Strang 1 /Kapitel 40
Emmas Sinne wurden von Reizen überflutet. Die Arme waren eingeschlafen. Sie wollte sie nach vorne nehmen. Aber sie scheiterte. Ihre Handgelenke stiessen gegen einen Metallring.
Handschellen?
Auch die Beine waren zusammengebunden. Die Kehle war trocken. Der Kopf schmerzte unaussprechlich. Dann noch diese Stimme in ihrem Ohr. Der stickige Sack, der auf einmal von ihrem Kopf gezerrt wurde. Das Licht, das sich dadurch veränderte. Das Atmen, das ihr plötzlich leichter fiel.
Und immer noch diese Stimme.
Neben den Schmerzen entdeckte sie noch ein anderes Gefühl. Taubheit.
Sie versuchte sich zu erinnern. Was war geschehen? Sie hatte auf der Veranda gestanden. Er war aus dem Nichts aufgetaucht, hatte sie niedergeschlagen und jetzt war sie hier.
Die Veranda.
Als sie rausgegangen war, hatte sie sich nichts übergezogen. Sie trug weder an den Füssen noch am Oberkörper etwas, das sie vor der Kälte geschützt hätte.
Kälte. Das war es also. Die Taubheit kam, weil sie fror.
Aber warum war sie auf die Veranda gegangen?
Sie hob den Kopf. Ihr Blick klärte sich. Sie sah ihm direkt in die Augen.
Martin.
Da wusste sie es wieder. Das tote Kind, die einzig Überlebende.
Welche Ironie.
Und sie sollte dieses Kind sein. Die verlorene Tochter.
Jetzt lag sie da. Ausgeliefert. Auge in Auge mit ihrem Mörder.
Sie wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Nur würgende Laute presste sie hervor.
Ihr Mund war geknebelt.
Er lächelte sie an.
Dümmlich. Schleimig.
Er hob die Hand und führte sie zu ihrem Mund.
Sie wollte sich wehren. Sie begann wild zu zappeln.
„Nana, wer wird denn hier störrisch sein? Ich will dir doch nur den Knebel entfernen.“
Er nahm ihr das Tuch ab. Beinahe fürsorglich.
„Du verfluchtes Schwein!“, war das erste, was Emma über die Lippen kam. Ihre Kehle war ausgetrocknet. Die Worte klangen heiser.
Er lächelte unbeirrt weiter. „Das wird ja lustiger, als ich dachte.“ Er packte sie an den Haaren und zwang sie, sich aufzurichten. „Den gleichen Willen und dasselbe Temperament wie deine Mutter. Jammerschade, dass ich dich töten muss.“
Ihre Mutter. Emma geriet aus dem Gleichgewicht.
War er ihr letzter lebender Verwandter?
Bei dem Gedanken wurde ihr übel.
„Wer bist du? Warum das alles?“, brachte sie schliesslich hervor.
Grob riss er ihren Kopf näher zu sich, sah sie funkelnd an und stiess sie weg.
Sie konnte sich nicht abstützten und schlug hart auf. Scharf sog sie die Luft ein.
„Wer ich bin? Die Frage ist vielmehr, wer bist du? Tochter von Gregor und Sandrine. Die einzige, die mir durch die Lappen gegangen ist und das nur wegen meinem ach so überfürsorglichen Bruder Martin.“
Dann war er nicht Martin. Das war doch schon einmal etwas.
„Mich hat man immer nur belächelt oder ignoriert, ihn hat man angehimmelt und bewundert. Er konnte alles haben. Genauso wie Gregor. Der schlaue Gregor. Der Bücherwurm. Dabei waren Streber doch in der Regel unattraktiv. Nicht so Gregor. Ich verstehe heute noch nicht wie, aber er eroberte die erste Frau, die ich zu lieben wagte. Und was tat er mit diesem schützenswerten Wesen? Er tötete sie.“
Gregor tötete seine Geliebte? Überrascht riss Emma die Augen auf.
„Aber nicht nur er ist für ihren Tod verantwortlich. Du trägst genauso viel Schuld.“
Wie bitte?
„Und deshalb hast du den Tod ebenso verdient wie alle anderen Sünder meiner Familie.“
„Ich? Wieso ich? Ich habe nichts getan! Ich wusste bis gerade eben noch nicht einmal, wer ich bin!“
„Er hätte euch beschützen müssen. Er hat es aber nicht getan. Er hat sie umgebracht und du warst die Waffe. Sein Samen hat das tödliche Gift direkt in ihren Körper gepflanzt.“
„Sie starb bei meiner Geburt. Aber dafür kannst du doch ihm nicht die Schuld geben! Und schon gar nicht mir! Ich war ein Baby!“
Der Wahnsinn stand in seinen Augen.
In Emma stieg Panik auf.
„Ach nein? Er hat den Zorn Gottes heraufbeschworen. Er schwängerte sie ohne verheiratet zu sein. Er brachte Gott gegen ein unschuldiges Mädchen auf. Nicht einmal ihre eigene Mutter konnte über diesen Frevel hinwegsehen. Weisst du, dass Sandrines Mutter sie deswegen auf die Strasse gestellt hatte? Sandrine kam zu uns. Mit offenen Armen wurdet ihr aufgenommen. Der fleischgewordenen Sünde Einlass gewährt. Und meine Eltern sahen nur tatenlos zu. Mir schenkten sie kaum Vertrauen, verstiessen mich, indem sie mir nichts zumuteten. So wie alle anderen auch. Aber einer offensichtlichen Sünde meines Bruders sahen sie nachsichtig zu.“
Sie verstiessen ihn, indem sie ihm nichts zutrauten. Die Worte hallten in Emmas Ohren wider. Eine Erinnerung grub sich den Weg zurück in ihr Gedächtnis.
Das Männchen, das überall herablassend behandelt und verstossen wurde und zur Strafe eine Felslawine schickte, die das ganze Dorf unter sich begrub.
Das war es also. Deshalb lag der einst so wundervolle Hof heute unter Felsen begraben.
Emma konnte nicht mehr weiter darüber nachdenken. Der Mann, den sie als Martin kannte, wandte sich ab. Er ging an den hinteren Teil seines Pickups zurück. Dann griff er nach ihrem Fuss.
Emma trat wild um sich. Dennoch erwischte er ihr Fussgelenk. Er zog sie mit einem kräftigen Ruck zu sich und löste die Fessel.
„So. Jetzt werde ich auch dir zeigen, wozu ein allseits unterschätzter Antonius Reich fähig ist.“
Antonius.
Emma dachte fieberhaft nach. Doch musste sie sich eingestehen, dass dieser Name in ihr nur eine Erinnerung wachrief. Der gutgläubige, schwachsinnige Stotterer. Auch sie hatte den Mann dahinter einfach ignoriert und übersehen. Obwohl sie ihn nicht einmal gekannt hatte.
„Komm.“ Er riss erneut an ihren Beinen.
Emma überlegte angestrengt, wie sie ihm entkommen könnte.
Müssten Ben und Alice ihre Abwesenheit nicht schon lange bemerkt haben? Oder glaubten sie, nach der Erkenntnis des Abends würde sie sich alleine die Beine vertreten wollen?
Nein. Das würden sie nicht denken. Nicht nach allem, was geschehen war.
Sie musste Zeit gewinnen.
Während er zog, rutschte sie von der Ladefläche. Sie landete auf den Füssen, hatte aber kein Gefühl in den Beinen. Sie knickte ein und fiel auf die Erde. Er griff schroff unter ihren Arm und zog sie hoch.
Er zerrte sie vom Auto weg.
Emma stolperte unbeholfen neben ihm her.
Selbst wenn sie sich hätte wehren wollen, die Kälte und die Schmerzen schwächten sie zu sehr.
„Was hast du mit mir vor?“
„Das wirst du schon sehen.“ Er blieb stehen.
Zum ersten Mal hatte Emma Augen für die Umgebung. Entsetzt wich sie zurück.
Sie sah den Balken, wie er sich düster und bedrohlich vom Nachthimmel abhob.
Und das Seil, das im Wind leicht hin und her wehte.
Als würde es ihr zuwinken.
Sie konnte die Augen nicht abwenden. „Nein“, flüsterte sie, erfüllt von Panik. „Damit wirst du nicht durchkommen! Im Tal hat man mein Fehlen bestimmt bemerkt. Es ist sicher schon jemand auf der Suche nach mir! Sie werden bald hier sein, dann kannst du nicht mehr entrinnen. Willst du das? Ist das dein grosses Ziel, nach allem, was du bereits geleistet hast, willst du jetzt im Knast versauern?“
Er lächelte nur.
Sie musterte sein Gesicht. Und da begriff sie. Es würde sie niemand retten. Natürlich nicht. Denn auch für diesen Fall hatte er Vorkehrungen getroffen.
Wer würde zuerst auftauchen? Die Polizei? Ben?
Ben.
Unvermittelt schossen Emma die Tränen in die Augen. „Du Monster. Was hast du mit ihm gemacht?“, brüllte sie ihn an.
„Mit wem? Mit Ben? Den habe ich sozusagen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.“ Er lachte auf. „Er kann dich nicht mehr retten. Keiner kann das. Sie werden kommen, ja. Aber dann wird es zu spät sein. Sie werden nur eine Leiche vorfinden, die an einem Seil baumelt.“ Er riss an ihrer Schulter und sah sie aus irren Augen an. „Deine Leiche.“
Damit zog er sie unter den Balken.
Sie wand sich, so gut sie konnte. Rammte ihm den Ellbogen in den Bauch und versuchte seine Weichteile mit dem Knie zu treffen. Aber sie war chancenlos.
Er legte ihr den Strick um den Hals und zog die Schlaufe fest. „Sag gute Nacht, meine liebe Nichte.“
Zeit. Sie brauchte noch mehr Zeit. Wie konnte sie ihn erreichen?
Sie sah, wie er ihr den Rücken zu drehte. Wie er sich entfernte. Wie er zum Auto ging. Emma sah auch, wo das andere Ende des Seiles befestigt war.
Wenn er im Auto sass, war sie verloren.
Sein Schwachpunkt war sein Geltungsbedürfnis. Seine Waffe war sein Verstand.
Genau.
„Hey!“, brüllte sie ihm nach. „Warum hast du mich nicht früher geholt? Warum hast du mich nicht schon getötet, als ich ein wehrloses, kleines Kind war? Mein netter Onkel war wohl zu clever für dich?“
Es machte den Anschein, dass er sie ignorierte. Wahrscheinlich durchschaute er ihren billigen Versuch, Zeit zu schinden.
Er ging unbeirrt weiter und öffnete die Fahrertür.
Doch dann hielt er inne. Langsam drehte er sich um.
„Du willst mich ärgern, um Zeit zu gewinnen. Netter Versuch.“
Verflucht.
„Lass dir dennoch gesagt sein, dass mein Bruder nicht so schlau war, wie er dachte. Ich wusste von Anfang an, dass dieser Autounfall nicht echt war. Ich fand nie heraus, woher er die Leichen hatte, die im Wrack verbrannten, aber das spielte auch keine Rolle. Ich habe ihn gesucht. Ich habe euch gesucht. Viele Jahre lang. Aber schlussendlich wurde ich fündig. Nämlich als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Martin hatte Krebs, weisst du? Diese hässliche Seuche frass ihn von innen auf. Gestorben wäre er sowieso. Den Zeitpunkt wählte aber lieber ich.“
Dieses dämliche, triumphierende Grinsen. Ein Gefühl von Hass begann Emmas Panik allmählich zu überschatten.
„Ach ja? Einen wehrlosen Menschen zu ermorden ist äusserst lobenswert, muss ich schon sagen.“
„Spotte du nur. Du wirst mir das Gefühl, das ich damals hatte, nicht schlecht reden können.“
„Behalte deine perverse Art von Glücksgefühlen. Sag mir lieber, wie du mich gefunden hast.“
„Das erledigte mein Bruder für mich. Überglücklich mich wiederzuhaben schöpfte Martin keinen Verdacht. Er erzählte mir alles. Dass er dich wegbrachte, um dich vor dem Fluch zu retten. Dass er dich in einer guten Familie untergebracht hatte, dass er deinen Eltern einen Brief mitgab, den sie dir geben sollten, dass du den Brief erhalten hast. Ja, er hatte ein Auge auf dich. Sein ganzes Leben lang. Gezeigt hat er sich nie, aus Angst dich in Gefahr zu bringen. Was für ein Pech, dass er das gerade mir erzählte. Erst, als er mich fragte, wie ich aus dem Haus entkommen war und ich ihm antwortete, dass ich nicht drin war, weil ich eine Sprengung vornehmen musste, da dämmerte es ihm. Aber da war es schon zu spät. Ich erstickte ihn ganz banal mit einem Kissen, nahm seine Identität an, knüpfte Kontakt zu dir und da sind wir nun.“ Er genoss seine Rolle. Er grinste, wie eine Katze, die eine Maus gefangen hatte. „Und jetzt werde ich dich töten.“
„Und Rosaria? Wie hast du sie dazu bekommen, alles mitzumachen?“
„Geld. Zum Kotzen einfach. Aber wirkungsvoll.“
Er drehte sich weg, setzte sich in sein Auto.
Emma dachte nach. Doch ihr fiel nichts mehr ein.
Er schlug die Tür zu. Und startete den Motor.
Das war’s.
Innerlich gab sie auf. Da nahm sie eine Bewegung unter dem Pickup wahr.
Was war das? Träumte sie?
Nein. Da war es schon wieder.
Sie erkannte zwei Hände, die sich scheinbar blind an der Anhängerkupplung zu schaffen machten.
Sie versuchten das Seil abzuziehen, aber sie schafften es nicht. Es sass zu fest und der Knoten liess sich auf die Schnelle und ohne Messer nicht lösen.
Emma hörte ein Fluchen. Plötzlich bekamen die Hände auch ein Gesicht.
Emma riss in einer Mischung aus Überraschung und Erleichterung die Augen auf. Sie wollte aus Reflex etwas sagen, doch er legte mahnend den Finger auf seinen Mund.
Gerade rechtzeitig verschluckte sie ihre Stimme.
Nur ihre Lippen formten noch das Wort: Ben.
Ihm entging nichts. Dafür war er zu sensibel. Konzentriert beobachtete er den Wandel, den Emmas Gesicht durchmachte im Rückspiegel.
Dann sah er, wie sich ihre Lippen bewegten.
Nein. Das konnte nicht sein.
Rasende Wut kochte in ihm hoch.
Wie war er so schnell hierher gekommen? Wie hatte er sich unbemerkt so nahe an ihn heranschleichen können?
Das war unmöglich! Ein Trick. Bestimmt.
Er legte den Gang ein. Setzte den Fuss aufs Gas. Den Blick fest auf den Rückspiegel gerichtet.
Du wirst mir nicht entkommen.
Ben hörte das Getriebe. Er liess vom Seil ab und holte die Kette hervor, die ihn vom Motorrad geholt hatte. Er legte die vorgefertigte Schlaufe über die Anhängerkupplung. In geduckter Haltung eilte er anschliessend zu einem der Stützbalken.
Er sah eine Bewegung. Dann sah er den Mann, wie er zum Stützbalken rannte. Er war es tatsächlich.
Dieser…
Der Gedanke blieb in der Luft hängen. Blind vor Wut drückte er das Gaspedal durch.
Mit einem hämischen Grinsen im Gesicht beobachtete er ihm Rückspiegel, wie Emma abhob.
Sie verlor den Boden unter den Füssen. Panik zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.
Gut so.
Ben machte einen verzweifelten Hechtsprung.
Was auch immer du vor hast, du kommst zu spät.
Da fuhr ein Ruck durch den Pickup.
Die Räder spulten durch. Das Auto kam nicht mehr von der Stelle.
Was zum Teufel…?
Ben hechtete zum Pfosten, warf die Kette um dessen Fuss.
Als Antonius Gas gab, verlor Ben ein beträchtliches Stück der Kette aus den Händen und Emma ihren Halt.
Hektisch versuchte er zu retten, was zu retten war. Solange sie ihr Genick nicht brach, gab es Hoffnung. Er bekam den Karabiner gerade noch in ein Kettenglied, als Emma die Erde nur noch mit der Spitze des grossen Zehs berührte.
Keine Sekunde zu spät.
Dennoch, sie würgte und hustete. Das Seil lag eng um ihren Hals.
Sie versuchte mit ihren Händen ihren Hals zu schützen. Aber das ging nicht. Die Hände waren noch immer auf dem Rücken zusammengebunden.
Ben schnappte sich einen breiten Stein. Er wollte ihn Emma unter die Füsse legen.
Da hörte er den Motor erneut aufheulen. Ben sah über seine Schulter zurück.
Am Pickup leuchteten die Rückfahrlichter.
Der Motor des Wagens heulte auf. Das Fahrzeug raste mit Vollgas rückwärts. Direkt auf Ben zu.
Emma stiess einen entsetzten Laut aus.
Die Spannung auf dem Seil gab auf einmal nach. Emmas Füsse fanden wieder Boden, konnten aber nichts damit anfangen. Es ging alles zu schnell. Unsanft schlug sie mit dem ganze Körper auf der Erde auf.
Das Auto überwand die letzten steinernen Überreste des Fundaments problemlos.
Ben reagierte. Er sprang zur Seite. In letzter Sekunde. Der Wagen krachte gegen den Balken. Genau dort, wo Ben gerade eben noch gewesen war.
Der Balken geriet ins Wanken.
Er legte den Gang ein.
Benommen richtete Ben sich auf. Er versuchte, die Situation zu erfassen. Das Auto, wie es wegfuhr. Emma, wie sie dem Seil ausgeliefert war. Wie es sie durch die Kraft des Wagens wieder auf die Füsse zwang.
Sie musste vom Seil weg. Und dieser Wahnsinnige vom Steuer.
Ben rannte los. Im Rennen hob er den flachen Stein wieder auf, den er bei seinem Ausweichmanöver fallen gelassen hatte. Schnell schob er ihn Emma unter die Füsse.
Wie vom Teufel besessen gab er Gas. Das Seil über dem Balken strafte sich. Er beobachtete im Rückspiegel, wie Ben Emma einen Stein unter die Füsse legte.
Oh, nein. So nicht.
Da gab es einen erneuten Ruck.
Nicht nur das Seil hatte sich wieder gestrafft, sondern auch die Kette.
Wütend schlug er auf das Lenkrad.
Er würde sie wohl anders töten müssen.
Er griff an die Tür, um sie zu öffnen.
Da war Ben aber schon bei ihm. Er riss mit einer Hand die Tür auf, mit der anderen schlug er Antonius ins Gesicht.
Überrascht begriff Antonius einen Augenblick lang nicht, was geschehen war. Er fand aber schnell wieder zu sich.
Er drückte aufs Gas. Gleichzeitig griff er nach seinem Stiefel.
Emma versuchte sich auf dem Stein zu halten. Und sie bemühte sich, zu sehen, was vor sich ging.
Sie erkannte nicht genau, was geschah. Sie konnte es nur erahnen. Die beiden Männer kämpften miteinander. Das war sicher. Eine Erinnerung durchzuckte sie.
Das Messer. Antonius hatte ein Messer. Wo, wusste sie nicht, aber sie war sich sicher. Sie erinnerte sich an den Druck der Klinge an ihrem Hals, als er das Seil aufgeschnitten und den Sack von ihrem Kopf gezogen hatte.
Sie musste ihn warnen. Jetzt, da sie einigermassen stand und nicht mehr hing, konnte sie das auch. „Ben! Pass auf, er hat ein Messer!“, rief sie ihm zu, so laut sie konnte und so gut es ihre angeschlagene Stimme zuliess.
Sie vermochte es kaum, den Motor des Pickups zu übertönen.
Aber Ben hörte sie. Aus Reflex hob er den Kopf in ihre Richtung.
Ein fataler Fehler.
Er griff in den Schaft seines Stiefels. Mit den Fingern umschloss er fest den Griff des Messers. Er hörte, wie Emma etwas rief und sah, wie Ben sich ablenken liess.
Er nützte die Gunst des Augenblicks, zog das Messer und holte aus.
Ihre Worte trafen Ben härter, als eine Faust es hätte tun können.
Ein Messer?
Sofort realisierte er, dass er sich gerade eben schutzlos auslieferte. Ben registrierte eine Bewegung im Augenwinkel. Sein Kopf schoss zurück.
Instinktiv hob er den Arm.
Das Messer traf auf das feste Leder der Motorradjacke. Es glitt durch die Tierhaut wie durch Butter.
Ben schrie auf vor Schmerz als sich die Klinge in sein Fleisch senkte.
Blut quoll aus der Wunde.
Aber Ben fasste sich, versuchte die blutende Wunde zu ignorieren.
Antonius holte erneut mit dem Messer aus und zielte auf Bens Hals. Dieses Mal war Ben vorbereitet. Er hob seine Hand, erwischte Antonius am Handgelenk und wehrte den Stich ab. Antonius hielt dagegen.
Im Handgemenge rutschte Antonius Fuss vom Gas. Das Pedal schien vergessen.
Mit aller Kraft versuchte Ben Antonius Handgelenk gegen das Lenkrad zu schlagen.
Ben gewann das Kräftemessen. Als Antonius zum ersten Mal nachgab, nutzte Ben die Chance.
Die Hand prallte heftig gegen das Steuer. Im Hangelenk knakte etwas. Antonius jaulte auf und liess das Messer fallen.
Aber er gab sich nicht geschlagen. Wütend krallte er seine freie Hand in Bens blutende Schnittwunde. Das zeigte Wirkung. Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte Ben seinen Griff. Antonius befreite seine geschändete Hand und drückte Bens Kopf weg. Dieser gab die Gegenwehr von einer Sekunde auf die andere auf und liess sich fallen. Antonius verlor das Gleichgewicht und stürzte beinahe aus dem Wagen. Er konnte sich aber gerade noch am Lenkrad festhalten.
Ben nutzte die Gelegenheit. Er drückte sich vom Boden weg, setzte erneut zum Angriff an. Er holte mit dem Ellbogen aus.
Antonius warf sich auf die Beifahrerseite und trat gleichzeitig wieder aufs Gas.
Emma wurde unruhig.
Der Motor heulte. Die Räder spulten durch. Abgase stiegen ihr in die Nase.
Die Kette war zum Zerreissen gespannt.
Das Gebälk knackte bedrohlich.
Wenn das so weiter ging, würde es bald nachgeben.
Bens Ellbogen tauchte ins Polster des Fahrersitzes ein.
Antonius griff in den Fussraum.
Er bekam das Messer zu fassen. Er richtete sich auf und zielte auf Bens Kopf.
Ben wich aus. Das Messer stach in das Polster, wo zuvor Bens Ellbogen gelandet war. Ben reagierte prompt. Er packte Antonius Arm, damit er das Messer nicht wieder aus dem Sitz ziehen konnte und verhinderte so auch, dass Antonius ihm erneut auswich.
Darauf bedacht, das Gas nicht unter den Füssen zu verlieren, wollte Antonius Ben mit seiner freien Hand am Kragen packen.
Bevor Antonius Ben zu fassen bekam, holte Ben erneut mit dem Ellbogen aus.
Und diesmal traf er. Er platzierte seinen Ellbogen direkt an Antonius Schläfe.
Und dann geschah alles gleichzeitig.
Ben sah, wie Antonius‘ Augen sich verdrehten.
Er hörte ein ohrenbetäubendes Krachen.
Er spürte, wie er gegen den Sitz geschleudert wurde.
Er bemerkte, wie ihm der Boden unter den Füssen weggerissen wurde.
Er begriff, dass der Pickup sich von seinen Fesseln befreit hat. Dass er an Fahrt gewinnen würde. Dass er in halsbrecherischem Tempo über Stock und Stein die Wiese hinunter rasen würde. Direkt auf den Wald zu.
Zusammen mit Emma, die die Schlinge noch um den Hals trug.
Emma hörte ein Krachen. Ihr Blick wechselte vom Auto auf den Balken. Sie konnte gerade noch beobachten, wie das Holz splitterte.
Da fiel sie auch schon zu Boden.
Die Zugkraft des Fahrzeuges war einfach zu gross gewesen.
Die Holzkonstruktion, die dem Feuer getrotzt hatte, jahrelang Wind und Wetter widerstand, brach schliesslich in sich zusammen, als wären die massiven Balken nur Streichhölzer.
Das Gebälk stürzte in Richtung des Abhangs.
Was das für die Schlinge um ihren Hals bedeutete, darüber wollte sie nicht nachdenken.
Noch nicht.
Geistesgegenwärtig rollte sie sich in die andere Richtung, als das Gehölz stürzte. Soweit es das Seil um ihren Hals zuliess. Dann kauerte sie sich zusammen. Sie schloss die Augen und wartete. Sie wartete, bis das Seil sich straffte, sie mitreissen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Schliesslich wagte sie einen Blick.
Sie sah in Richtung des Abhangs und traute ihren Augen nicht.
Ben schaute zu Antonius. Sein Oberkörper war auf die Beifahrerseite gekippt.
Er rührte sich nicht mehr. Wahrscheinlich bewusstlos.
Ben griff nach dem Lenkrad.
Gas gab Antonius nun nicht mehr. Aber einmal ins Rollen gebracht, würde der schwere Pickup auf dem abschüssigen Gelände zunehmend an Geschwindigkeit gewinnen.
Sich in dem rumpelnden Fahrzeug vernünftig zu bewegen, war ein nervenaufreibendes Unterfangen. Irgendwie schaffte es Ben, einen Fuss auf die Bremse zu setzen. Er trat das Pedal durch und riss gleichzeitig das Lenkrad herum.
Der Wagen schleuderte in die entgegengesetzte Richtung.
Er steuerte nicht mehr auf den Wald zu. Sondern auf einen Teil des steinernen Fundaments.
Darüber würde das Auto nicht einfach hinwegfahren.
Es würde direkt hineinkrachen. Und zwar in der nächsten Sekunde.
Es gab für Ben nur eins. Und zwar umgehend, sonst würde er zu Brei zerquetscht.
Irgendwie schaffte es Ben sich rückwärts zu bewegen.
Im nächsten Moment spürte er Erde unter seinem Rücken. Die Welt drehte sich, dann stand sie still.
Neben seinem Kopf krachte es.
Ben hatte aber nicht mehr die Kraft, nachzusehen.
Er schloss einfach die Augen.
Pause. Nur eine kurze Pause.
Emma beobachtete, wie das Auto die Richtung änderte. Sie fürchtete schon, Antonius hätte gewonnen und beschlossen, sie zu überfahren. Aber der Wagen kam nicht auf sie zu. Stattdessen schleuderte er direkt neben ihr auf den steinernen Sockel des einstigen Hauses zu.
Ein schwarzer Körper fiel aus dem Auto und verschwand hinter der Karosse aus Emmas Blickfeld.
Gleich darauf krachte der Wagen mit voller Wucht gegen die Mauerreste.
Dann rührte sich nichts mehr.
Es war unheimlich, wie still auf einmal alles war.
Nur noch das Summen der Scheinwerfer, die sinnlos die graue Mauer beleuchteten, war zu hören.
Der Motor des Wagens war abgestorben.
Sie konnte kaum fassen, dass sie noch auf demselben Fleck Erde lag und nicht wehrlos durch die Gegend geschleift worden war.
Er hatte sie gerettet. Davon war sie felsenfest überzeugt. Aber wo war er?
Panik stieg in Emma auf.
Ben?
„Ben!“, schrie sie aus voller Kehle. Immer und immer wieder wiederholte sie seinen Namen, obwohl ihre Stimme dieser Tortur kaum standhalten konnte.
Emma rappelte sich auf. Sie stolperte zum Auto.
Weit kam sie nicht. Das Seil um ihren Hals strafte sich und zwang sie mit einem Ruck zum Stehen. Der schwere Balken hatte das andere Seilende eingeklemmt.
Dieses verdammte Seil!
Dabei wollte sie doch nach Ben sehen. Er musste ganz in der Nähe sein. Und dennoch konnte sie nicht zu ihm gelangen.
Sie konnte ihn nicht verlieren. Sie durfte ihn nicht verlieren.
Sirenen hallten durch den Wald.
Hilfe nahte. Endlich.
Dennoch hörte sie nicht auf, nach Ben zu rufen.
Da.
War das nicht eine Bewegung?
Angestrengt schaute sie in die Dunkelheit.
Tatsächlich.
Im Schatten hinter dem Auto bewegte sich etwas.
Ben? Oder Antonius?
War es möglich, dass es noch nicht ausgestanden war? Emma schauderte bei dem Gedanken. Instinktiv wich sie zurück.
Eine Hand legt sich auf den Rand der Ladefläche. Ein schwarzer Arm folgte. Eine genauso schwarze Schulter. Ein hellbrauner Haarschopf.
Das war zu viel. Die Erleichterung überflutete Emma. Tränen traten ihr in die Augen.
Sie liess sich auf die Knie fallen.
Ben wankte zur Fahrerkabine. Seinen verletzten Arm hielt er schützend vor seine schmerzende Brust. Jede Bewegung tat höllisch weh.
Er sah nach Antonius.
Ein hässlicher Anblick. Eingequetscht zwischen Sitz und Armaturenbrett.
Der Kopf war kaum mehr als solcher zu erkennen.
Im Sitz steckte noch das Messer.
Ben atmete auf. Und zuckte zusammen.
Scheisse.
Er zog das Messer raus, humpelte um den Pickup herum.
Als er Emma sah, auf dem Boden kniend, den Strick um den Hals, und wie sie ihn mit grossen, tränennassen Augen anschaute, aus denen die Erleichterung nur so sprühte, hätte er am liebsten selbst zu heulen angefangen.
„Ist es vorbei?“
Ben nickte. Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Es ist vorbei.“
Er hinkte zu ihr hinüber, liess sich vor ihr nieder, legte die Hände an ihren Hals. Behutsam löste er die Schlinge und zog sie ihr über den Kopf.
Endlich.
Emma atmete auf. „Danke. Die Handschellen kannst du nicht zufällig auch noch lösen?“
„Tut mir leid. Aber wie es klingt, ist bald ein Schlüssel da.“
Tatsächlich kamen die Sirenen immer näher. Zwischen den Bäumen konnte man die ersten Lichter aufblitzen sehen.
Ben fasste an Emma vorbei und legte sanft eine Hand über ihre auf dem Rücke gefesselten Hände.
Emma lehnte sich leicht gegen seinen Arm. Ihren Kopf liess sie gegen seine Schulter sinken.
Er strich über ihr Gesicht. Über ihren geschundenen Hals. Er gab ihr einen Kuss aufs Haar.
Zum ersten Mal, seit sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hatte, fühlte sie sich sicher. „Antonius?“, fragte sie leise.
„Matsch.“
Pfui. Angeekelt verzog Emma ihr Gesicht.
„Ich hätte da mal eine Frage.“
Neugierig hob Emma den Kopf, um ihm in die Augen sehen zu können.
„Oh, davon habe ich auch so einige.“
„Die klären wir später. Ich glaube, wir werden noch eine ganze Menge miteinander bereden.“
„Und mit einem Psychiater.“
„Das wird teuer.“
„Wahrscheinlich. Also, was wolltest du fragen?“
Zufrieden stellte Emma fest, dass sein schelmischer Funke in seinen Augen aufblitzte.
Der Ben, den sie kennengelernt hatte, war also trotz allem noch da. Vielleicht wurden die Sitzungen beim Psychiater ja doch nicht so teuer.
Ein Auto bretterte auf die Wiese. Alle Türen flogen auf.
Vier Menschen rannten auf sie zu.
Emma erkannte Kevin und Alice. Die anderen beiden kannte sie nicht.
Kevin und Alice bestürmten sie mit Worten, doch sie blendete sie einfach aus.
„Deine Frage?“
Ben tat es ihr gleich. Er konzentrierte sich nur auf Emma.
„Emma, verlorene Reich. Gibt es eventuell die Möglichkeit auf ein Date mit dir, ohne dass du irgendwo runterfällst?“
Sie musste unweigerlich lächeln. „Wäre doch langweilig, oder? Und abgesehen davon, bei dem hier hab ich ja nur ein bisschen rumgehangen. Den Hampelmann musstest du machen.“
Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Für ein Stadtküken bist du ziemlich liebenswert. Einen kurzen Anfall von heisser Leidenschaft hatten wir ja auch schon. Also, wie wär‘s, wenn wir herausfinden, ob wir auch ausserhalb extremer Umstände zueinander passen?“
Zueinander passen. Er und sie.
Ein hinreissender Gedanke. Vor allem, wenn er sie so spitzbübisch anschaute, wie er es gerade tat. Und er fand sie sexy, das hatte er gesagt.
Wie konnte sie da nicht dahinschmelzen?
Sie hob ihre Arme. Und musste überrascht feststellen, dass es ging.
Sie wagte einen kurzen Blick.
Kevin und Alice standen neben ihnen und sogen jedes einzelne Wort in sich auf.
Nach dem leicht schockierten Blick in Alices Gesicht zu schliessen, hatte sie auch Bens Äusserung über den kurzen Anfall von heisser Leidenschaft genau gehört.
Emma schmunzelte.
Von diesen Momenten würde es noch einige geben. Denn sie würde ihn nicht mehr gehen lassen. Aber das behielt sie für sich.
Sie schlang ihre frei beweglichen Arme um Bens Hals. Und er zog sie fest in seine.
Die Schmerzen waren vergessen.
Sie spürte nur noch ihn. Seinen Atem. Schmeckte seine Haut.
Sicherheit.
Ihre Lippen berührten sich. Warm. Vertraut. Wohltuend.
Die Welt rückte wieder an ihren Platz.
Mit einem einzigen Kuss.