Strang 2 / Kapitel 17
„Weisst du eigentlich, wo Seppi ist?“ Es war ein strahlend schöner Tag. Die Sonne hatte die Wand des Hauses aufgeheizt, was Ruth dazu bewog, ihre Näharbeiten nach draussen mitzunehmen, wo sie auf ihrer steinernen Bank ganz nah an der wärmenden Hauswand arbeiten konnte. Sie stellte den grossen Korb vor ihre Füsse, legte das Nähzeug neben sich und schnappte sich die erste Socke. Durch das Loch im Gewebe passten ihr Daumen und ihr Zeigefinger. Seufzend legte sie die Socke auf ihre Knie und schnappte sich Nadel und Faden. Sie war gerade mit Einfädeln beschäftigt, als Martin strammen Schrittes über den Hof marschierte.
Wortlos ging er an ihr vorüber.
Ruth musterte ihn. Sie kannte ihre Jungs. Wenn Martin mit diesem Schritt durch die Lande zog, war er konzentriert und nicht aufzuhalten. Seine Umwelt war vergessen, seine Aufmerksamkeit galt der Aufgabe. Er steuerte in den Werkzeugschuppen. Kurz darauf kam er mit einer Axt wieder heraus.
„Martin?“ Ruth versuchte es vorsichtig noch einmal. Im ersten Augenblich schien er wieder nichts gehört zu haben. Er trat den Rückweg über den Hof an. Als er sich umdrehte, entdeckte er seine Mutter an der Hauswand. Er zuckte leicht zusammen.
„Pass bloss auf, dass dir die Axt nicht aus den Händen rutscht.“
„Entschuldige. Ich war in Gedanken.“
„Das habe ich vermutet. Ich will dich auch nicht aufhalten. Ich wollte nur wissen, ob du Seppi seit gestern zu Gesicht bekommen hast.“
Martin dachte kurz nach. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Nein. Nina und Tascha, aber Seppi? Nein.“
„Mhm. Danke.“ Ruth wurde nachdenklich und Martin besorgt.
„Fehlt er denn?“
„Ja, seit gestern Mittag.“
„Gestern Mittag? Gestern war…“ Martin unterbrach sich.
„…Rudi hier. Ja. Aber er wird kaum unseren Hund mitgenommen haben.“
„Mama, es geht hier um Rudi“, betonte Martin.
„Ach komm, jetzt hör auf. Rudi ist zwar skrupellos, aber an unseren Hunden hat er sich noch nie vergriffen.“
„Er hat meinem Hasen im wahrsten Sinne des Wortes den Hals umgedreht. Als ich daneben stand. Und warum? Weil der Hase die Möhre gegessen hatte, die Rudi zum Abendessen haben wollte. Er ist vollkommen gestört.“
„Was den Umgang mit Tieren angeht, so gebe ich dir Recht. Ansonsten ist er harmlos. Alles was grösser ist als eine Gans lässt er in Ruhe.“
„Muss ich dich an die Kuh erinnern?“
Die Kuh. Er hatte sie einfach erschossen. Der Grund war heute noch unklar. Ruth seufzte.
„Eben. Sie stand friedlich auf der Weide. Sie hat nichts getan. Seppi ist weder so gross wie eine Kuh, noch steht er friedlich herum. Er könnte in Rudis Augen also sehr wohl etwas getan haben.“
„Er wollte auf die Jagd gehen. Vielleicht hat er ihn mitgenommen. Seppi ist ein sehr guter Begleiter.“
„Rudi nimmt nie etwas anderes mit als sein Gewehr. Hoffen wir, dass Seppi nur irgendwelche Flausen im Kopf hat und bald wieder heimkommt.“ Martin warf seiner Mutter einen Blick zu, der seine zuversichtlichen Worte Lügen strafte. Er schulterte seine Axt und ging davon.
Ruth hatte ein schlechtes Gefühl. Seppi war ein zuverlässiger Hund. Wo konnte er nur sein?
Rudi durchquerte den Wald in sicheren Schritten. Bald kam er am Fuss des Horns an. Er wollte sich diese Gämse holen, von der die Jäger im Dorf tags zuvor gesprochen hatten.
Eine weisse Gämse. So etwas hatte es in dieser Region noch nie gegeben.
Wenn dieses Tier tatsächlich existierte, würde er es finden. Er würde es erlegen und den Kopf zuhause über den Kamin hängen. Zuerst würde er es aber in der Beiz im Dorf präsentieren und sich hochleben lassen.
Der Aufstieg war anstrengend, aber der Gedanke an den Erfolg trieb ihn an. Nach und nach lichteten sich die Bäume. Das steile Gelände wurde felsiger und karger. Die Gefahren des Waldes liess Rudi hinter sich. Jetzt musste er sich denen des Felsmassivs stellen.
Er blieb stehen und verschaffte sich einen Überblick. Rundherum thronten mannshohe Gesteinsbrocken. Dazwischen taten sich meist gefährliche Spalten auf. Manche Felsen waren überhängend, manche stabil wirkenden Steine waren lose.
„In Ordnung.“ Rudi nahm das Gewehr von der Schulter, schlüpfte mit dem Kopf und einem Arm durch den ledernen Riemen und schnallte es auf den Rücken. Es kam etwas unbequem neben seinem Rucksack zu liegen, aber das war Rudi egal. Er spuckte sich in die Hände, legte sie auf einen kleinen Vorsprung in dem grossen Gestein vor sich, setzte den Fuss auf einen anderen und begann seinen Aufstieg. Immer wieder kam flacheres Gelände, über das man einfach spazieren konnte, doch dann folgten wieder zerklüftet Stellen, die manchmal mehr und manchmal weniger Geschick erforderten.
Der perfekte Lebensraum für eine Gämse eben.
Er hielt konzentriert Ausschau nach den Tieren. Nicht selten entdeckte er eine Herde, aber nie war eine Weisse dabei.
Bis jetzt.
Rudi entdeckte im Augenwinkel eine Bewegung. Er konnte gerade noch etwas Weisses hinter dem Fels verschwinden sehen.
Er hatte sie aufgescheucht.
Mist.
Sofort nahm er die Verfolgung auf.
Da! Da war es schon wieder!
Sie war schnell. Wieder sah er nur ganz kurz den Hinterlauf.
Aber weiter oben musste sie sich zeigen. Da gab es kein Versteck mehr.
In Windeseile zückte Rudi sein Gewehr und machte sich bereit zum Schiessen.
Und tatsächlich, hinter dem nächsten Fels tauchte ein Kopf auf.
Rudi schoss. Blindlings.
Ein Aufstöhnen war zu hören. Dann war es wieder still.
Langsam liess Rudi das Gewehr sinken.
Das war keine Gämse. Eine Gämse stöhnte nicht.
Verdammt!
Egal, was Rudi getroffen hatte, die weisse Gämse war noch irgendwo da draussen. Und er war so nahe dran.
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, was er angeschossen hatte, eilte er weiter. Immer auf der Spur der Gämse.
Er kam an der Stelle vorbei, an der sein Schuss geendet hatte. Ohne sich darauf zu achten, was dort zwischen den Felsen lag.
Vorangetrieben vom Ehrgeiz geriet er in eine Art Trance. Er sah nur sein Ziel vor Augen. Die weisse Gämse. Sie war zum Greifen nah. Wenn er sie jetzt verlor, war alles verloren.
Vertieft in sein Vorhaben bemerkte Rudi nicht mehr, wie das Gestein immer schroffer wurde. Das Gelände immer unwegsamer.
Von Oben beobachtete er ihn. Er empfand beinahe so etwas wie Mitleid mit dem armen Mann, der dort in den Felsen hing.
Was ein kleines Gerücht so alles bewirken konnte.
Wie leichtgläubig die Menschen doch waren.
Armselige Geschöpfe. Zum Glück gab es davon bald eins weniger.
Nur noch ein bisschen, dann war dieser gutgläubige Mensch weit genug.
Er nahm sich das letzte Utensil für seinen wunderbaren Plan und trat an die Felskante heran.
Rudi kletterte konzentriert weiter. Er überwand eine schmale, tiefe Felsspalte. Im Visier eine Kante, die gerade breit genug war, dass ein Mensch darauf stehen konnte. Von dort aus konnte er sich einen weiteren Überblick verschaffen. Und vor allem konnte er nach der Gämse Ausschau halten. Ein kleiner Sprung, ein Griff nach einem winzigen Felsvorsprung und Rudi landete sicher auf der Kante. Das Gesicht dem Felsen zugewandt. Vorsichtig tastete er die Wand ab. Er suchte nach Halt, der es ihm erlauben würde, sich umzudrehen.
Er fand ihn. Langsam drehte er sich, als auf einmal Dreck und kleines Gestein auf ihn hinunter rieselte.
Die Gämse. Das musste sie einfach sein.
Rudi dachte nicht nach. Er klammerte sich an eine Wurzel, zog sich ein Stück daran hinauf. Wieder bekam er einen Vorsprung zu fassen. Unter den Füssen verlor er den sicheren Halt. Er hangelte sich weiter. Bis es nicht mehr weiter ging. Es waren nur noch wenige Zentimeter, die Rudi von dem Plateau über ihm trennten. Vom sicheren Terrain.
Da hörte er ein Schnauben.
Halluzinierte er?
Gleich darauf rieselten wieder Staub und Steinchen auf ihn hinunter.
Nein. Da war etwas. Direkt über ihm.
Rudi hob den Kopf. Obwohl diese Bewegung ihn ungemeine Anstrengung kostete.
Er erwartete, in das weisse Gesicht einer spöttisch lächelnden Gämse zu sehen.
Und tatsächlich.
Ein Gämskopf starrte ihm entgegen. Aus ausdruckslosen Augen.
Der Wind trug ihm den Geruch nach frischer Farbe und Verwesung zu.
Was für ein kranker Scherz war das?
Bei genauerem Hinsehen, glaubte Rudi den Verstand zu verlieren. Der Gämskopf bewegte sich zur Seite. Rudi erkannte einen einfachen Holzstock, auf dem der Kopf festgemacht war.
Und dahinter tauchte eine Gestalt auf.
Mit der untergehenden Sonne im Rücken war er anfangs nicht mehr als ein Schatten. Ein Schatten, der bedrohlich über Rudi thronte.
Rudis Augen gewöhnten sich allmählich an das Zwielicht. Nach und nach bekam der Schatten ein Gesicht.
Als er es erkannte, atmete er erleichtert auf. „Du bist es! Komm, hilf mir mal!“
Schweigend, fast überheblich sah er auf Rudi hinunter. Das gewohnte Gefühl der Macht durchströmte ihn. Die Entscheidung lag in seinen Händen. Leben oder Tod.
Doch das Urteil war schon viel früher gefallen. Längst war klar, was geschehen würde. Was geschehen musste.
Er legte sich hin. Dann griff er nach Rudis Handgelenken. Dieser sah ihm dankbar in die Augen.
Rudi war bereit loszulassen. Er war bereit, seine Hände um die Gelenke seines Retters zu legen und sich gemeinsam mit ihm hochzuziehen. Sich in Sicherheit zu bringen.
Er hielt Rudis Blick genauso fest, wie die Handgelenke.
Er wollte keine Sekunde davon verpassen, wie sich Rudis Ausdruck verändern würde, wenn er erkannte, was vor sich ging.
Er liess einen der Arme los.
Sofort weiteten sich Rudis Augen erschrocken. Er krallte sich so fest er konnte in den Fels. Er rutschte ab. Seine Fingernägel brachen. Rotes Blut quoll darunter hervor und vermischte sich mit dem braunen Schmutz der Erde.
Aber Rudi stürzte nicht. Die zweite Hand hielt ihn sicher fest.
Verzweifelt suchte Rudi wieder nach Halt. Und fand ihn.
Retten konnte ihn das aber nicht mehr.
Immer noch hielt er Rudis Augen fest. Wie sich aus Angst die Pupillen erweiterten war einfach zu schön.
Er zog das rote Halsband aus der Tasche, steckte es rasch in die Ärmeltasche von Rudis Jacke. Dann griff er erneut nach dem Handgelenk. Diesmal wartete er nicht mehr.
Er konnte nicht. Er zog Rudi ein wenig nach oben, um den Spassfaktor zu erhöhen.
Die Verwirrung stand Rudi ins Gesicht geschrieben. Genauso wie der erneut aufglimmende Hoffnungsschimmer.
Genau das hatte er sehen wollen. Seine Mundwinkel verzogen sich langsam zu einem bösartigen Lächeln. Die Zeit war gekommen. Zu verhindern, dass Rudi sich noch einmal festhalten konnte, war ganz einfach. Nur ein kleiner Ruck und Rudi hatte den Halt endgültig verloren.
Die Erkenntnis leuchtete in Rudis Augen auf. Gleich darauf kam das Entsetzen.
Er liess Rudis Handgelenke los
Die Gesichtszüge vor Schreck verzerrt stürzte Rudi in die Tiefe.
Er schlug hart auf den Felsen auf. In unnatürlich verdrehter Körperhaltung blieb Rudi liegen. Und rührte sich nicht mehr.