Strang 2 / Kapitel 13
Mit weit überhöhter Geschwindigkeit fuhr Bernard die Serpentinen entlang. Gespenstisch huschten die Scheinwerfer über den Asphalt. Er kannte die Strecke wie seine Westentasche, dennoch war seiner Frau das Tempo nicht geheuer. Sagen wollte sie aber nichts. Das gäbe nur Streit. Und auf sie hören würde er sowieso nicht. Also betete sie. Still und heimlich. Mit geschlossenen Augen. Als sie die Augen das nächste Mal öffnete, fand sie das Fahrzeug eingehüllt in weissgraue Schwaden. Unheimlich waberte der Nebel über der Erde. Und er wurde immer dichter. Er schien richtiggehend nach dem Wagen zu greifen. Als wollte er das Metall mit seinen feuchtkalten Klauen zerdrücken, bis es sich in Luft auflöste. Das Licht der Scheinwerfer prallte an der Wand aus Wasserperlen einfach ab. Man sah nur noch wenige Meter weit. Für dieses Phänomen war diese Gegend bekannt. Aber Bernard verlangsamte dennoch nicht. Er wusste, was die Strecke als nächstes bereithielt. Es folgten zwei leichtere Kurven, eine kurze Gerade, dann der Fels, der weit in die Strasse ragte. Was dahinter lag, wurde vom festen Felsgestein verdeckt. Egal bei welchem Wetter.
Wer sich nicht auskannte, drosselte das Tempo. Wer vernünftig war, ebenfalls. Nicht so Bernard. Schliesslich kannte er die dahinterliegende scharfe S-Kurve.
Der Wagen brauste weiter. Die Nebelschwaden ergrauten immer mehr, bis sie dem Gestein ganz wichen. Ein heftiger Ruck am Lenkrad und das Hindernis war überwunden. Das Fahrzeug war wieder vollständig in jungfräulich weissen Nebel gehüllt.
Ein triumphierendes Lächeln im Gesicht trieb Bernard das Auto in die S-Kurve. Die Schwaden lichteten sich. Und sein Lächeln erstarb.
Da stand sie. Mitten auf der finsteren Strasse. Erfasst von den Schweinwerfern des auf sie zurasenden Autos. Doch die Frau mit dem langen, schwarzen Haar rührte sich nicht. Sie starrte den unaufhaltsam auf sie zurasenden Metallkoloss einfach an.
Und obwohl das im Gegenlicht kaum möglich war, schien sie den Insassen direkt in die Augen zu blicken.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen.
Bernard trat erschrocken mit aller Macht auf die Bremse.
Käthe hingegen erwiderte den Blick. Unfähig, sich abzuwenden. Was sie in den dunklen Augen las, liess sie erschauern. Sie erkannte das Unheil, noch bevor es eintraf.
Plötzlich hörte Käthe eine Stimme. Erst ganz sanft und leise.
Summte da jemand? Sie achtete genau auf das Gesicht der Frau. Keine Regung.
Sie starrte nur. Unheimlich. Gespenstisch.
Das Summen wurde lauter, bedrohlicher. Es schwoll an, fand den Höhepunkt in einem ohrenbetäubenden Knall und flachte schliesslich zu einem konstanten Pfeiffen ab.
Gleich darauf wurde Käthe schwindlig. Alles schien sich zu drehen. Übelkeit stieg in ihr auf, die Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Dann wurde es dunkel.
Am nächsten Tag fand man das Auto. Oder was davon übrig war.
Die dunklen Reifenspuren auf dem Asphalt liessen auf ein Ausweichmanöver schliessen. An einer Stelle schlugen die Spuren aus. Der Grund: Neben den schwarzen Reifenabdrücken lag ein grosser, durchlöcherter Holzbalken und ein Zapfen auf der Strasse. Zudem stellte man im Blut des Fahrers eine überhöhte Menge Alkohol fest.
Der Fall schien klar. Der Lenker war mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Er verlor die Kontrolle über das Fahrzeug und prallte gegen den Felsen. Die Insassen waren durch den Aufprall aus dem Wagen geschleudert worden. Sie waren nicht angeschnallt gewesen.
Der Unfallort wurde mittels Fotos weiter dokumentiert, dann wurde die Akte geschlossen.
Niemand fragte nach dem seltsamen Balken und dem Zapfen.
Niemand entdeckte die Fussabdrücke in der Erde hoch oben auf dem Fels über der Unfallstelle. Und so erfuhr niemand, dass in der verhängnisvollen Nacht noch jemand da gewesen war.