Strang 2 / Kapitel 5
Die letzten Sterne kämpften noch auf aussichtslosem Posten gegen die Morgendämmerung an, als Ruth Reich ihre Augen öffnete. Noch etwas steif vom Schlaf schlug sie die Decke zurück und schob ihre Beine aus dem grossen weichen Bett. Ihre Zehen tasteten durch die Luft, bis sie die weichen Pantoffeln zu spüren bekamen, die immer am selben Ort neben dem Bett standen. Verschlafen erhob sie sich und trottete zu ihrem Stuhl, über dem ihre Arbeitskleidung hing. Eine Hose und ein einfaches Hemd. Ruth Reich hatte schon in ihrer frühsten Jugend begonnen, Männerkleidung zu tragen. Sich mit ihrem Vater über den Kleidungsstil zu streiten war leichter, als täglich in einem langen Rock mitanpacken zu müssen. Ihre langen hellbraunen Haare flocht sie rasch zu einem Zopf. Um den lästigen Strähnen, die sich immer wieder daraus lösten, Herr zu werden, band sie sich ein rotes Halstuch um den Kopf. In gewohnter Manier stieg sie dann die Treppe hinunter und wanderte in die Küche. Von dort ging sie durch die Hintertür zum Brunnen. Der Hof hatte durchaus fliessend Wasser, aber Ruth Reich bevorzugte das eisig kalte Brunnenwasser. Hinter dem Haus war sie um diese Zeit ungestört. Also zog sie sich wieder aus, wusch sich gründlich und stieg dann erneut in ihre Kleidung. Dann legte sie den nassen Lappen über den Brunnenrand und wandte sich der Küche zu. Sie hatte ihre Hand auf die Türfalle gelegt, bereit, sie hinunterzudrücken. Da sah sie den weissen Zettel an der Tür. Er war mit einem rostigen Nagel in das dunkle Holz geschlagen worden. Während sie die Nachricht las, gefror ihr das Blut in den Adern. Von Entsetzen gepackt riss sie die Notiz von der Tür und rannte in den Stall.
„Erwin! Erwin!“ Ihre Rufe hallten durch das Gebälk, aber Antwort erhielt sie keine. Erwin war mit den Kühen bereits durch. Hektisch überquerte sie den Platz und hetzte ins Gebäude, in dem die Landmaschinen und allerlei anderes Werkzeug untergebracht waren. Erneut rief sie nach ihrem Mann.
„Himmel, Ruth! Den Kühen wird noch die Milch sauer, wenn du weiter so brüllst! Was ist denn in dich gefahren?“ Brummelnd schob sich Erwin zwischen einer Mähmaschine und der Wand hervor. Ihm war es zuwider wenn es frühmorgens Ärger gab, und die Stimmlage seiner Frau klang nach Ärger. Aber als er ihr Gesicht sah, verstummte er. Ruth wurde selten blass. Immer war sie Herr der Lage. Doch jetzt war sie kalkweiss.
Noch bevor er sich um ihr Wohlbefinden bemühen konnte, hob sie den Zettel vor sein Gesicht.
„Was ist das?“ fragte er und trat näher.
„Miriam. Sie war heute Nach hier.“
Erwin verstand kein Wort. Er entriss Ruth das Papier und begann zu lesen. Nach dem letzten Wort liess er ungläubig die Hände sinken.
„Du denkst doch nicht etwa…?“
Ernst sah Ruth ihn an. „Doch. Miriam ist bei Nacht und Nebel in die Alphütte aufgebrochen.“
„Was hat sie sich nur dabei gedacht? Der Weg ist bei Tag schon anspruchsvoll, bei Nacht grenzt der Aufstieg an Selbstmord!“ Erwin konnte es nicht fassen.
Ruth ging es genauso. „Wir müssen sie sofort suchen.“
“Ich packe das Nötigste zusammen, du holst Gregor und Martin.“
Erwin wollte sich schon an Ruth vorbeidrängen, als sie ihn am Arm zurückhielt. „Aber du bleibst hier, nicht wahr?“
Zu lange zögerte Erwin mit der Antwort.
„Nein. Nein! Du bleibst hier. Wie du selbst gesagt hast, der Aufstieg ist anspruchsvoll. Der Berg verzeiht keinen Fehltritt. Dafür ist dein Bein einfach noch zu schwach.“ Eindringlich sah Ruth ihrem Mann in die Augen. „Der Fels hat dein Bein zertrümmert, dass du überhaupt noch Gehen kannst, grenzt an ein Wunder. Ich weiss, es passt dir nicht, aber du weisst, dass ich Recht habe.“
Er sagte kein Wort. Er riss sich los und verliess humpelnd die Scheune.
Verdammter Steinschlag.
Eine halbe Stunde später brachen die beiden Brüder Gregor und Martin zur Alphütte auf.
Antonius blieb zurück. Wie immer. Er sah seinen Brüdern lediglich unbekümmert nach. Einmal mehr erweckte er das Gefühl den Ernst der Lage nicht ganz verstanden zu haben. Ruth legte den Arm um ihren mittleren Sohn und sah bangend den Berg hinauf. Es hatte doch tatsächlich in dieser Nacht das erste Mal geschneit. Der Hang ruhte friedlich unter einer feinen weissen Schicht, die einem Zuckerguss glich. Nur vereinzelte graue Stellen mahnten an die Unberechenbarkeit der Natur.
Martin und Gregor waren gut in Form. Sie waren erfahrene Bergsteiger und Wanderer. Abgesehen davon, kannten sie die Tücken dieses Aufstieges. Daher kamen sie zügig voran.
Von ihrem Hof aus gesehen gab es nur eine Route zu der Hütte. Unter der Voraussetzung, dass Miriam des Nachts nicht vollkommen vom Weg abgekommen war, grenzte dieser Umstand das Suchgebiet bedeutend ein. Dennoch trennten sich die Männer immer wieder. Einer blieb auf dem Weg, der andere führte seine Suche abseits fort. So wechselten sie sich ab, bis sie an die engste und daher auch gefährlichste Stelle der Strecke kamen. Links fiel das Gelände steil ab und mündete in eine Schlucht aus reinem Fels. Rechts hingegen thronte der Berg teils überhängend über dem Weg. Obwohl der Hang über ihnen mit Lawinenschutzwänden und Netzen gesichert war, musste man hier immer mit Abgängen rechnen. Achtete man sich nicht, rissen sie einen erbarmungslos in die Tiefe. Dennoch, breit genug für den Viehtrieb war die Passage und für das saftige Grün, das sich hinter der unwirtlichen Landschaft befand, lohnte sich das Risiko allemal. Zudem befand sich dieses Sommerweideland seit Generationen im Besitz der Reichs. Nur wenige Familienmitglieder hatten hier bisher den Tod gefunden. Denn sie kannten die Gefahren und wussten, worauf sie achten mussten. Das Leben liessen hier meist fremde Wanderer. Oder Menschen, die den Weg irrsinnigerweise in finsterer Nacht auf sich nahmen. So wie Miriam.
Die Brüder wechselten nur einen Blick. Sie verstanden sich wortlos.
Gregor tastete sich vorsichtig an den Abgrund heran. Dort legte er sich bäuchlings hin. Dann schob er sich noch etwas weiter vor, bis die Sicht in die Schlucht soweit möglich frei war.
Er konnte nichts entdecken. Ein Anflug von Erleichterung liess Gregor aufatmen. Er stützte sich auf seine Hände um aufzustehen.
Da geschah es. Der erdige Untergrund gab nach. Gregor griff ins Leere und verlor den Halt.
"Gregor!" Martin reagierte blitzschnell. Ohne zu zögern rannte er los, setzte zum Sprung an und bekam gerade noch Gregors Beine zu fassen. Er umklammerte sie fest mit beiden Armen und verhinderte auf diese Weise, dass Gregor weiter abrutschte und schliesslich in die Tiefe stürzte.
Während Gregor sich mit den Händen abstiess und seinen Körper so langsam auf sicheres Terrain zurück befördert, stemmte Martin die Füsse in die Erde und zog sich rückwärts. Den sicheren Boden unter sich, richteten sie sich schwer atmend auf. Beide traten sie zur abgebrochenen Kante und sahen ehrfurchtsvoll in die Tiefe.
Gregor erschauerte beim Gedanken, dass diese zerklüfteten Abgründe um ein Haar sein Grab geworden wäre. Plötzlich griff Martin nach Gregors Arm, ohne den Blick von der Schlucht abzuwenden. Verdutzt folgte Gregor Martins Blick. Die Euphorie darüber überlebt zu haben, schwand mit einem Schlag.
Die Abbruchstelle gab den Blick auf einen Felsvorsprung frei. Darauf lag ein schwarzer Umhang, verziert mit einer feinen Stickerei in kräftigen Rottönen. Zweifelsohne Miriams Umhang.
„Das hat nichts zu bedeuten. Du weisst, wie der Wind hier oben toben kann.“ Es hätte gleichwohl eine Ermutigung für sich selbst, wie für Martin sein sollen. Aber es half kaum.
Gregor drehte sich als erster ab und kehrte zurück auf den Pfad. Dort hielt er inne. Sein älterer Bruder sah nach wie vor in den Abgrund.
„Martin, komm. Wir müssen weiter. Sonst erfahren wir nie, was geschehen ist.“
Endlich löste sich auch Martin aus seiner Starre und folgte Gregor. Ab sofort verliess keiner mehr den Weg, bis die Hütte in Sicht kam. Ein dunkles, flaches Holzgebäude, mit Steinsockel, das oberhalb eines weitreichenden Wiesengrundstückes stand. Eingebettet zwischen Nadelholzwäldern, die sich die umliegenden Hänge hinaufzogen. Je länger der Tag dauerte, desto mehr schmolz der erste Schnee dahin und gab den Blick auf das Grün wieder frei. Alles schien in bester Ordnung.
Doch mit jedem Schritt, den Martin und Gregor dem Gebäude näher kamen, wurde Ihnen unwohler. Wo war das Vieh?
Das Haus schien verlassen. Kein Rauch kam aus dem Kamin, kein Licht schimmerte in den Fenstern. Kein Anzeichen von Leben.
Die Schritte der Männer wurden immer schneller, bis sie schliesslich rannten. Gregor rief laut Rubens Namen. Martin versuchte es mit dem von Miriam. Aber sie erhielten keine Antwort.
Was war hier los? Beim Eingang der Hütte angekommen, wollte Martin die Tür öffnen. Doch die war schon offen. Sperrangelweit. Im Innern bot sich ein chaotisches Bild. Teller und Töpfe lagen am Boden zerstreut, Schubladen waren aus den Schränken und Kommoden gerissen worden, vereinzelte Kleidungsstücke lagen überall. Vorsichtig schritten Gregor und Martin durch das heillose Durcheinander. In jedem Raum bot sich ihnen dasselbe Bild. Im Kochbereich rümpfte Gregor die Nase. Bei Martin setzte der Würgreflex ein. „Mein Gott, das stinkt hier! Was ist das?“
Gregor trat auf den Brotkasten zu. Durch die Bewegung wurden einige Fliegen aufgeschreckt. Martin versuchte sie zu verscheuchen, als sie sich auf seinem Arm niederlassen wollten.
Derweil öffnete Gregor den Brotkasten. „Pfui! Entweder ist Ruben schon länger weg oder er ist ein Ferkel.“
Gregor trat zur Seite und gab den Blick auf den Brotkasten frei. Der ganze Kasten und das Undefinierbare, das noch darin lag, waren mit einem grünschwarzen Pelz überzogen.
Fauliger Geruch nach verwesendem Fleisch stieg auf. Martin schloss die Augen und drehte den Kopf weg. Wie ekelhaft. Die Brüder verliessen die Kochecke und gingen weiter.
Aber von Menschen keine Spur.
Sie verliessen das Haus und suchten die Ställe dahinter auf, die sie ebenfalls leer vorfanden. Schliesslich sahen sie sich das Tenn an. Aber auch diesen Raum zwischen den Ställen erwarteten sie leer vorzufinden. Also warfen sie nur einen kurzen Blick hinein.
Der Anblick verschlug ihnen den Atem.
An einem der Querbalken hing etwas. Etwas Grosses und Schweres. Die Brüder überkam eine entsetzliche Ahnung. Langsam hoben sie den Blick. Und sahen in starre, rot angelaufene Augen. Inmitten eines kalkweissen, leeren Gesichts. Umrahmt von schwarzem Haar. Um den Hals ein robustes Seil. Die lange Leiter stand noch daneben.
Martin wich bei diesem Anblick angewidert einen Schritt zurück. Gregor empfand eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. Sie hatte es also geschafft. Bei Nacht und Nebel hatte sie hierher gefunden. Und wofür?
„Wir müssen sie runterholen.“ Auf die nüchterne Feststellung folgte das genauso nüchterne Handeln. Entschlossen trat Gregor näher zu der Toten heran und sah sich um.
Martin hingegen brauchte noch einen Augenblick länger um sich zu fassen. „Gregor? Was ist hier passiert?“
„Wonach sieht es deiner Meinung nach aus?“ Er klang gröber als beabsichtigt. Martin konnte nichts dafür, aber er war nun mal hier, und damit der einzige, den Gregor sein Entsetzen spüren lassen konnte.
Martin ignorierte die Bissigkeit in der erhaltenen Antwort. „Auf Miriams Zettel stand, sie glaube, er hätte eine Affäre. Meinst du, sie kam her und erwischte ihn auf frischer Tat?“
Fahrig fuhr sich Gregor durchs Haar. Er sah sich weiter um, bis er eine Decke entdeckte. „Fass mal mit an.“
Martin half Gregor die alte Decke unter der Leiche auszubreiten. Dann klemmte er eine Säge unter den Arm und erklomm die ersten Sprossen. „Halt fest.“
Martin griff mit beiden Händen nach der Leiter und hielt sie fest, damit sie nicht wegrutschte, während Gregor immer höher stieg. Oben angekommen nahm er das Seil und begann es durchzusägen. „Mutter hat immer gesagt, Miriam sei schwermütig geworden. Ob sie ihn erwischt hat oder nicht, wenn sie ihn hier angetroffen hat, gab es bestimmt Streit darüber, weshalb er nicht nach Hause zurückgekehrt war. Dieser Streit vermengte sich wohl mit ihrem Gefühl, betrogen worden zu sein. In ihrer blinden Verzweiflung schnappt sie sich das Seil, positioniert die Leiter und den Rest sehen wir hier.“
„Und Ruben? Er kann doch nicht einfach gegangen sein!“
Gregor hörte auf zu sägen und sah zu seinem Bruder hinunter.
„In den Wohnräumen sieht es aus, als hätte jemand eiligst gepackt. Ob er seine sieben Sachen während dem Streit gepackt hat, vielleicht um ihr zu demonstrieren, dass er sofort verschwinden würde, wenn sie weiter so eine Szene veranstaltete? Oder sie drohte mit dem, was wir hier vor uns haben und er glaubte ihr nicht. Bis sie es wirklich tat. Von Panik ergriffen macht er sich aus dem Staub.“
„Beide Varianten würden bedeuten, er könnte zurückkehren. Aber was ist mit dem Vieh? Hat sie es in wilder Wut verjagt? Hat er es verjagt? Oder war er doch auf dem Rückweg und sie haben sich verpasst? Sie glaubte, er wäre durchgebrannt und erhängte sich in der Verzweiflung.“
„Nein. Das passt zeitlich nicht. Sie war nachts unterwegs.“
„Wir wissen aber nicht, wie spät abends. Sie machte den Weg über unseren Hof, also nahmen sie dort zwei verschiedene Wege. Ging sie in der Dämmerung los, wäre es gut möglich, dass er gleichzeitig auf dem anderen Weg im Tal eintraf, wie sie an unserem Hof ankam.“
Gregor dachte kurz darüber nach. Das war in der Tat eine Möglichkeit. Er wandte sich wieder Miriam zu. Der Gedanke, dass sie sich nur verpasst haben könnten, stimmte ihn noch trauriger. Entschlossen sägte er weiter, bis das Seil nachgab. Der Körper prallte schwer auf dem Boden auf. Direkt neben Martin. Er zuckte unweigerlich zurück. Die Leiter geriet ins Wanken.
„Wirst du wohl die Leiter halten! Oder willst du heute zwei Menschen begraben?“
Sofort festigte sich Martins Griff wieder. Langsam stieg Gregor hinunter.
Gemeinsam packten sie den toten Körper in die Decke. Dann zogen sie das schwere Bündel nach draussen. Martin ging zum Werkzeugschuppen um eine Schaufel zu holen. Ganz selbstverständlich riss er die Tür auf. Auf halben Weg hielt er inne.
„Gregor? Das musst du dir ansehen!“
Ungeduldig liess Gregor von seiner Last ab. Er trat neben Martin und folgte dessen Blick ins Innere des Schuppens.
„Ach du heilige Scheisse! Was ist das denn?“
„Sieht mir ganz nach einer kleinen, privaten Schnapsbrennerei aus.“
„Dieser elende Hund. Komm, lass es uns hinter uns bringen. Dieser Ort ist mir nicht geheuer.“
Martin konnte dieses Gefühl gut nachvollziehen. Neben einigen Fässern fand er die gesuchte Schaufel und verliess den Raum.
Sie begruben Miriam knapp unterhalb des Waldes am Fuss einer mächtigen Tanne.
Anschliessend suchten sie in der Umgebung nach dem verschwundenen Vieh. Sie suchten in den umliegenden Schluchten, auf den Anhöhen und durchforsteten Teile der Wälder. Aber von den Tieren keine Spur. Immer weiter wanderte die Sonne Richtung Westen. Langsam drohte die Dunkelheit, aber keiner der beiden Männer verspürte das Bedürfnis in der Alphütte zu übernachten. Also gaben sie auf. Mit einem letzten Blick zu dem einfachen Holzkreuz neben der frisch aufgeschütteten Erde machten sie sich schweigend an den Abstieg.
Was dann auf der Alp geschah, hatte niemand ahnen können.