Strang 1 / Kapitel 17
„Das hat man euch als Warnung vor Faulheit erzählt? Man hat euch gesagt, seid bloss fleissig, sonst werdet ihr von der Jungfrau Maria erschlagen? Oder wie darf ich mir das vorstellen?“ Emma gab sich die grösste Mühe nicht zu lachen.
Ben funkelte sie böse an. „Nein, natürlich nicht. Zumindest nicht ganz.“ Er versuchte Emmas amüsiert leuchtende Augen zu ignorieren und senkte den Blick wieder auf die Akte in seiner Hand. „Hier im Bericht steht, dass Silina Knecht von einer Marienstatue erschlagen worden sei. Die Position, in der man die Tote fand, liess darauf schliessen, dass sie unter dem kleinen, steinernen Pavillon gesessen hatte, als die eh schon wackelige Statue herunterstürzte und die Schlafende unglücklich an der Schläfe traf.“ Er klappte die Akte zu. „Fall geschlossen.“
„Ist das dein Ernst? Man hat es dabei belassen, dass quasi Maria vom Sockel stieg und Silina erschlagen hat?“ Emma konnte es nicht fassen. „Man kam nicht auf die Idee, dass eventuell fremde Hilfe im Spiel war?“
Ben schaute mit einem Ruck auf. Er starrte Emma an, als hätte sie eine tödliche Formel gesprochen.
Emma zuckte unter Bens Blick leicht zurück. „Was ist? Ist das so abwegig?“
Ben schüttelte den Kopf. Um zu verneinen und um wieder klar denken zu können. „Nein, ist es nicht. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was hier los war, wenn man solche Vermutungen äusserte. Uns wurde eingebläut, niemals, nie im Leben, die offiziellen Erzählungen, die über die Reichs und deren Schicksal im Umlauf waren anzuzweifeln.“
„Ergo, es wurden Stimmen laut, die nicht an Zufall glaubten?“
„Sicher. Es war ja auch zu seltsam. Ist dir schon aufgefallen, wie schnell alles ging?“
„Nun, nein. Die einzige Akte, die wir bisher herausgezogen haben, hast du in den Händen. Sonst kenne ich nur einige unabhängige Erzählungen ohne Datumsangabe.“
Ben hockte sich neben Emma, die sich zwischenzeitlich vor die Kiste gesetzt hatte. „Eineinhalb Jahre. Die gesamte Familie war innert anderthalb Jahren ausgelöscht. Und mit ihnen der ganze Wohlstand.“
„Das ist schrecklich. Aber das Verbot einen Verdacht zu äussern, legt doch nahe, dass etwas an der Vermutung dran ist, dass das alles nicht mit rechten Dingen zuging.“
„Das habe ich meiner Mutter auch gesagt. Sie meinte aber, es lief alles so plausibel ab, dass Hinterfragen zu keinem Resultat geführt hatte. Abgesehen davon hätten die Menschen hier eine Heidenangst gehabt.“
„Wovor?“
„Klingt für uns vielleicht lächerlich, aber damals war‘s ziemlich real.“
In Emmas Augen fehlten nur noch aufblickende Fragezeichen.
„Gott und Teufel sind zwei Geschöpfe, die vor allem in schwerer erreichbaren Regionen zum täglichen Leben gehörten. Ob Glaube oder Aberglaube, solange sich die Todesfälle einigermassen plausibel erklären liessen, wagten die Menschen nicht, weiter zu fragen. Sie fürchteten, dieses Etwas, das sich die Reichs holte, würde auch sie holen, wenn sie sich mit dem Etwas anlegten.“
„Der Fluch kommt über den, der sich einmischt?“
„So in etwa. Sie waren, und die älteren hier sind es heute noch, der Meinung, unaussprechliches Übel erfahren nur die, die Gott oder von mir aus die Elemente erzürnen, indem sie das Schicksal herausfordern, ein liederliches Leben führen oder sonst einem sündigen Lebenswandel frönen.“
„Als Strafe für die Sünde. Ich wusste schon immer, dass ich die Kirche echt erfrischend finde.“
„Eine Ungläubige? Dann sieh dich vor und nimm dir ein Beispiel am Inhalt dieser Akten. Vielleicht besinnst du dich dann auf den Glauben zurück.“
„Ja, ein bisschen eingeschüchtert bin ich schon. Aber fürchten tu ich mich nicht. Schliesslich ist das mit dem Glauben so eine Sache. Ich bin nicht gänzlich ungläubig, ich zweifle eher am Menschen.“
„Ein interessanter Ansatz. Mit dem kommst du hier aber nicht weit. Ausserdem haben die Menschen damals viele Ereignisse noch nicht verstanden. Um nicht verrückt zu werden und den Mut zu verlieren musste eine Erklärung her. Etwas, dem man die Schuld geben konnte. Dann brauchte es noch etwas, mit dem man glaubte, das Übel, also das Unverständnis, beheben zu können. Und schon waren Gott, Teufel und Opfer geboren.“ Ben verlagerte sein Gewicht. „Über dieser spannenden Diskussion ist doch glatt mein Bein eingeschlafen.“
Emma schmunzelte. Doch bei einem Blick auf die Truhe wurde sie wieder ernst. „Du sagst, damals war die Geschichte mit dem Glauben noch realer als jetzt. Wann war denn damals?“
„Kurz bevor ich geboren wurde. Mitte der siebziger Jahre, soweit ich weiss. Aber in den Akten müsste doch eigentlich ein Datum stehen.“ Ben klappte das Dokument erneut auf und überflog den Polizeirapport. „Genau. Hier. Silina starb 1975.“
Emma griff in die Truhe und holte sich ebenfalls eine Akte heraus. Diese trug die Aufschrift „Bernard und Käthe Knecht“.
„Du, warum heissen die eigentlich alle Knecht, wenn‘s doch um die Reichs geht?“
„Der Vater war ein Reich und er hatte eine Knecht geheiratet.“
Das ergab Sinn.
Emma schlug die Akte auf und ein paar lose Fotos rutschten heraus. Emma hob sie auf und betrachtete sie neugierig.
Die Schwarzweissaufnahmen zeigten einen Unfallort. Ein Auto, das in eine Felswand gekracht war. Sogar die leblosen Körper, die beim Aufprall aus dem Auto katapultiert worden waren, waren abgebildet. Der Unfallort, wie ihn die Polizei angetroffen hatte. Es gab noch Aufnahmen, nachdem die Leichen abtransportiert worden waren. Um anzuzeigen, wo sie gelegen hatten, waren die Stellen mit heller Kreide markiert worden. Es lagen auch ein paar Nahaufnahmen vom Autowrack, von Einzelteilen des Autos und vom Leichenfundort bei. Emma legte die Bilder nach deren Betrachtung wieder in das Register zurück. Bis auf eines. Es war unter die Truhe gerutscht. Nur eine Ecke lugte noch hervor. Emma zog daran.
Wieder dieselbe Szenerie, nur von einem anderen Winkel. Sie wollte es schon zu den anderen legen, als ihr Augenmerk auf etwas fiel, das aus der Perspektive der anderen Bilder vom Auto verdeckt gewesen war.
„Ben?“, sie zupfte ihn am Ärmel, „was ist das?“ Mit dem Nagel ihres kleinen Fingers deutete sie auf einen grossen und einen kleinen Gegenstand.
Ben nahm ihr das Foto aus der Hand um es näher betrachten zu können. Falten gruben sich in seine Stirn, während er die Aufnahme eingehend studierte.
„Ich weiss nicht… Sieht irgendwie aus wie ein Holzbalken. Und daneben liegt ein… ein…“ Ben sah auf. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, daneben liegt ein Korken.“
Entgeistert musterte Emma ihr Gegenüber.
„Ein Korken?“
„Irgendwie schon. Aber was mich weit mehr irritiert ist der Ort an dem der Unfall geschah.“ Ben gab Emma das Bild zurück. Das Unbehagen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Emma sah sich das Foto noch einmal genau an. Da dämmerte ihr. „Oh, mein Gott, ist das dieselbe Stelle, an der es meinem Mini an den Kragen ging?“
Weiter kam sie nicht. Ein lautes Scheppern, gefolgt von einem noch lauteren Fluch unterbrach ihre Gedanken.
„Das ist Jens.“ Bens dunkle Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Bist du sicher?“
„Ich war drei Jahre mit seiner Tochter zusammen, ich kenne dieses Fluchen. Ausserdem befinden wir uns in seinem Haus. Ich bin sicher.“
„Gute Argumente. Was jetzt?“
„Der Balkon. Komm.“
Hastig räumten Ben und Emma die Dokumente zurück und schlossen die Kiste. Dann öffneten sie vorsichtig die Tür des Raumes. Die schlecht geölten Angeln quietschten, aber Ben bezweifelte, dass dieses Geräusch unter dem Dach den tobenden Mann im Erdgeschoss aufschreckte. Er wies Emma an, ihm zu folgen, während er den Raum verliess. Ben trat an den Treppenaufgang und lauschte. Jens schien sich beruhigt zu haben. Zumindest hörte Ben keine Stimme mehr. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er die ersten Stufen überwand. Er steckte den Kopf aus der Verbindungstür zwischen Estrich und oberstem Stockwerk, konnte aber nichts Verdächtiges erkennen. Er winkte Emma, die auf dem Dachboden gewartet hatte, zu sich. Sofort schloss sie sich ihm an.
Ben war dankbar, dass zumindest im obersten Stock der alte Teppichboden noch verlegt war. Der Belag dämpfte ihre Schritte.
Da kam Ben die Eingebung, weshalb der Boden hier noch der Alte war.
Das war Jens‘ Bereich. Jens hasste Veränderungen. Während unten alles modernisiert worden war, hatte er sich dem entzogen, indem er sich im obersten Stockwerk sein eigenes Reich geschaffen hatte.
Mist.
Ben kam gerade am Absatz der nächsten Treppe an, als er ein schlurfendes Geräusch von unten hörte. Er drängte Emma zurück, riss die nächstbeste Tür auf, schob sie hinein und schlüpfte selbst hinterher. Ben zog die Tür zu, ging in die Hocke und spähte durch das Schlüsselloch. Die Türfalle schnappte gerade ein, als ein Schatten vor der Tür auftauchte und wieder verschwand.
Kurze Zeit war es mucksmäuschenstill.
Vor Bens innerem Auge spielte sich die Szene ab, die direkt auf der anderen Seite des dünnen Türblatts stattfand. Jens hatte das Klicken der Türfalle gehört, er hielt inne, horchte, ging auf die Tür zu, hinter der sich Emma und Ben versteckten, legte sein Ohr an das Holz und lauschte. Ben stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn die Türfalle, die er noch in den Händen hielt, hinuntergedrückt würde, die Tür sich öffnete und Jens wutschnaubend im Blickfeld auftauchte.
Doch die Türklinke bewegte sich nicht. Stattdessen kam aus dem Zimmer nebenan ein dumpfes Plumpsen.
Schuhe, die auf dem Boden landeten?
Möglich.
Ben holte tief Luft, ehe er die Tür einen winzigen Spalt öffnete. Er spähte durch den schmalen Schlitz, sah aber keine Bedrohung. Langsam schob er die Tür immer weiter auf, bis er sich einen vollständigen Blick über die Lage verschaffen konnte. Der Gang war leer.
Die Tür zum Nebenzimmer war nur angelehnt. Ein Husten drang aus dem Zimmer.
Aufgeschreckt wie ein junger Hase drückte sich Emma an Bens Rücken. Er griff nach hinten, bekam ihre Hand zu fassen und zog sie mit sich.
Wenn Jens oben war, dann konnten sie auch die Haustür nehmen.
Zusammen eilten sie die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss. Die Tür war schon in Sichtweite, als es über ihnen erneut polterte. Auf das Poltern folgte ein anderes Geräusch. Aber nicht von Oben.
Ein grunzendes Schnarchen. Aus dem Raum direkt neben Emma und Ben.
In schweigendem Entsetzen sahen sich die beiden an. Wie auf Kommando eilten sie los. Sie stürzten zur Tür, rissen sie auf und stürmten ins Freie. Ben konnte die Tür gerade noch festhalten, bevor sie scheppernd ins Schloss fiel. Es kostete ihn einige Überwindung, sie nicht einfach zuzuschlagen, sondern leise zu schliessen.
„Warum brauchst du solange?“, zischte Emma.
„Willst du etwa, dass sie sich fragen, weshalb die Haustür zuknallte, obwohl keiner rein oder raus gegangen ist?“, zischte er zurück.
Vielleicht etwas übervorsichtig, aber nicht ganz unlogisch.
Emma hüpfte von einem Bein auf das andere. Als Ben endlich kam, wirkte das wie ein Befreiungsschlag.
„Nicht rennen. Wir spazieren. Wer rennt, rennt vor etwas davon. Wer geht, hat nichts zu verbergen.“
„Interessante Weisheit. Von deinem Vater?“ Emma wollte ihn nur aufziehen. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass das gründlich in die Hose ging.
Sein Ausdruck wurde distanziert und kalt. „Nein.“
Das war alles. Den Rest des Weges schwiegen sie.
Er brachte sie zu ihrem Hotel. Vor dem Eingang zur Bar liess er sie mit einem knappen Kopfnicken stehen. Dann überquerte er die Strasse und wandte sich in Richtung Polizeistation.
Emma erinnerte sich, dort ein gelbes Motorrad gesehen zu haben. War das seins? Die Jacke, die achtlos über den Lenker gehängt worden waren, hatte jedenfalls grosse Ähnlichkeit mit seiner gehabt.
Immerhin, er hatte sie zu ihrem vorübergehenden Heim zurückbegleitet. Wenn auch das Thema Vater wohl ein Fehlgriff gewesen war, Anstand hatte der Mann.
Aber was jetzt? Sie wusste jetzt mehr. Und irgendwie immer noch nichts. Das war unbefriedigend. Nur, was war nun zu tun? Weiter graben? Heim reisen? Je länger sie hier war, desto mehr Fragen taten sich auf und umso weniger Antworten erhielt sie. Das konnte doch nicht sein! Liess Ben das einfach so kalt?
„Wie geht es jetzt weiter?“ Sie rief Ben ihre Frage quer über die Strasse hinterher. Er drehte sich um, sah sie einen Augenblick schweigend an, zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Na wunderbar.
Hinter Emma öffnete sich plötzlich die Tür. Eschrocken wandte sie sich um und sah sich mit Liss konfrontiert.
„Wie geht was weiter?“
Dem Glänzen in Liss Augen nach zu urteilen, hatte sie vollkommen falsche Schlüsse gezogen.
„Gar nichts.“ Emma wollte sich an Liss vorbei drücken, aber sie stellte sich ihr in den Weg.
„So hat er es mit mir auch gemacht.“
Verschwesterung. Wie nett.
„Nach drei Jahren hat er mich stehen gelassen und ging ins Unterland.“
„So? Es hat dir aber nicht geschadet, wie mir scheint. Kevin ist ein guter Fang.“
Argwohn zeichnete sich auf Liss‘ Gesicht ab. „Ja, das ist er und er ist vor allem mein Fang.“
„Kam mir zu Ohren. Es hat ihn übrigens ziemlich verletzt, dass du dich so für Bens Rückkehr begeistern konntest.“ Emma hatte keine Ahnung, weshalb sie sich anmasste, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Vielleicht hoffte sie, Liss damit Mundtot zu machen und ihr so zu entkommen.
Aber es klappte nicht.
„Ist das so? Und woher willst du das wissen?“
Emma fixierte Liss‘ Augen. Verschwörerisch senkte sie die Stimme. „Er hat es mir erzählt, als ich vorhin bei ihm war.“
An Liss vorbeizukommen war jetzt ganz einfach. Mit offenem Mund stand sie da und rührte sich nicht mehr. Noch eins draufzusetzen glich einer Gemeinheit, aber Emma konnte sich nicht beherrschen.
„Übrigens, schönes Haus habt ihr beide!“
Emma verschwand durch die hintere Tür in den Korridor, der zum Restaurant führte. Sie nahm gerade die erste Stufe der Treppe in Angriff, die sie zu ihrem Zimmer führte, als ihr ein Einfall kam. Emma machte auf dem Absatz kehrt und verliess das Gebäude durch die Tür zum Garten.