Strang 1 / Kapitel 30

 

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Emmas Auftraggeber. Tod. Wer auch immer er gewesen war, er war der einzige gewesen, der vielleicht hätte Antworten liefern können. Aber das Schicksal hatte offensichtlich andere Pläne.

Alice gab Emmas Handgelenke frei und liess sich auf den Stuhl zurückfallen.

Betretenes Schweigen erfüllte den Raum.

Emma fand als erste die Sprache wieder. Sie versuchte einer spontanen Eingebung Ausdruck zu verleihen. Wenn auch nur sehr zögerlich. „Heisst das“, sie holte tief Luft, dachte noch einmal kurz nach und begann dann von neuem. „Wäre es möglich…“ Der Satz blieb erneut unbeendet.

Noch einmal.

„Könnte das bedeuten“, sie wagte kaum daran zu denken, geschweige denn, es auszusprechen, „dass es vorbei ist?“

Niemand sagte etwas.

Das war Antwort genug.

Nein. Wahrscheinlich nicht.

Emma konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zu viele Wenns und Abers rotierten in ihrem Kopf.

Aber eins schien klar: Auch wenn Martin das Zeitliche gesegnet hatte, einer war noch im Spiel.

Da tauchte auf einmal ein Bild in ihrer Erinnerung auf.

Joschua. Ihr Exfreund. Emma wurde erneut übel. „Er hat ihn umgebracht“, flüsterte sie. Oder hatte er noch gelebt? Hatte er nicht ihren Namen geflüstert? Hätte sie ihm helfen können? Könnte er vielleicht sogar jetzt noch leben? Aber Emma machte sich nichts vor. Sie kannte die Antworten mit absoluter Sicherheit. Joschua war tot und sie hätte nichts für ihn tun können.

„Wen? Martin? Ich dachte, er wäre an einem Herzinfarkt gestorben?“ Stirnrunzelnd musterte Alice Emma.

Emma sah auf. „Nein, nicht Martin. Joschua.“ Ihr schnürte der Gedanke die Kehle zu. „Er hat mich gestern mit Joschuas Hilferuf in die Falle gelockt.“

„Dein Freund? Bist du sicher?“, hakte Ben nach.

„Aber natürlich bin ich das. Ich habe ihn doch gesehen! Wie er unter dem Felsvorsprung hinter dem Wasserfall lag. Er war entsetzlich zugerichtet gewesen.“ Emmas Beine drohten nachzugeben. Sie stützte sich am Tisch ab.

Emma so zu sehen, versetzte Ben einen Stich. Eine unbändige Wut kochte in ihm hoch und drohte überzuschwappen. „Es reicht. Zuerst verwickelt dieser Mistkerl uns in missliche Situationen, jetzt holt er sich schon Menschen, die jemandem von uns nahe stehen. Ich habe die Schnauze voll. Was zu viel ist, ist zu viel.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, zwang sich aber sogleich zur Ruhe. „Du brauchst eine Pause. Wir alle. Ablenkung muss her, sonst werden wir hier noch verrückt.“

„Was hast du vor?“ Alice wirkte misstrauisch.

„Wir werden jetzt einen kleinen Ausflug machen.“ An Emma gewandt fügte Ben an: „Wie stehst du zu Wasserfällen nach deinem gestrigen Erlebnis?“

„Solange ich nicht hineinspringen muss…“ Auch Emma war eher zurückhaltend.

„Musst du nicht. Nur ansehen. Und glaube mir, es wird dir gefallen. Sie sind sehr beeindruckend.“

„Ben, hältst du das wirklich für eine gute Idee? Wir wissen noch immer nicht, womit wir es zu tun haben. Die Attacken kamen immer ziemlich unvorbereitet. Vielleicht sollten wir uns einfach zusammenreissen, Emmas Idee weiter folgen und die freudigen Dinge des Lebens auf nachher verschieben. Ausserdem müssen wir Kevin melden, was gestern geschehen ist und ihm von Joschuas Verschwinden berichten.“

„Kevin wird nichts finden, das auf ein Verbrechen an Joschua hinweist. Dafür ist dieses Monster zu gut. Das wissen wir bereits. Ausserdem wird man eine plausible Erklärung finden, weshalb man ihn derzeit nicht erreichen kann. Wie immer. Irgendjemandem erzählen, was Emma gesehen hat ohne einen Beweis in der Hand zu haben, führt in eine Sackgasse." Ben fuhr sich ungestüm mit der Hand durchs Haar. "Vielleicht hast du Recht und wir sollten uns zusammenreissen, aber mal ehrlich, kann sich irgendeiner von uns im Augenblick anständig konzentrieren? Also ich kann’s nicht. Ich muss mein Gehirn lüften, sonst geht gar nichts. Und das werde ich auch tun. Es kann mitkommen, wer möchte. Ist freiwillig.“

„Ich kann dich sowieso nicht aufhalten. Aber bitte, misch dich zumindest unter Menschen, ja?“ Ihre Besorgnis konnte Alice nicht verbergen.

„Mama, nach allem was war, denkst du wirklich, ich würde mich an einsame Plätze begeben?“

„Bei dir weiss man nie.“

„Danke für dein Vertrauen, Mutter.“ Die Augen funkelten verschmitzt und Alice musste unweigerlich nachgeben. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.

„Nun gut. Ich werde meinen Schädel von hier aus durchpusten.“

„Sehr schön. Ich darf nicht alleine sein, aber du willst hier bleiben, wo kein anderer Mensch ist?“

Alice wog kurz die Argumente ab und kam zum Schluss, dass keines taugte. Ben hatte Recht. Natürlich. Dennoch versuchte sie es. „Er hat es nicht auf mich abgesehen.“

„Das weisst du nicht.“

„Die Attacken gingen nur dann los, wenn einer von euch da war. So auch das Feuer im Schuppen. Ich nehme an, du spielst darauf an, oder?“

Das stimmte allerdings. Dennoch.

„Du bleibst mir hier nicht allein. Basta. Ausserdem hat sich Emma noch nicht geäussert. Wenn sie ebenfalls hier bleiben möchte, dann hast du einen von den Unglücksraben bei dir.“

„Stimmt. Und wenn wir doch alle hier bleiben? Als Trio im Haupthaus wurden wir bisher jedenfalls verschont.“

„Dass das so bleibt, möchte ich auch unbedingt glauben. Aber mir fällt die Decke auf den Kopf.“

„Mir auch“, meldete sich Emma endlich zu Wort. „Wenn du es schaffst, dass ich an etwas anderes denke als an dieses Theater, hast du was gut.“

Diese Herausforderung ging an Ben. Und er nahm sie an.

„In Ordnung. Versuchen wir’s. Mama, ich will, dass du zu Mara gehst. In drei Stunden treffen wir uns wieder hier.“

Seltsame Rollenverteilung.

Aber schliesslich gab Alice ihren Protest auf. Sie musste einsehen, dass er genau das von ihr verlangte, was sie ebenso von ihm verlangt hätte, wäre die Situation umgekehrt.

 

 

Unscheinbar
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