Strang 1 / Kapitel 29

 

Sein Arm war mittlerweile so eingeschlafen wie er selbst auch. Nur wachte der Arm nicht im selben Moment auf, wie Ben schmerzlich feststellte.

Er lag auf dem Rücken. Also hatte er sich in der Nacht gedreht. Eingeschlafen war er nämlich auf der Seite liegend, um so viel Körperfläche wie möglich gleichzeitig wärmen zu können.

Jetzt lag sie in seiner Armbeuge, den Kopf an seine Schulter gekuschelt, ihren Arm über seine Brust gelegt.

Behutsam darauf bedacht Emma nicht zu wecken, versuchte er, seinen tauben Arm unter ihrem Kopf hervorzuziehen.

Natürlich merkte sie es doch. Wenn auch im Halbschlaf. Sie grummelte leise.

Protest, wie Ben annahm. Darauf konnte er aber keine Rücksicht nehmen, dafür waren ihm seine Gliedmassen zu sehr ans Herz gewachsen.

Aber Emma liess sich nicht so leicht abschütteln. Als Ben sich ein kleines Stück von ihr entfernte, rückte sie sofort nach.

Er versuchte es etwas energischer. Und bekam ebenso energische Antwort.

Anstatt ihn gehen zu lassen, schlang sie zusätzlich zu ihrem Arm über seiner Brust noch ihr Bein um seines.

Es war schon fast zum Lachen.

Falsch. Nicht fast. Es war zum Lachen. Ben stellte verschlafen fest, dass er tatsächlich grinste.

Allerdings änderte alles nichts an seinem Arm, der langsam zu kribbeln begann. Das Taubheitsgefühl war nach wie vor da, wurde aber allmählich durch das unangenehme Ameisenrennen ersetzt, das der zurückkehrenden Funktionstüchtigkeit voranging.

Tut mir leid, dachte er im Stillen. Er strich ihr über den Kopf und gab ihr einen Kuss aufs Haar. Dann löste er sich schnell von ihr und hoffte, er hätte sie nicht um den Schlaf gebracht.

Seine Sorge war unbegründet. Anstatt aufzuwachen nahm sie das ganze Bett in Beschlag.

So war das also. Als hätte sie nur darauf gewartet, dass er aufstand.

Schmunzelnd sah er auf sie herunter. Da merkte er, was er eigentlich tat. Mit einem warmen Gefühl im Bauch, fast zärtlich auf eine Frau hinunterschauen, die noch in dem Bett schläft, das er soeben verlassen hatte. Aber nicht um zu gehen, sondern um ihr einen Kaffee zuzubereiten. Denn genau das hatte er vorgehabt.

Er strich dieses Vorhaben kurzerhand.

Wenn einer Kaffee bekam, dann war er es. Und niemand sonst. Punkt.

Ben stieg in seine Hose, schlüpfte in ein einfaches schwarzes Shirt und ging aus dem Zimmer.

 

„Schläft sie noch?“

Angelockt vom Poltern auf der Treppe spähte Alice aus der Küche.

„Tut sie. Nicht mehr ganz so tief, aber doch noch fest.“

„Sie wird bestimmt hungrig sein, wenn sie aufwacht. Wie sieht‘s mit dir aus? Kaffee?“

„Kannst du Gedanken lesen?“

„Nicht nötig. Ich kenne doch meinen Sohn.“ Lächelnd zog Alice den Kopf wieder zurück.

Ben folgte ihrem Beispiel und ging in die Küche. Dort setzte er sich an den kleinen weissen Tisch mit den geschwungenen Füssen und der Used-Optik. Er passte perfekt in das rustikale, aber heimelige Ambiente von Alices Küche. Sie hatte den Landhausstil und die rustikale Berghüttenoptik seines Erachtens perfekt in Einklang gebracht.

„Ist das so? Dann weisst du sicher auch, was morgens die Lieblingsbeschäftigung direkt nach dem Kaffeetrinken ist.“

„An Autos rumschrauben.“

„Stimmt. Das auch.“

„Da es an meinem Auto aber nichts zu schrauben gibt“, Alice drehte sich mitten im Satz zum Kühlschrank um, öffnete ihn, zog einen Korb Eier hervor und präsentierte ihn, „tippe ich auf Frühstücken.“

„Genau das.“

„Du machst die Eier. Die Pfanne ist bereits am Aufwärmen.“

Alice musste Ben keine zweimal Auffordern. Sofort erhob er sich, setzte seine Tasse neben dem Herd ab und begann, Eier in die Pfanne zu schlagen.

„Oh, Wahnsinn! Hier riecht es fantastisch!“ Emma stand im Pyjama in der Küchentür. Überrascht registrierte sie, dass Ben am Herd stand.

Alice und Ben hatten sie über dem Brutzeln auf dem Herd beide nicht kommen gehört. Gleichzeitig fuhren sie herum, was Emma mit einem Lächeln quittierte.

Sie wirkte beinahe schüchtern, als Alices Blick sie traf. Ihr war nach den Vorfällen am Vortag nicht wohl in ihrer Haut. An Vieles konnte sie sich nämlich nicht erinnern. Zu den fehlenden Erinnerungen gehörte zum Beispiel, weshalb sie fast nackt in Bens Bett gelegen hatte.

Für Ben hatte sie daher nur einen beschämten Blick und einen flüchtigen Gruss übrig.

„Du kommst genau richtig. Hier“, Alice schien die peinliche Stimmung nicht zu bemerken oder sie gekonnt zu ignorieren. Sie drückte Emma schlicht drei Teller in die Hand, türmte Besteck und drei ineinander gestellte Gläser darauf und schickte Emma in den hinter der weiss getäferten Trennwand liegenden Raum, wo der grosse Bruder des kleinen Küchentisches stand. Gehorsam deckte Emma den Tisch. Sie war gerade fertig, als Alice ein mit Konfitüre, Honig, Haselnussaufstrich, Butter, Müsli, Milch, Jogurt und vielen anderen Leckereien beladenes Tablett balancierend den Raum betrat.

Hinter ihr folgte Ben mit einer Kanne duftendem Kaffee und dampfenden Spiegeleiern.

„Oh! Die Brötchen fehlen!“ Alice rauschte wieder in die Küche und liess Ben und Emma alleine zurück.

Peinlich berührt kratzte sich Emma an der Nase, während sie die Kaffeetasse anstarrte.

Da fiel ihr ein, was sie auf dem Mini mit Ben getrieben hatte. Oder umgekehrt. Wie auch immer. Auf einmal merkte sie, wie lächerlich sie sich aufführte. Höchste Zeit, das zu ändern.

„Wo sind eigentlich meine Kleider?“ Beiläufig griff sie nach der Tasse und goss sich frischen Kaffee ein.

Ben, der in der Zwischenzeit aus dem Sideboard neben dem Tisch Servietten herausfischte, kehrte zum Tisch zurück. Konzentriert faltete er die Servietten und schob sie neben den Tellern unter die Gabeln. „Waschmaschine.“

„Ich beanspruche eure Waschmaschine in letzter Zeit ziemlich oft, wie mir scheint.“ Emma drehte die Kaffeetasse in den Händen. „Und was war gestern Nacht?“

Unbeeindruckt antwortete Ben: „Du hast im Becken des Wasserfalls geplanscht, nach deinem Exfreund gefragt und dann bist du hier in der Badewanne abgetaucht. Sehr gesund, so ein Wechselbad.“

Exfreund? Emma kramte in ihrer Erinnerung, fand aber nichts Passendes. „Kam mir auch schon zu Ohren. Und was ist auf dem Weg ins Bett mit meinem Pyjama passiert? Als ich aus der Wanne kam, hatte ich ihn übergezogen. Ich weiss nicht mehr alles, aber das weiss ich noch. Ist das so ein selbstausziehendes Model?“

Emma schaute Ben offen ins Gesicht. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nahm sie einen Schluck Kaffee. Über den Rand der Tasse hinweg beobachtete sie seine Reaktion.

Er bekam rote Ohren.

Zuerst glaubte Emma, sich das einzubilden. Aber dann war sie sich ganz sicher. Die Scham trieb Ben die Röte nicht ins Gesicht. Sondern in die Ohren. So sehr er auch Mann war - was Emma spätestens bewusst war, seit er sie in der letzten Nacht gerettet hatte - das war einfach nur süss.

Zum Glück war die Tasse vor ihrem Gesicht. Wie hätte er wohl reagiert, wenn er gesehen hätte, dass sie breit grinste?

„So. Jetzt ist alles da. Setzt euch und greift zu.“ Alice kam wie ein Wirbelwind zurück in das Esszimmer gerauscht. Schwungvoll setzte sie einen zugedeckten Korb ab.

Offenbar dankbar für die Ablenkung schlug Ben das Tuch über dem Korb zurück. Sofort verbreitete sich der Geruch nach warmen Brötchen.

Emma lief das Wasser im Mund zusammen. Ablenken liess sie sich aber nicht.

„Nun?“ Erwartungsvoll betrachtete sie Ben.

„Du hast gefroren und ich habe dich gewärmt. Können wir das Thema jetzt abhaken?“

Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. Emma konnte sich aber nicht ganz erklären, weshalb. Eigentlich war doch nichts dabei. Natürlich, er mit ihr halbnackt in einem Bett nach allem, was war, war sehr speziell. Aber dass er gleich so abweisend wurde, musste eigentlich nicht sein.

Das Mobiltelefon klingelte Emma aus ihren Gedanken. Da sie sich nicht gemerkt hatte, wo sie ihre Jacke deponiert hatte, erhob sie sich und folgte dem Klingeln.

Emma fand die Jacke in der Garderobe. Fein säuberlich aufgehängt.

Schnell öffnete sie sie und zog das Telefon heraus. Auf die Schnelle erkannte sie die Nummer auf dem Display nicht. Ahnungslos nahm sie den Anruf an.

 

Alice wartete, bis sie Emmas Stimme hörte. Dann packte sie die Gelegenheit beim Schopf. „Was ist mit euch beiden los? Ihr benehmt euch wie zwei Teenager.“

Mit gleichermassen fragendem Ausdruck erwiderte Ben Alices Blick. „Worauf willst du hinaus?“

„Ich will definitiv keine Details, aber was war gestern Nacht los? Mir scheint, du hast die Aufgabe sie zu wärmen etwas zu ernst genommen und dir die Finger verbrannt.“

„Mama, du fantasierst.“

„Glaub ich nicht. Du hattest rote Ohren, als ich vorhin in den Raum zurückkam.“ Alice sah ihn triumphierend an.

Spiel. Satz. Sieg.

Ben wollte sich rechtfertigen. Aber dazu kam es nicht mehr.

Emma kehrte zurück. Wie hypnotisiert starrte sie das Telefon in ihren Händen an. Sie sah mitgenommen aus. Geradezu verstört.

Die Unterhaltung erstarb umgehend. Ben, der sich bereits eine Antwort auf Alices Frage zurecht gelegt hatte, klappte seinen Mund wieder zu und schluckte die Worte hinunter.

„Was ist los?“ Alice musterte Emma besorgt.

Keine Reaktion.

„Emma? Wer war am Telefon?“, versuchte es Ben etwas eindringlicher als seine Mutter.

Keine Regung.

„Emma?“ Alice sass Emma am nächsten. Sie legte das Messer weg und schloss ihre Finger um Emmas Handgelenke. Die schlichte Berührung holte Emma aus ihren Gedanken zurück.

Die Augen immer noch auf das Telefon geheftet, sagte sie kaum hörbar: „Rosaria.“

Endlich schaute Emma auf. Ihre Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen.

„Martin. Er ist tot.“

 

 

Unscheinbar
titlepage.xhtml
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_000.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_001.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_002.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_003.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_004.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_005.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_006.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_007.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_008.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_009.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_010.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_011.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_012.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_013.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_014.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_015.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_016.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_017.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_018.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_019.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_020.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_021.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_022.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_023.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_024.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_025.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_026.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_027.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_028.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_029.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_030.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_031.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_032.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_033.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_034.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_035.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_036.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_037.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_038.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_039.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_040.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_041.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_042.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_043.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_044.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_045.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_046.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_047.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_048.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_049.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_050.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_051.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_052.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_053.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_054.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_055.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_056.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_057.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_058.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_059.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_060.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_061.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_062.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_063.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_064.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_065.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_066.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_067.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_068.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_069.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_070.html