Strang 1 / Kapitel 27

 

Er stand verborgen im Schatten der Steine. Nur ein kleines Stück unterhalb der Nische. Aber ausserhalb des Wasserfalls. So, dass er erkennen konnte, was in der Nische vor sich ging, wenn auch nur anhand ihres Schattens, den die Lampe an die Felsen warf. Aber auch so, dass er nicht verpasste, was geschah, wenn sie in die eisigen Fluten stürzte.

Er selbst trug einen Neoprenanzug.

Nur zur Sicherheit.

Während er aus seinem Versteck auf dieses zitternde, bibbernde Häufchen Elend herabsah, beglückwünschte er sich.

Sie hatte funktioniert, wie er es erwartet hatte.

Zuerst hatte er mit dem Licht ihre Aufmerksamkeit erregt. Dann hatte er den Schrei auf dem Aufnahmegerät abgespielt.

Sein Ziel immer mit dem Fernglas im Blick.

Wie sie zusammengezuckt war, war sehr erfrischend gewesen. Unschlüssig hatte sie dagestanden. Unwiderstehlich.

Das darauffolgende Gewimmere und Gestöhne hatte seinen Zweck ebenfalls erfüllt. Sein absoluter Favorit war aber der Hilfeschrei gewesen.

Sie war losgerannt, wie von der Wespe gestochen.

Zum Todlachen.

Zwischen ihrem Schnellstart und der Ankunft am vermeintlichen Unfallort war dennoch genug Zeit geblieben.

Unter das Jacket seines Opfers hatte er das gut verpackte Kassettengerät gestopft, das die immer schwächer werdenden Hilferufe abspielte.

Diese Töne aufzunehmen war ein Leichtes gewesen. Dieser verwöhnte Arsch hatte gewinselt wie ein kleines Baby, als man ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr gezogen hatte. Für den lauten Schrei hatte er etwas drastischere Massnahmen anwenden müssen. Das Absägen des Arms war eine grausame Schweinerei gewesen. Ihm die Beine zu brechen glich einem Zuckerschlecken.

Und wie gut hatte es getan, diesen Abschaum der Menschheit zu schlagen. Beinahe hätte er ihn zu Tode geprügelt, aber er hatte sich gerade noch rechtzeitig beherrschen können. Schliesslich hatte er die Hände mit Klebeband gefesselt, um den Kopf herum hatte er die blinkende Stirnlampe gebunden und sein Lockvogel war bereit gewesen.

Dann hatte er diesen Schlipsträger, den sie Joschua nannte, die Beine voran unter den Felsvorsprung geschleppt.

Zwar morste dieses krepierende Wesen auf diese Weise nur noch den Fels an, aber das war nicht wichtig. Hauptsache, es blinkte.

Das weitere Anlocken mit den Lichtzeichen hatte er selbst übernommen.

Behutsam war er anschliessend über die Fläche, die er mit Schmierseife präpariert hatte, gestiegen.

Wäre sie nicht darauf ausgeglitten, hätte er sie auf andere Weise zu Fall gebracht. Wichtig war schlussendlich nur gewesen, dass sie im Wasserbecken landete. Wie, war egal.

Obwohl es schade um seinen Aufwand gewesen wäre, hätte sie die Schmierseife nicht zu Fall gebracht.

Nachdem er auch die Puppe positioniert hatte, war er wieder in sein Versteck hinuntergeklettert.

Keine Sekunde zu früh, wie sich herausstellte, denn gleich darauf war sie aufgetaucht und das Schauspiel hatte seinen Lauf genommen.

Die Falle schnappte zu. Sie stürzte.

Dass sie eine Weile brauchen würde, um aus dem eisigen Wasser herauszufinden, war ihm klar gewesen. Aber so lange?

Für einen kurzen Augenblick bangte er um seine Spielfigur. Hätte sie sich nicht gerettet, hätte er es tun müssen. Das war ihm jetzt klar. Früher im Spiel wäre es egal gewesen. Aber so kurz vor dem Ziel wollte er seine Spielfiguren nicht mehr verlieren.

Die Erregung trocknete seinen Mund aus. Er fuhr mit der Zunge über die rissige Oberlippe.

Er wollte sie alle behalten. Bis zum tödlichen Ende.

 

Mittlerweile war es stockdunkel.

Joschua. Ein flüchtiger Gedanke in ihrem vernebelten Gehirn.

Emma wurde langsam müde. Die Kälte ebbte ab. Die Gliedmassen wurden schwer. Sie wusste, was das bedeutete. Wenn sie jetzt einschlief, würde sie erfrieren. Also Bewegung. Sie versuchte aufzustehen.

Aber sie scheiterte.

Wie ein nasser Sack plumpste sie zurück auf die Erde.

Ihr war nach Heulen, verzweifeltem Schluchzen und wütendem Umsichschlagen zumute. Heraus kam aber nur ein schnaubendes Kichern. Erfrierungserscheinung oder Selbstschutz?

Egal was, es war zum Verzweifeln.

Schwarzer Humor im Tiefkühler. Sehr schön. Wollte ihr Verstand sie schützen, war Humor sicher nicht übel, aber zurzeit wäre ihr nützlicher Tatendrang lieber gewesen. Aber nein. Es kam nur Lachen. Gesunder Menschenverstand sah wohl anders aus.

Aber auch darüber amüsierte sich Emma.

Schliesslich gab sie nach. Zusammenbrechen, worauf sie gerade Lust hatte, war schlimmer und brachte weit weniger, als ein irrationaler Anflug von Humor.

Die dunklen Gedanken begannen dann aber doch auf Emma einzustürmen. Vor allem stapelten sich die Fragen.

Konnte sie ihren Augen trauen? Was hatte sie unter dem Fels vorgefunden?

Man hatte ihr eine Falle gestellt. Und sie war direkt hineingerannt.

Emma atmete tief durch. Das hatte sie nicht wissen können.

Aber sie hatte gewusst, dass in diesen Breitengraden etwas ganz und gar nicht stimmte. Warum hatte sie nicht einfach die Rettungsmannschaft geholt, wie jeder andere normale Mensch auch?

Sie kannte die Antwort. Weil sie geglaubt hatte, die Stimme zu kennen. Oder hatte sie sie gekannt? Sie wusste es nicht mehr. Aber sie wusste, dass sie hatte nachsehen wollen, was los war. Dann Hilfe rufen. Bei der Person bleiben. Sie unterstützen und ihr gut zureden, solange es eben nötig war. Das würde sie auf jeden Fall wieder tun. In normalem Gelände. Doch als sie merkte, an welch unmöglichen Ort sie sich hatte treiben lassen, war es schon zu spät gewesen.

Das war ihr jetzt klar.

Sie war eben keine Gämse.

Gelähmt von der Kälte vergass sie, was sie vorgehabt hatte. Aufstehen und davon gehen? Es kam ihr einfach nicht mehr in den Sinn. Dafür hüpfte ein gehörntes Tier in ihren Gedanken herum.

Keine Gämse.

Gämse.

Da war doch etwas mit diesem Tier. Nur was?

Ben. Alice! Himmel nein!

Mit einem Schlag erwachten ihre Geister zu neuem Leben.

Alice suchte sie bestimmt schon lange. Sie hatte wahrscheinlich schon bei Ben Alarm geschlagen. Ben hatte sicher auch bereits anzurufen versucht und immer nur die Mailbox erreicht. Das war auf jeden Fall besorgniserregend genug.

Sie musste sich zusammenreissen. Sie konnte hier nicht einfach so krepieren.

Wie hatte Ben gesagt? Wir müssen es zu Ende bringen.

Obwohl sich ihre Gliedmassen tapfer wehrten, rappelte sich Emma schliesslich doch auf.

Dunkel erinnerte sie sich an ihre Handtasche. Wie ein Lappen hing sie triefnass um ihre Schulter.

Das Telefon. Scheisse.

Sie fummelte am Reissverschluss ihrer Jackentasche herum.

Als er endlich nachgab, griff sie beinahe panisch hinein.

Vorsichtig zog sie den Inhalt heraus. Sie drückte einen Knopf, wagte es aber kaum auf das Display zu schauen.

Doch das Licht ging an.

Der Verkäufer hatte also recht gehabt. Die Taschen waren absolut wasserdicht. Gut geeignet, auch wenn’s aus Kübeln schüttet, hatte er gesagt. Wenn sie zurück nach Hause kam, würde sie dem Verkäufer einen neuen Verkaufsslogan geben.

Taugt sogar für Wasserfallsprünge in ein Schmelzwasserbecken.

Na, wenn das nicht verkaufsfördernd war.

Emmas kalte Finger konnten das Telefon kaum halten. Bevor sie ihre Taschenlampe aktivierte, wollte sie etwas aber noch genauer wissen.

Wenn sie hier jetzt auch noch Empfang hatte, dann…

Sie hatte keinen. Also blieb nur noch der Weg zurück.

Sie wusste nicht wirklich, wie, aber sie schleppte sich vorwärts. In Erinnerung an den Aufstieg war sie froh, den Abstieg bereits hinter sich zu haben. Dennoch, es blieb anstrengend. Doch sie war entschlossen, es durchzuziehen.

Die ersten Meter schaffte sie mehr fallend, als gehend. Sie verlor immer wieder den Halt, rutschte aus. Doch je mehr sie sich bewegte, desto mehr hatte sie ihren Körper wieder im Griff. Warm wurden die Glieder nicht, aber funktionstüchtig. Das reichte aus.

 

Die Hälfte des Rückwegs hatte sie geschafft, als sie schemenhaft einen Umriss erkannte, der sich aus dem Schatten eines Baumes löste. Sie spähte in die Dunkelheit. Dabei passte sie nicht richtig auf. Mit dem Fuss tastete sie nach festem Untergrund. Sie spürte etwas, trat auf und glitt aus. Sie verlor den Halt.

Bevor sie hart auf der Erde aufkam, war der Umriss bei ihr.

An ihrer Seite wurde es warm. Die Erde spürte sie auch nicht unter dem Rücken.

Joschua?

Hatte sie das gerade ausgesprochen oder nur gedacht? Sie blinzelte benommen. Langsam nahmen die Konturen Form an. Sie wurden zu einem Gesicht. Ein sehr ernstes Gesicht.

Kein aufheiternder Spruch?

Sie wollte ihn fragen. Aber die Worte kamen einfach nicht über ihre Lippen.

Ben setzte Emma kurz ab. Seine Motorradjacke war nicht gerade lang, aber sie schützte zumindest vor der kühlen Luft. Er legte sie ihr wortlos um die Schultern. Ohne die Arme in die Ärmel zu schieben zog er den Reissverschluss zu. Dann hob er Emma einfach hoch, als wäre sie federleicht.

Wow, dachte Emma noch. Dann fielen ihr die Augen zu.

 

 

Unscheinbar
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