Strang 1 / Kapitel 21

 

„Und mein besonderer Freund? Wie passt er in die Geschichte?“ Emma war vollkommen in Maras Erzählung aufgegangen. Darüber hätte sie beinahe den Grund für die Geschichte vergessen.

„Erinnerst du dich, dass Rudi einen Schuss abgegeben hat?“

„Im Glauben auf die Gämse zu schiessen, ja.“

„Nun, er hat auch etwas getroffen.“

„Deinen Stammkunden.“

Mara nickte langsam. „Genau. Er wurde wohl bewusstlos oder sonstwie benommen, dass er nicht mehr mitbekommen hat, was mit Rudi geschehen ist. Oder er hat es mitbekommen und kann uns einfach nichts mehr davon berichten, sei es wegen der Kugel oder des Schocks oder weil er es einfach verdrängt hat. Jedenfalls blieb er einige Tage unauffindbar und plötzlich tauchte er wieder im Dorf auf, mit einer Kugel im Kopf. Du kannst dir ja vorstellen, was hier los war, als er einfach bei uns reinspazierte und sich an den Stammtisch setzte. Schmutzig, stinkend, verkrustetes Blut und eine anständige Wunde am Kopf.“

„Meine Güte!“

„So ungefähr habe ich auch reagiert. Natürlich habe ich sofort Phils Vater angerufen. Man beschloss, die Kugel im Schädel zu lassen, da das Herausnehmen mehr Schaden angerichtet hätte. Er hatte riesiges Glück gehabt. Seither wird unser Freund nur noch die Kugel genannt.“

„Wie ist er überhaupt aus den Bergen zurückgekommen?“

„Das wüssten wir auch gerne. Und er selbst wohl ebenfalls.“

„Er hat keine Ahnung mehr?“

„Nicht die geringste.“

„Ist das überhaupt möglich? Ich meine, eine Kugel im Schädel und dann noch aus schwierigem Gelände nach Hause finden, alleine?“

„Es sieht danach aus. Kugel ist jedenfalls wieder unter uns, er ist am Leben und es steckt ihm etwas Unnatürliches im Kopf. Mehr Beweis dafür, dass man unter widrigsten Umständen über sich hinauswachsen kann, braucht es nicht. Denke ich.“

„Scheint so. Sag mal, dieser Rudi, weiss man zufällig, ob er irgendein Laster hatte, das ihn vielleicht veranlasste zu sündigen?“

Mara sah Emma skeptisch an. „Worauf willst du hinaus?“

„Das weiss ich selbst noch nicht so genau. Die Sache ist nur, ich habe mit eurem Pfarrer gesprochen. Dabei sind wir ein bisschen ins Rätseln gekommen. Er erzählte mir zum Beispiel, dass die Mutter Schrägstrich Schwiegermutter von Käthe und Bernard aus deren Haus hätte vertrieben werden sollen. Aber sie starb in dem Haus. Später starben dann Käthe und Bernard. Ruben, Miriams Ehemann, galt als Ehebrecher, Miriam nahm sich deshalb das Leben. Seitdem ward Ruben nie wieder gesehen und die Alphütte fackelte bis auf die Grundmauern ab.“

„Die Hütte brannte nicht vollständig nieder“, unterbrach Mara Emmas Ausführungen.

Erstaunt hob Emma eine Augenbraue. „Wie meinst du das?“

„Nebst dem steinernen Fundament blieb noch etwas anderes übrig, das den Leuten dann so richtig einen Schrecken einjagte.“

„So? Was soll das gewesen sein?“

„Der Balken im Tenn.“

„Der was und wo?“ Emma sah aus, als hätte man ihr eine physikalische Abhandlung zu erklären versucht.

„Der Balken, an dem Miriam sich erhängt hat. Der steht noch. Er hat das Feuer fast unbeschadet überstanden.“

„Im Ernst? Das ist doch aber gar nicht möglich! Der ist doch aus Holz, oder?“

„Das macht es ja so unheimlich. Niemand aus dem Dorf geht seither gerne dorthin. Der Balken ist wie ein Mahnmal. Ein Heiliges Kreuz hätte die Menschen kaum besser daran erinnert, sich zu benehmen.“

„Das muss ich mir mal ansehen. Wie kommt man dahin? Wandern, nehme ich an?“

Mara legte Emma die Hand über den Arm. „Ich rate dir, lass es. Gerade du solltest die Finger von solchen Ausflügen lassen.“

Mara sprach diese warnenden Worte mit solchem Nachdruck, dass sie in Emma einen inneren Widerstand auslösten.

Was wurde hier gespielt? Man wollte ihr doch am laufenden Band weismachen, dass alles in bester Ordnung war. Warum sollte sie dann also nicht zu dieser mysteriösen Alphütte aufbrechen?

„Im Gegenteil. Vielleicht sollte gerade ich da rauf gehen.“ Emma funkelte Mara herausfordernd an. „Es ist doch alles in bester Ordnung. Dieser Ansicht seid ihr doch alle. Oder habe ich etwas verpasst? Sag mal, Mara, wie viele verunglückte Familienmitglieder gab es denn?“

Mara versuchte Haltung zu bewahren. Aber es fiel ihr schwer.

Sie holte tief Luft ehe, sie antwortete. „Neun? Zehn? Ich weiss nicht mehr genau.“

„Neun oder zehn solche Unfälle innert einem Zeitraum von anderthalb Jahren. Da hatte das Schicksal aber mächtig zu tun, meinst du nicht auch?“, fragte Emma sarkastisch.

Mara bekam einen rauen Hals. Ihre Handflächen wurden feucht. Sie musste das Gespräch in andere Bahnen leiten. Oder besser: Sie musste das Ruder wieder an sich reissen. „Gegenfrage. Wenn du nicht bei Ben warst, was hast du dann bei Alice gewollt?“

„Hoppla, ganz schön direkt.“

„Es ist nun einmal so, dass ich wissen will, weshalb eine Freundin von mir in Gefahr gebracht wird.“

„Das Feuer. Verstehe.“ Emma verstand wirklich. Mara und Alice waren im selben Alter. Beide hatten das Schicksal der Reichs miterlebt. Alice als Angestellte des Hauses Reich hatte sicherlich schwer an den Geschehnissen zu beissen. Dann noch die Schwangerschaft.

Augenblick.

Emma stutzte. Sie brauchte noch einen Moment, um den Gedanken, der ihr soeben gekommen war, in das Puzzle einzufügen.

Mara beobachtete die Veränderung in Emmas Gesichtsausdruck. Ehe sie sich eine Ausrede zurechtlegen konnte, platzte Emma mit ihrer Erkenntnis heraus.

„Die Schwangerschaft. Alice hörte bei den Reichs auf, als sie schwanger wurde. Mit Ben. So ist es doch? Es muss so sein, denn sie hat keine anderen Kinder, stimmt’s? Wann ging sie? Ich wette, sie ging nicht erst, als sie nicht mehr arbeiten konnte. Sie ging, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Das sorgte bestimmt für reichlich Gesprächsstoff, nicht? Eine solche Aktion sorgt in der Stadt schon für Gespräche. Ein Ort wie dieser hier hat sich in den Gerüchten wahrscheinlich gesuhlt.“

Mara versuchte Emma zu unterbrechen. „Du nimmst den Mund reichlich voll für jemanden, der keine Ahnung vom hiesigen Leben hat. Wie kommst du nur auf all diese Dinge?“ Mara schlug einen mütterlichen Tonfall an. Sie liess einen leichten Tadel mitschwingen.

Aber Emma liess sich nicht einwickeln. Sie beugte sich zu Mara vor und behielt sie fest im Auge. „Eure Reaktionen. Die allererste Reaktion von Ben und Alice, als ich erwähnt habe, dass ich von einem gewissen Martin beauftragt wurde.“

Es war kaum zu sehen. Aber Emma entging es nicht. Da war es wieder. Dieses kleine Aufflackern einer Emotion.

„Ich habe also Recht. Ben wurde wütend. Alice bekam einen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck und bei dir ist es das Mitgefühl der Mitwisserin. Mara?“

Sie schwieg. Aber man konnte ihr ansehen, dass sie nicht mehr still sein wollte.

Emma fuhr fort. „Es gibt im ganzen Haus keine Fotos. Das kannst du nicht leugnen. Ich habe es selbst gesehen. Darum frage ich dich: Wer ist Bens Vater?“

Mara sog scharf die Luft ein.

Richtige Frage. Emma wartete.

„Alice hat es nie gesagt.“ Mara klang, als hätte sie mit diesen Worten einen Verrat an ihrer Freundin begangen. Wahrscheinlich hatte sie das in gewisser Weise auch.

Auf einmal empfand Emma Reue darüber, Mara zum Reden genötigt zu haben. Obwohl das absurd war. Mara hätte die Auskunft auch einfach verweigern können. Dennoch fühlte sich Emma mies. Aber nicht mies genug. „Was meinst du damit?“

Mara wirkte müde. „Das, was ich sage. Niemand, und ich meine niemand, weiss wer Bens Vater ist. Auch Ben nicht.“

„Nur Alice.“

„Nur Alice“, bestätigte Mara. „Aber die hütet ihr Geheimnis schon ihr Leben und einige Tragödien lang. Da wird sie es jetzt kaum ausplaudern. Aber warum ist das alles für dich von Interesse? Warum wolltest du mit Alice sprechen? Dass du auf sie als Auskunftsperson gekommen bist, ist nicht weiter verwunderlich. Schliesslich ist ihre Verbindung zu den Reichs ein offenes Geheimnis. Doch weshalb verlangst du nach diesen Infos? Du sagtest, dein Auftrag sei die Begutachtung des alten Grundstücks. Das hast du ja offensichtlich getan. Du musstest wie von uns angekündigt feststellen, dass dort oben nichts mehr ist, ausser die Geister der Vergangenheit. Auftrag ausgeführt. Aber warum bist du dann noch hier? Warum reisst du bei den Leuten alte Wunden auf, indem du all diese Erinnerungen weckst?“ Schmerz spiegelte sich in Maras Augen.

„Es tut mir Leid. Aufrichtig. Das kannst du mir glauben. Aber jetzt stecke ich selbst mit drin und das schon zu tief, als dass ich jetzt aufhören könnte.“

„Inwiefern?“

„Wie Kugel vorhin sagte. Unfall, Steinlawine, Erschlagen, Feuer. Die unspektakulärste Begegnung war die mit der Heiligen Jungfrau, aber dennoch, es gab sie. Ich war also bei allen vier Ereignissen involviert, und das nehme ich persönlich. Es lässt sich alles plausibel erklären. Das ist mir klar. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Bisher glaubte ich, ich war immer nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Langsam habe ich aber das Gefühl, da steckt mehr dahinter. Vielleicht stochere ich zu sehr in alten Wunden herum. Wer weiss.“

Emma stand auf. Sie legte eine Zehnernote auf den Tisch und ging zur Tür. Verfolgt von Maras Unbehagen.

Bevor Emma das Lokal verliess, drehte sie sich noch einmal um. Sie sah Mara fest in die Augen. „Aber ich bin nicht die einzige, die aus heiterem Himmel hier aufgetaucht ist und alles durcheinander gebracht hat.“

Emma sah nicht, wie Mara schwer schluckte. Die Tür fiel vorher ins Schloss.

 

Sie wollte und würde Ben finden. Alice war wahrscheinlich noch nicht wieder zurück. Ob Ben noch in ihrem Haus war, konnte Emma nur raten. Zum Haus zu fahren, um nachzusehen wäre natürlich eine Variante. Wenn man denn ein Auto hatte. Es kam zwar aus einem dunklen Loch im Berg eine Schiene, die direkt ins Dorf führte. Dort gab es auch eine Haltestelle, bevor die eingleisige Zugstrecke aus den Häusern hinaus über unbebautes Land und direkt in das nächste schwarze Loch verschwand. Zwar stimmte die Himmelsrichtung ungefähr, aber Emma wusste weder wann diese Miniaturausgabe eines Zuges fuhr, noch wo genau die nächste Halstestelle nach dem Dorf war. Bestenfalls war sie genauso weit weg von Alices Haus wie das Dorf.

Sie könnte aber auch jemanden anrufen, der vielleicht mehr wusste.

Emma zückte ihr Mobiltelefon. Sie wählte sich ins Internet ein. Das Suchfenster öffnete sich schleichend langsam. Ungeduldig zappelte Emma mit dem Fuss. Sie war dankbar, dass sie überhaupt Netz hatte. Sie wäre nur noch ein wenig dankbarer, wenn das Netz ein bisschen schneller wäre. Dann erschien das ersehnte Suchfeld. Sie tippte „Auto Garage Weiler Bern“ ein und drückte auf Suchen. Nach einer gefühlten Minute erschienen die Sucherergebnisse. Und tatsächlich landete sie den gewünschten Treffer. Sie wählte die Nummer und wartete.

Einmal läuten. Zweimal läuten. Dreimal läuten.

„Ja, Walter hier. Wer spricht denn da?“

„Walter! Hallo! Hier ist Emma.“

Walters Stimme veränderte sich von eher gelangweilt zu hoch erfreut. „Emma! Welch eine Überraschung! Womit habe ich diese Ehre verdient? Brauchst du ein Auto?“

Emma musste lächeln. „Kannst du dir leisten, noch eines zu verlieren?“

„Ach, der ist doch nicht verloren. Es dauert nur ‘ne Weile, bis ich ihn wieder habe. Keine grosse Sache. Wie kann ich helfen?“

„Eigentlich hab ich nur eine Frage“, Emma räusperte sich verlegen, was Walter nicht entging.

„Immer heraus damit. Kein Grund sich zu zieren.“

„Naja, ich hab mich gefragt, ob du vielleicht weisst, wo Ben steckt?“

„Aha. Daher weht der Wind.“

Emma konnte im Geiste richtiggehend sehen, wie Walters Schmunzeln hinter den Falten verschwand. Sie grinste in ihr Telefon.

„Und? Weisst du’s? Oder besser: Kannst du mir die Frage beantworten? Oder eher nicht?“

„Natürlich kann ich. Komm einfach her und deine Suche ist beendet.“

„Sehr gut. Bis gleich also!“

Emma legte auf. Obschon die Garage für einen Fussgänger auch nicht unbedingt ideal erreichbar war, lag sie doch immerhin näher beim Dorfeingang als Alices Haus beim Dorfausgang.

Nach einem Marsch von einer Viertelstunde kam Emma leicht ausser Atem bei Walter an. Dieses Mal liess sie den Verkaufsraum gleich aus. Ohne zu zögern ging sie um das Gebäude herum und trat direkt in die Werkstatt ein.

Sie entdeckte niemanden. „Hallo?“ Emma schlich um zwei Fahrzeuge herum. „Hallo!“

Nichts.

Ihr fielen die Kopfhörer wieder ein. Aber wie hatte Walter dann das Telefon hören können?

Gleich darauf erhielt sie die Antwort. Ein eindringliches Klingeln hallte durch die Werkstatt. Anfangs regte sich nichts. Aber nach dem dritten Mal hörte Emma eine Stimme. Sie versuchte den Standort der Stimme zu bestimmen, doch da war nur ein Stapel schwarz glänzender Pneus. Daneben lagen einige schimmernde Felgen. Plötzlich bewegte sich hinter dem Materialberg etwas. Emma zuckte leicht zurück, als Walter dahinter hervortrat. Er trug einen blauen Overall, der über und über mit dunklen Flecken bedeckt war. Öl, schätzte Emma.

Walter war so in das Gespräch vertieft, dass er Emma im ersten Augenblick nicht entdeckte. Als er sie dann bemerkte, wurden die Augen gross vor Überraschung, dann verschwanden sie hinter den Falten. Er winkte kurz, deutete aufs Telefon und verschwand im Verkaufsraum.

Na, wenigsten einer freute sich, sie zu sehen. Aber wo war der andere?

Ein schleifendes Geräusch erregte Emmas Aufmerksamkeit. Sie spähte in die Richtung, aus der es gekommen war. Auf Augenhöhe entdeckte sie nichts. Also senkte sie den Blick. Und da lag er. Auf einem Ding, das aussah wie ein Snowboard auf Rädern. Er war schmutzig, nicht nur die Überkleidung, auch das Gesicht. Sie beobachtete, wie er vorsichtig den Kopf einzog, um sich den Schädel nicht am Chassis anzuschlagen, und dann aufstand. Er ging zu einem Tisch, auf dem allerlei mechanische Teile lagen.

Auf einmal war sie nervös. Sie hatte sich vorgenommen, ihn direkt zu konfrontieren. Jetzt, da er quasi vor ihr stand, war sie sich nicht mehr so sicher.

Er bemerkte sie nicht. Oder er ignorierte sie. Wie auch immer. Emma räusperte sich. Keine Reaktion. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran.

Er hantierte mit einer Zündkerze und grummelte vor sich hin. Dann wurde das Grummeln lauter. „Was ist, schleichst dich hier rein und antwortest dann nicht?“

Endlich liess er die Zündkerze ruhen und sah auf.

Emma geriet noch mehr aus der Fassung. „Hast du mit mir gesprochen? Mir schien eher, als hättest du dieses Ding in deiner Hand beschworen.“

Er sah auf die Zündkerze, dann wieder zu Emma. „Habe ich nicht. Ich wollte wissen, was du hier suchst.“

Die Zweifel waren vergessen. Seine abweisende Art machte Emma wütend. Sie hatte ihm nichts getan. Für das Feuer konnte sie nichts und dass seine Mutter davor fliehen musste, ebenfalls nicht. Wenn er schon auf sie wütend sein wollte, dann zumindest nicht grundlos.

„Alle geben meiner Ankunft die Schuld an den Vorfällen in den letzten Tagen“, wobei sie „alle“ und „meiner“ extra betonte und ihn bedeutungsvoll ansah, „aber ich bin nicht die einzige, die an diesem Tag in die ländliche Idylle hereinplatzte.“

Die Reaktion auf diese Worte war beeindruckend. Emma konnte beobachten, wie Bens Hand sich fest um die Zündkerze schloss. So fest, dass die Knöchel weiss hervortraten. Die Nägel gruben sich in seine Handflächen. Die Arme und die Kiefermuskeln spannten sich an.

Emma spürte nur noch einen Lufthauch. Sie hörte ein leises Pfeifen, wie das eines extrem schnell fliegenden Objekts. Dann ein Klirren. Die Zündkerze prallte auf die Wand.

Ben stand direkt vor ihr. In voller Grösse. Sie schluckte, wich aber nicht zurück. Sie hielt seinem Blick stand.

„Spielt das eine Rolle?“

„Ich denke schon. Ich habe da so eine Ahnung.“

„Ja?“ Seine Nerven lagen spürbar blank.

„Warum bist du eigentlich so wütend auf mich? Du bist seit gestern sauer. Was habe ich getan? Ich kann nichts für das Feuer und ich kann nichts dafür, dass deine Mutter mir Unterschlupf gewährt hat.“

„Ich bin nicht wütend.“

„Ach nein?“ Emmas Blick wanderte zur Wand, an der die Zündkerze gelandet war. „Soll ich mal das Ding dort am Boden fragen? Das ist bestimmt anderer Ansicht.“

„Deine Theorie?“

Gut. Dann eben anders.

„Wie wär’s mit: Seit du hier aufgetaucht bist, geschehen hier diese wunderlichen Dinge und ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort?“

Ben antwortete nicht.

Emma blieb unnachgiebig. „Ben, ist Martin Reich dein Vater?“

Sein Körper schien zu beben. „Das weiss ich nicht. Und das war dir sehr wohl klar, nicht wahr?“ Er war nicht nur ein bisschen wütend. Er war stinksauer.

Sie hatte ihn schon wieder absichtlich verletzt. Aber diesmal war es nötig gewesen, sonst hätte sie nie mehr erfahren. „Ja, war es. Aber ich habe erst heute davon erfahren.“

„Und das macht es besser?“, knurrte er.

„Nein. Aber hör mir doch bitte kurz zu. Findest du das Ganze denn nicht auch seltsam? Irgendetwas hat die Familie Reich ausgelöscht. Jetzt tauchst du hier wieder auf und die Hölle bricht los. Warum das, wenn du nicht ein Reich bist?“

Ben schlug mit der Faust so unvermittelt auf die Arbeitsplatte, dass Emma zusammenzuckte.

„Entgegen dem allgemeinen Glauben: Ich bin kein Reich. Meine Mutter hat dort gearbeitet, weiter nichts.“

„Okay. Dann belehr mich eines Besseren. Wer ist dein Vater?“

Sie funkelte ihn herausfordernd an. Er stand ihr mit zusammengebissenen Zähnen gegenüber und funkelte zurück.

„Du weisst es nicht. Also kann genau so gut alles wahr sein und deine Mutter hat darüber nie ein Wort verloren, damit du nicht auch diesem sogenannten Fluch zum Opfer fällst. Na, wie klingt das?“

„Unglaubwürdig.“

Emma wurde auf einmal etwas klar. „Das stimmt nicht. Und das weisst du. Daran hast du schon oft gedacht, nicht wahr? Bist du deswegen weggegangen? Dachtest du, wenn du verschwindest, würde mit dir dieses Problem verschwinden?“

Seine Gesichtszüge wurden weicher. Wenn auch nur ein bisschen.

„Emma, ich bin mit diesen Gerüchten aufgewachsen. Und zwar hier. Dieser Fluch hätte mein ganzes Leben lang Zeit gehabt zuzuschlagen. Wenn etwas es auf mich abgesehen hätte, warum erst jetzt?“

„Vielleicht, weil irgendwer gerade jetzt einen Beweis fand, wer du bist.“ Emmas Wut war mit einem Mal verraucht, weil sie endlich erkannt hatte, dass das, was sie nur als Informationssammlung betrachtet hatte, weit mehr war. Was für sie eine neue Erkenntnis war, war für Ben ein Kampf, den er seit Kindertagen führte.

Auch er schien sich ein wenig beruhigt zu haben. Ein Anflug von Trotz flackerte in seinen Augen auf. „Aber das tolle an einem Fluch ist doch, dass er keinen DNA-Test braucht, um zu wissen, wen er sich holen muss.“

Emma lenkte ein. „Stimmt.“ Und führte das Thema sogleich wieder auf dünnes Eis. „Dann ist es wohl doch kein Fluch. Sondern ein mörderischer Plan aus einem kranken Gehirn.“

Nach so langer Zeit war es offen ausgesprochen. Für einen Moment schienen beide nicht richtig zu wissen, was mit dieser Ansage anzufangen war. Also schwiegen sie. Es wirkte beinahe, als würden sie warten, bis sich die Erde auftat. Als Strafe für das gebrochene Schweigen.

Natürlich geschah nichts dergleichen.

„Und das ist alles meine Schuld, meinst du?“

„Das müsste man nun herausfinden. Irgendwie.“ Emma griff nach Bens Arm. „Hast du etwa selbst nie daran gedacht?“

Er entzog sich ihrer Berührung und fuhr sich stattdessen ungestüm durchs Haar. Die eben noch zurückgewonnene Ruhe war vorbei. „Doch. Natürlich habe ich das.“ Unruhig wandte er sich ab. Er nahm einen Schraubenschlüssel in die Hände und drehte ihn sinnlos zwischen den Fingern.

Emma beobachtete ihn. Erst wunderte sie sich. Doch dann begriff sie. Er fühlte sich hilflos. Natürlich hatte er schon daran gedacht. Und an all dem, was da draussen geschah, an all den Gefahren, die seiner Mutter, ihr oder irgendjemandem sonst auf einmal drohten vielleicht die Schuld zu tragen, war eine schwere Last.

Emma trat zu ihm. Sie nahm ihm behutsam den Schraubenschlüssel ab und legte ihn beiseite. Sie legte ihre Hand auf seine Wange und zwang ihn, sie anzusehen.

„Es tut mir leid. Ich hab’s schlicht nicht kapiert. Natürlich hast du darüber nachgedacht, ob es an dir liegen könnte, dass alles, was so lange Zeit in Ordnung schien, wieder aus den Fugen gerät. Dagegen muss doch aber irgendein Kraut gewachsen sein. Die Akten müsste man sich vielleicht noch einmal ansehen. Mit dem alten Pfarrer sprechen.“ Etwas weniger entschlossen fügte sie an: „Deine Mutter zu einer Antwort auf die Vaterfrage zwingen? Unter den neuen Gesichtspunkten wäre sie doch sicher bereit…“

Ein Ruck ging durch Bens Körper. Er stellte sich aufrecht hin. Seine Gesichtszüge waren hart. Unnachgiebig. „…oder vielleicht verschwindest du einfach. Wir werden ja sehen, ob die Katastrophen dann aufhören. Wie gesagt, ich bin hier aufgewachsen. Trotzdem passierte jahrelang überhaupt nichts. Wohingegen du kamst und die Zerstörung begann. Also wäre es doch naheliegender, wenn du einfach wieder gehst.“

Das traf. Eine Faust in den Magen hätte weniger geschmerzt. Emma regte das Kinn.

Sie würde ihre Würde wahren.

„Gut. Wenn du und all die Bewohner hier weiterhin die Augen vor der Wahrheit verschliessen wollt, bitte. Tut weiter, als wäre nichts. Ich wünsche euch viel Erfolg beim Überleben.“

Emma kehrte Ben den Rücken. Sie steuerte auf den Eingang zum Verkaufsraum zu. Warum sie nicht den direkten Weg aus der Garage nahm, wusste sie selbst nicht. Im Verkaufsraum oder besser im Türrahmen zur Garage traf sie auf Walter.

Wie lange hatte er schon dagestanden?

Egal.

Sie wusste, dass Walter ihr nachsah. Aber sie drehte sich nicht um. Schnurstracks schlug sie den Weg zurück ins Dorf ein. Sie liess sich von nichts ablenken. Sie gestattete sich nicht nachzudenken. Ohne Umwege marschierte sie ins Hotel. Entschlossen, alles, was versucht war sie anzusehen oder möglicherweise anzusprechen zu ignorieren.

Emma zog nicht einmal ihre Jacke aus. Eilig packte sie ihren Koffer. Wahllos warf sie alles hinein. Ohne Ordnung, ohne Plan. Sie zog die Zimmertür hinter sich zu. Den Schlüssel liess sie von aussen stecken. Dann verliess sie das Haus. Dass sie die Rechnung nicht bezahlt hatte, war ihr egal. Im Notfall würde sie das Geld in ein Couvert packen und hierher schicken. Aber jetzt noch jemandem unter die Augen zu treten kam nicht in Frage.

Sie ging zur Zugstation. Wenigstens hier war ihr das Glück hold. Der Zug kam kaum eine Minute später an. Und sie stieg ein.

Wenn wirklich alle dachten, das Problem wäre mit ihrer Abreise gelöst, dann ging sie eben. Wenn sie erst einmal zurück in Basel war, würde sie diesem Martin gehörig die Meinung sagen. Herzinfarkt, Intensivstation und Besucherverbot hin oder her.

Durcheinander und aufgewühlt sass Emma im Zug und starrte aus dem Fenster ohne etwas zu sehen.

Ein Haus nach dem anderen zog draussen vorbei. Bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatte.

 

 

Unscheinbar
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