Strang 1 / Kapitel 2

 

Emma hatte aufmerksam Martins Erzählung gelauscht und war schlussendlich vollkommen in der Geschichte aufgegangen. Sie konnte die Bilder förmlich vor sich sehen, als würde sich alles auf einer Filmleinwand abspielen. Als Martin dann auf einmal schwieg, war ihr, als endete die Filmrolle. Auf der weissen Leinwand ihrer Fantasie flackerten nur noch die schwarzen Streifen vom Ende der Rolle. Sie hatte reichlich Mühe in die Realität zurückzukehren. Entgeistert starrte sie Martin an und wartete auf eine weitere Erklärung. Aber Emma wartete umsonst. Martin erhob sich langsam von seinem Stuhl. Er sah unendlich müde aus. „So meine liebe Emma, es ist schon spät. Rosaria wird mich schelten, weil ich mein Abendessen noch immer nicht eingenommen habe.“ 

„Ja, aber…“ Emma, nach wie vor sitzend, sah ihm nach, wie er zur Tür ging und sie öffnete. „Das kann doch nicht alles gewesen sein! Was geschah dann?“ 

Langsam drehte er sich zu ihr um. Einige ewig wirkende Sekunden verstrichen, ohne dass er etwas erwiderte. Er musterte sie nur prüfend. 

„Geh. Es ist schon spät. Wenn seine Selbstverliebtheit es zulässt, wird dein Freund sich schon fragen, wo du bist.“ 

Wie vor den Kopf gestossen erhob sich Emma. Sie trat auf die Tür und damit auf Martin zu. Schweigend stand sie ihm gegenüber. 

Martin nickte ihr zum Abschied zu. Sie sah ihn noch kurz an, dann verliess sie den Raum. 

Wortlos. 

Vor dem Aufzug trat auf einmal Rosaria lautlos hinter sie. Emma schwieg weiter und betrachtete die beiden verzerrten Spiegelbilder in der silbernen Lifttür. Die Bilder verschwanden als die Tür sich öffnete und Emma in die Kabine trat. Sie drehte sich um und stellte sich Rosarias Blick. Die Tür glitt wieder zu. 

Aber nicht ganz. Kurz bevor sie sich vollständig schloss, schob sich eine Hand zwischen die Sensoren. Sofort reagierte der Mechanismus. Die Tür öffnete sich. Dahinter stand Martin. 

„Emma, eins noch. Erinnerst du dich an unser Gespräch im Auto? Dass ein Kind neben deinem Freund keine Chance hat, sich zu entwickeln?“ 

Sie sah ihn fragend an, dann nickte sie leicht. 

Mit einem ernsten und eindringlichen Ausdruck hielt er ihren Blick fest. “Nicht nur ein Kind kann im Schatten eines Mannes eingehen. Auch eine erwachsene Frau kann es treffen.“ 

Martin zog die Hand weg und die Tür schloss sich wieder. 

Diesmal hielt sie niemand mehr davon ab. 

Beinahe lautlos beförderte der Fahrstuhl die verwirrte und leicht verärgerte Emma ins Erdgeschoss. 

Der Tag neigte sich dem Ende zu und der Hof lag in einem unwirklichen Halbschatten. Während Emma aus dem Wohntrakt in dieses zwiespältige Dämmerlicht trat, standen weiter oben zwei Menschen am Fenster und sahen ihr nach. 

„Wird sie es tun?“ Rosaria wandte den Blick nicht von der blonden Frau im Hof ab. 

„Ich bin mir nicht sicher. Die Zeit wird es zeigen.“ 

„Sicher. Aber ausgerechnet die rennt uns davon.“ 

Aufgewühlt von dem Gespräch mit Martin musste Emma erst tief durchatmen. 

Was bildete sich dieser alte Mann eigentlich ein? Erst lud er sie freundlich ein, dann verjagte er sie plötzlich wieder, und schliesslich hatte er noch das Gefühl, ihr Beziehungsratschläge geben zu können, dabei kannte er sie doch überhaupt nicht! 

Sie war wütend und liess alle Verkehrsteilnehmer daran teilhaben. Viel zu schnell raste sie durch die Strassen, sie bremste zu abrupt und gab Gas, dass der Motor aufheulte und die Reifen quietschten. Obwohl sie nach Hause wollte, fuhr sie doch zu Joschuas Wohnung. Einfach, um Martin, der nicht einmal anwesend war, und sich selbst zu beweisen, dass alles in bester Ordnung war. 

Der Lift fuhr direkt in sein Luxusappartement. Emma trat aus der Kabine in die Wohnung. Sie wusste, das Joschua mittwochs im Fitnessstudio trainierte und deshalb spät nach Hause kam, aber sie wollte auf ihn warten. Sie brannte darauf ihm von dem erfolgreichen Hausverkauf zu erzählen. 

Sie erwartete alles dunkel und still. Umso erstaunter war sie, als sie leise Stimmen aus dem hinteren Bereich der Wohnung vernahm. Ungläubig schlich sie den Gang entlang, dorthin, wo das heimische Büro und das Schlafzimmer lagen. Ein Lichtschimmer lugte unter der Bürotür hervor, aber die leisen Stimmen kamen aus dem Zimmer daneben, das scheinbar im Dunkeln lag. Seltsam. Überraschte sie etwa gerade Einbrecher? Obwohl ihr dieser Gedanke den Puls in die Höhe trieb, griff sie beherzt nach dem antiken, dreiarmigen Kerzenständer, der auf dem Sideboard thronte. Den Arm mit dem Kerzenständer schlagbereit erhoben, drückte sie behutsam die Türklinke nach unten. Geräuschlos schob sie die Tür langsam auf. Der Lichtstrahl des Korridors fiel in das Zimmer und schliesslich auf das grosse Wasserbett. Entsetzt stellte Emma fest, dass sich jenes bewegte. 

Entweder wegrennen oder zuschlagen. Wegrennen oder zuschlagen? 

Zuschlagen. 

Sie eilte auf das Bett zu, umfasste den Kerzenleuchter auch noch mit der zweiten Hand und liess in schwungvoll niedersausen. Da begegnete ihr ein Augenpaar. Gerade noch rechtzeitig stoppte sie in der Bewegung. Die Decke wurde heruntergerissen und der passende Körper zu den Augen fuhr in einem Ruck hoch. 

„Emma! Was tust du hier?“ 

Sofort liess Emma den Kerzenständer fallen. „Joschua! Was tust du hier?“ 

„Zufällig wohne ich hier.“ 

„Wie bitte?“ Verwirrt rieb sich Emma übers Gesicht. 

„Ich wohne hier. Und welche Erklärung hast du für deinen Auftritt?“ 

Konnte es heute eigentlich noch schlimmer werden? Erneut holte Emma tief Luft und atmete konzentriert aus. Langsam hörten ihre Hände zu zittern auf. „Ich wollte dich überraschen. Da hörte ich Stimmen aus deinem Zimmer und da du doch im Training sein solltest, dachte ich, es wäre eingebrochen worden.“ 

Joschua belächelte sie nur milde. „Und die Einbrecher wolltest du mit meinem Kerzenständer aus meinem Bett verjagen?“ 

„So ähnlich.“ Plötzlich kam sie sich dumm vor. Aber sie schöpfte neuen Mut. „Entschuldige. Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass ich das Haus verkauft habe.“ 

„Welches Haus?“ Gleichmütig schob sich Joschua an Emma vorbei und aus dem Bett heraus. 

„Na, das Haus in den Hügeln, das ich so schlecht an den Mann bringen konnte.“ 

„Ah, ja, sicher. Das ist toll, Schatz.“ Beiläufig gab er ihr einen leichten Kuss auf den Scheitel und tätschelte ihre Wange. Dann knöpfte er weiter das Hemd zu. 

Emma sah ihm auf die Finger. „Seit wann lässt du deine Hemden auf dem Boden herumliegen?“ 

„Hm?“ Er drehte sich halb zu ihr um. 

Der Gedanke kam verzögert, aber nun liess er sich nicht mehr abschütteln. „Und was tust du um diese Zeit, an einem Mittwoch, zu Hause im Bett?“ 

„Der Tag war lang, da gönnte ich mir einfach eine Pause.“ 

Das passte nicht unbedingt zu ihm, klang aber plausibel. Emma war gewillt, ihm zu glauben. Sie schlenderte arglos ins angrenzende Badezimmer, und kam gleich darauf mit geröteten Wangen wieder heraus. Ihre Nasenflügel waren leicht gebläht. Am Finger baumelte ein roter Büstenhalter. 

Daher also die Stimmen. 

„Was ist das?“ 

„Du bist die Frau, sag du’s mir.“ Er sah nicht einmal hin. 

Dieser Tag hatte die besten Chancen, einer der schlimmsten ihres Lebens zu werden. Obwohl sie raste vor Wut, wollte sie sich keine Blösse mit einer hysterischen Szene geben. Also sammelte sie den Rest ihrer Beherrschung zusammen. „Du hast recht, ich weiss, was das ist und ich weiss auch, es gehört nicht mir. Er ist nicht neu und daher wohl kaum ein Geschenk für mich. Ich könnte dich nun mit Fragen löchern, deine Wohnung auf den Kopf stellen und dein Handy durchsuchen oder einfach deinen Schrank aufreissen, aber ich denke, das können wir uns sparen.“ Äusserlich gelassen trat sie auf ihn zu und sah ihm in seine hübschen dunklen Augen, die unter einer immer makellosen Frisur, in einem fast zu perfekten Gesicht sassen. Und sie entdeckte nichts. Keine Reue, kein Schmerz, keine Gefühlsregung. Nur kühle Gleichgültigkeit. Aber sie brauchte mehr. Er musste ihr einfach etwas geben, das die Erniedrigung linderte. 

Unverwandt sah sie ihn an. Sie näherte sich gefährlich seinen verführerischen Lippen. 

Jetzt lächelte er leicht. Warm lag ihr Atem auf seinem Mund. 

In seinen Augen blitzte Triumph auf. Er konnte sie einfach alle haben. 

Ihre Hand wanderte federleicht über das noch halb offene Hemd, zu seiner empfindlichen Bauchdecke, wo sie langsam weiter hinunterstrich. Die erregende Berührung in Aussicht, kochte sofort Begierde in ihm hoch, was sein muskulöser Körper nicht zu verbergen vermochte. Dann liess sie ihre Zunge über seine Oberlippe gleiten und entlockte ihm einen heissen Seufzer. „Weiter“, forderte er sie auf. 

Sie kannte diesen Ausdruck in seinen Augen. Er wollte sie unterwürfig. Sie sollte ihn verwöhnen, aber selbst bekam sie nichts. 

Das war weit genug. Ihre Mundwinkel verzogen sich nun ebenfalls zu einem triumphierenden Lächeln, während sie den roten Büstenhalter, den sie am Handgelenk hatte, in einer fliessenden Bewegung um seinen Nacken legte. Mit dem Zeigefinger fuhr sie seine Kieferknochen nach, stupste ihn auf das Kinn und liess ihn mitsamt seiner geballten Männlichkeit im Dunkeln stehen. 

Das letzte was er von ihr sah, war ihre Rückansicht, wie sie mit einem sexy Hüftschwung aus seiner Wohnung und aus seinem Leben verschwand. 

 

Unscheinbar
titlepage.xhtml
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_000.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_001.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_002.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_003.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_004.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_005.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_006.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_007.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_008.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_009.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_010.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_011.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_012.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_013.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_014.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_015.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_016.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_017.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_018.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_019.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_020.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_021.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_022.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_023.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_024.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_025.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_026.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_027.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_028.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_029.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_030.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_031.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_032.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_033.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_034.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_035.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_036.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_037.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_038.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_039.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_040.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_041.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_042.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_043.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_044.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_045.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_046.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_047.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_048.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_049.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_050.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_051.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_052.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_053.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_054.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_055.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_056.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_057.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_058.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_059.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_060.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_061.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_062.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_063.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_064.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_065.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_066.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_067.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_068.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_069.html
CR!65V9FM21E961X6KYVX7BQBPEYX2N_split_070.html