Strang 1 / Kapitel 12

 

„…Emma! Emma! Jetzt mach verdammt nochmal die Augen auf! Du hättest mir sagen können, dass du so ein bisschen spontane Leidenschaft schlecht verträgst!“

Und wann genau hätte sie es sagen sollen? Bevor oder nachdem er sie auf die Motorhaube gehoben hatte? Die Schuldgefühle hatten Ben fest im Griff. Seine Gelassenheit, die ihm normalerweise immer zu Hilfe kam, drohte in der aufkochenden Panik einfach zu verdampfen. Ein ganz neues Gefühl.

„Oh Scheisse!“

Ben hatte nichts gehört. Weder, dass ein Auto herangefahren, noch dass jemand hinter ihn getreten war. Aber diese Stimme holte einen aus jeder Umneblung. Sie war so nervtötend, dass sie sogar Tote aufwecken konnte. So sagte man zumindest damals in der Schule.

Ben ignorierte den unpassenden Ausruf. Er blieb, wo er war. Mit einer Hand gestützt auf die zerbeulte, mit Mühe geöffnete Tür und mit der anderen an der Seite des Fahrersitzes. So stand er schützend vor der Insassin, die aussah, als schliefe sie auf ein riesiges, weisses Kissen gebettet.

Erst, als die Hand auf seiner Schulter ihn zum Weggehen zwang, reagierte er.

„Lass uns das machen.“

Die zweite Stimme war weit angenehmer als die erste. Kein Wunder. Die zweite kam auch nicht von einem ehemaligen Schulkollegen, sondern von dessen Vater, der schon immer für seine einfühlsame Besonnenheit bekannt gewesen war. Das war wohl auch der Grund, weshalb er, seit Ben denken konnte, bei der Ambulanz arbeitete. Dass sein Sohn in seine Fussstapfen getreten war, irritierte Ben. Der dünne, spitznasige Phil war ein rücksichtsloser Trampel. Er kam ganz nach der Mutter. Jedes Gefühl, das Empathie auch nur ähnelte, liess er vermissen. Damals wie heute. Und das bekam Ben auch gleich zu spüren.

„Alter, was hast du mit der Schnalle gemacht, dass die so gegen den Felsen gerumst ist? Hast sie mit deinem Prinzessinenfahrrad wohl beeindrucken wollen, was? Das ging nach hinten los, würd‘ ich sagen!“

Ben hätte sich beherrscht. Er hätte die Sprüche an sich abprallen lassen. Er hätte sie ignoriert. Sie hätten ihn so sehr gekratzt wie das Regenwasser einen Felsen. Doch so, wie das Regenwasser den Felsen zermürbt, wenn es nur lange genug darauf prasselt, so schaffte es auch Phil Ben letztlich aus der Ruhe zu bringen.

Denn Phil beliess es nicht beim Reden. Er begann zu lachen. Ein hämisches, schadenfrohes Grinsen formte seine Augen zu schmalen Schlitzen.

Ben fuhr herum und platzierte seine Faust mit voller Wucht direkt auf Phils Unterkiefer. Es knackte. Ein Schwall Blut ergoss sich aus Phils Nase.

Hatte er die auch getroffen?

Ben konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Es war ihm auch egal.

Mit blutverschmiertem Gesicht hielt sich Phil sein Kinn und winselte vor Schmerz. Seine Augen sprachen aber eine andere Sprache. Wütend funkelte er Ben an. Dann holte er mit der freien Hand zum Schlag aus.

„Phil, es reicht!“

Phil hielt tatsächlich inne. Mit einer Mischung aus Demütigung und Verständnislosigkeit sah er zu seinem Vater. Der schien auf einmal müde.

Ein Arschloch zum Sohn zu haben, war offensichtlich sehr anstrengend.

„Phil, komm auf der Stelle hierher und mach deinen Job!“

Ein leises Stöhnen aus dem Fahrzeuginnern liess Ben vergessen, was er soeben getan hatte. Er trat an das heran, was einmal ein roter Mini gewesen war.

Weit kam er nicht, da schob ihn Phils Vater resolut beiseite. „Geh aus dem weg, Junge. Sie muss aus dem Auto raus. Also los.“

Ben erkannte, dass Phils Vater während dem kleinen Intermezzo offenbar bereits alle notwendigen Vorkehrungen getroffen hatte.

Gehorsam hielt er sich zurück, als die Männer Emma vorsichtig aus dem Auto schälten.

Trotz seiner laienhaften medizinischen Kenntnisse begriff Ben, dass Emma grosses Glück gehabt hatte. Denn obwohl das Fahrzeug von aussen einen anderen Eindruck hinterliess, war sie nicht eingeklemmt.

Sie wurde auf eine Trage gelegt.

Da öffnete sie die Augen. Endlich.

Ben überkam eine Welle der Erleichterung. Er wagte es aber nicht noch einmal in ihre Nähe zu kommen. So sah er einfach still zu, wie Phils Vater Emma in den Krankenwagen beförderte.

Bevor er die Tür zuschlug, wandte sich Phils Vater noch einmal an Ben. „Ein mordsmässiger Muskelkater wird ihr nicht erspart bleiben, aber ansonsten hat sie wahrscheinlich nur einige Prellungen und Kratzer. Genau sagen kann ich das aber erst nach der Untersuchung im Krankenhaus. Aber eines ist sicher: Ihr Schutzengel braucht jetzt wohl ein wenig Ferien.“ Er räusperte sich. „Walter ist mit dem Abschlepper bereits unterwegs. Er nimmt Jens mit. Der wird dann sicher noch einige Fragen an dich haben.“

Ben nickte nur. Der Abschleppwagen nahm die Polizei zum Unfallort mit. Welch eigenwillige Vorgehensweise. Manche Dinge änderten sich hier wohl nie.

Während Phil sich schmollend in den Einsatzwagen verzog, zögerte sein Vater noch. Mit einem vorsichtigen Blick auf das Motorrad sprach er Ben noch einmal an. „Willst du mitfahren?“

Natürlich. Sie glaubten tatsächlich, er wäre schuld. Nun, das war er ja auch. Auf gewisse Weise. „Nein. Schon gut. Ich warte auf die beiden.“

Phils Vater zögerte. Er dachte kurz nach und schien einen Entschluss zu fassen. Dann ein letzter, mahnender Blick zu Ben, und der Krankenwagen war weg.

Ben erahnte die Gedanken des Sanitäters. Er fürchtete, Ben würde etwas an der Unfallstelle verändern. Um sich zu retten. Sich zu entlasten. Und dennoch hatte Phils Vater Ben alleine am Unfallort zurückgelassen. So gross konnte das Misstrauen also doch nicht sein, sonst hätte er wohl darauf bestanden, dass Ben mit dem Krankenwagen mitfuhr.

Verfluchtes Dorf.

Aber eigentlich verfluchte Ben sich selbst. Seinem Unmut Luft machend rammte er die angeschlagene Hand gegen einen glatten Felsen.

Woraufhin kleineres Gestein und ein wenig Dreck von oben herab rieselte.

Warum hatte er unbedingt zurückkommen müssen?

 

Warum hatte dieser Mistkerl ihr unbedingt folgen müssen? Hoch über der Strasse auf seinem angestammten Platz auf dem Fels stand er. Das Gesicht versteinert, die Kiefermuskeln angespannt. Die Hände fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel sich weiss unter der Haut abzeichneten. Die Adern unter der Haut an den Schläfen pulsierten. Er kochte vor Wut.

Und er stand zu nahe am Abgrund. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück.

Unter seinen Füssen löste sich die Erde und rieselte in kleinen Bröckchen den Fels hinunter, bis auf die Strasse.

Ja, er hatte mit ihr spielen wollen. Ja, sie sollte überleben. Aber nicht nach den Regeln anderer, sondern nach seinen eigenen!

In blinder Wut griff er nach dem nächstgelegenen Stein. Gross wie eine Ananas lag er schwer in seiner linken Hand.

Er hatte seinen Plan durchkreuzt. Wie ein Joker im Kartenspiel tauchte er auf und veränderte alles. Doch eine Freikarte gab es in diesem Spiel nicht. Also gab es nur eines. Die Karte musste aus dem Stapel entfernt werden.

Mit gerötetem Gesicht trat er erneut an den Abgrund. Die Zähne knirschten, der Kiefer schmerzte.

Er starrte nach Unten. Sein Ziel tauchte unter dem kleinen Felsvorsprung auf. Die Augen fest darauf gerichtet hob er den Arm und schleuderte den Stein mit aller Kraft in die Tiefe.

 

Das war schmerzhaft.

Ben umfasste seine Hand und biss die Zähne zusammen. Er ging zum Mini. Er beugte sich gerade zu dem kleinen Erste-Hilfe-Set hinunter, als etwas an ihm vorbeizischte.

Es verfehlte Ben nur knapp. Hart kam es auf dem Boden auf.

Entsetzt starrte Ben auf den grauen Stein, der nur eine Handbreit neben ihm gelandet war. Wenige Zentimeter weiter links und… Ben wollte nicht daran denken. Stattdessen wollte er wissen, woher dieser Brocken auf einmal gekommen war. Er machte einen Schritt zurück und sah nach oben. Für einen kurzen Augenblick glaubte er eine Bewegung zu sehen.

Etwas Braunes? Ein Tier? Möglich wär‘s.

Bevor er aber weiter darüber nachdenken konnte, hörte er ein Rattern. Einen kurzen Moment später sah er Walters alten Abschleppwagen die Strasse hinaufkeuchen.

Das Erste-Hilfe-Set war vergessen. Ben drehte sich nicht mehr zu dem Mini um, weshalb er auch nicht entdeckte, was der Aufprall zu Tage geführt hatte.

Im Fussraum der Beifahrerseite lag ein massives Stück Holz, aus dem ein korkengrosses Loch ausgefräst worden war.

 

 

Unscheinbar
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