ich nur so blind sein!“ Er konnte es kaum fassen. Warum hatte er das nicht schon früher begriffen?

Alice horchte auf. Aber sie schwieg.

Auf einmal war Ben ganz aufgeregt. Er schaute zu seiner Mutter. „Feuer, Autounfall, Felslawine. Kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor?“

Er konnte nicht glauben, dass sie weiterhin nichts sagte.

Sie musste es doch begreifen.

„Was fehlt? Stromschlag, Erhängen, Erschlagen, Absturz. Was noch?“ Ben stützte sich auf den Wannenrand ab. „Mama, noch ist es nicht vorbei. Irgend so ein Mistkerl treibt hier sein krankes Spiel. Aber wir können es beenden. Wir können eure sogenannten Zufälle stoppen. Dazu müssen wir aber herausfinden, wer dahinter steckt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dein gut behütetes Wissen hilft weiter.“

Alice sah ihren Sohn lange an. Dann flüsterte sie kaum hörbar: „Es wird dir nicht helfen. Lass es gut sein. Ich hüte das alles schon so lange, dass es mit mir verwachsen ist. Wenn ich es teile, reisse ich ein Stück von mir selbst heraus. An dieser Stelle bleibt ein Loch, das sich nicht mehr füllen lässt.“

Ben glaubte, nicht richtig zu hören. „Egoismus? Egoismus ist dein Antrieb, dein Wissen nicht preis zu geben?“

„Nein, Ben. Nicht nur. Glaube mir, es wird dir nichts nützen, das zu wissen. Es gibt dir keinen Hinweis auf den Urheber des Fluches.“

„Aber vielleicht auf den Grund. Möglicherweise könnte man dort ansetzen.“ Hoffnungsvoll sah Ben Alice an.

Entschuldigend blickte sie zurück. „Ich kann nicht.“

Abrupt stand er auf und ging hinaus. Ohne ein weiteres Wort liess er Alice zurück, der die Tränen in die Augen stiegen. Stumm starrte sie an die Badezimmerdecke. Aber sie sah sie nicht. Sie sah weit darüber hinaus.

In Gedanken führte sie ein Zwiegespräch mit ihrer längst vergangenen Liebe. Martin Reich.

„Ertrinken“, murmelte sie. Sie sagte es noch einmal. Diesmal lauter.

Eine gefühlte Ewigkeit rührte sich nichts. Sie glaubte schon, er habe es nicht mehr gehört.

Doch dann wurde die noch halb geöffnete Tür des Badezimmers ganz aufgeschoben.

„Was hast du gesagt?“ Ben blieb in der Tür stehen.

Alice löste den Blick von der Zimmerdecke und schaute zu ihrem Sohn auf. „Stromschlag, Erhängen, Absturz und Ertrinken.“

 

 

Unscheinbar
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