13 Uhr 18. Petersdom
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»Knapp ein Jahr nachdem ich der Bruderschaft beigetreten war, hatte ich die große Ehre, Ihren Vater kennenzulernen.«
Bertoni beobachtete Matthias genau, während er davon erzählte. Dieser hoffte, dass man seinem Gesicht die Qual nicht ansah, die der Bericht in ihm auslöste. Er hatte gehofft, sich nie wieder mit dieser schrecklichen Zeit beschäftigen zu müssen.
»Nach vielen Gesprächen, die ich mit ihm führte, übertrug er mir schließlich die Organisation und die Realisierung der Entführungen.« Bertonis Mund verzog sich wieder zu einem Lächeln. »Ich habe mir die kleine Spielerei erlaubt, meine Leute in Priesterkleidung zu stecken, wenn sie sich die Jungen schnappten. Selbst wenn sie jemand dabei beobachtet hätte … wer glaubt schon, dass eine Gruppe Priester einen Jungen entführt?«
Er blickte die drei Männer vor sich an, als erwartete er Beifall von ihnen. Nach einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr hob er bedauernd die Schultern.
»Ich muss meinen Bericht jetzt leider etwas abkürzen, meine Herrn, es bleiben uns nur noch wenige Minuten, bevor wir in die Geschichte eingehen.«
Sowohl Matthias als auch Kardinal Voigt wollten etwas sagen, doch Bertoni brachte sie mit seiner Pistole zum Schweigen. »Ich bin noch nicht fertig. Nur mit dem Geld und der weitverzweigten Organisation der Simoner war dieses gigantische Unternehmen möglich. Ich schaffte die Jungen auf ein Anwesen in Südafrika, wo sie ohne Kontakt zur Außenwelt heranwuchsen. Eine Handvoll Erzieher unterwies die Jungen im Sinne von Friedrich von Keipen, unterzog sie einer Gehirnwäsche, so dass sie die wenigen Jahre bei ihren Eltern völlig vergaßen und mit den Jahren immer fester an ihre Bestimmung als wiedergeborene Söhne Gottes glaubten. Ganz im Sinne des Magus.«
»Und was bedeutet die Tätowierung im Nacken der Männer?«, fiel Matthias ihm ins Wort, woraufhin Bertoni breit grinste.
»Nichts. Es war nur eine kleine Spielerei von mir. Ein einfaches Brandzeichen für meine willfährigen Schafe, wenn Sie so wollen. Wie hätte ich damals auch ahnen können, wie sehr ich mich einmal darüber amüsieren würde, dass die gesamte römische Polizei und Friedrich von Keipens Sohn sich den Kopf darüber zerbrechen, was diese Tätowierung wohl bedeuten könnte.«
Er schüttelte lachend den Kopf und schlug sich dabei auf die Oberschenkel. Als er sich wieder beruhigt hatte, sah er erneut auf seine Armbanduhr.
»Um es kurz zu machen: Nachdem Sie, Hermann von Keipen, das Lebenswerk Ihres Vaters zerstört hatten, indem Sie Strenzler nach seiner Wahl zum Papst erschossen und so die gesamte Bruderschaft auffliegen ließen, erkannte ich, dass das Misstrauen Ihres Vaters mich als einen der wenigen davor bewahrt hatte, enttarnt zu werden. Außer dem Magus, der nur noch ein einziges Mal in Südafrika auftauchte, und meinen mir treu ergebenen Männern wusste niemand etwas von den Gottessöhnen. Dennoch haben Sie auch mein Leben zerstört. Dreißig Jahre lang habe ich das Leben als Mitglied dieser verlogenen Kurie nur ertragen, weil ich ein großes Ziel vor Augen hatte: Diese Kirche und ihre selbstgefälligen Fürsten zu zerstören und im Sinne der Simoner neu aufzubauen.«
»Bruder Matthias hat mit seiner Tat die Welt vor dem Untergang bewahrt«, sagte der Papst so leise, dass Bertoni ihn fast nicht verstand. Der stieß ein verächtliches Lachen aus.
»Das ist eine Frage der Perspektive. Jedenfalls stand ich in diesem Moment vor den Trümmern meines Lebens. Die einzige Frau, die ich je geliebt hatte – gestorben durch die Schuld der Kirche. Mein geliebter Sohn – gestorben durch die Schuld der Kirche. Mein Lebensinhalt, der mich davor bewahrte, am Schmerz über ihren Verlust zugrunde zu gehen – zerstört durch Hermann von Keipen. Und dann wurde auch noch derjenige zum Oberhaupt dieser elenden Kirche gemacht, der durch seinen gemeinen Verrat damals alles ausgelöst hatte: Massimo Ferdone.«
Matthias sah zur Seite, aber der Papst zeigte mit keiner Regung, welche Wirkung diese Worte auf ihn hatten.
»Und als ob das alles noch immer nicht genug gewesen wäre, wurde ich durch Zufall auch noch Zeuge eines Telefonats, in dem Sie, Kardinal Voigt, mit dem Justizminister über von Keipens Freilassung sprachen. Da begann der Plan in mir zu reifen, die Sache alleine zu Ende zu bringen. Sie müssen mir zugestehen, von Keipen, dass der Plan so genial ist, dass er von Ihrem Vater hätte stammen können. Ich habe Sie und die Polizei mit meinen kleinen Inszenierungen hingelenkt, wo auch immer ich Sie haben wollte. Die Idee mit dem Gemälde im Castello war doch genial, oder etwa nicht? Ich wusste, Sie würden auf die Idee kommen, auf die Sie kommen sollten. Sie sind schließlich Ihres Vaters Sohn. Ein bisschen spät war es zwar, aber immerhin … Nachdem die Schweizergarde dann aufgrund Ihrer scharfsinnigen Schlussfolgerungen so nett war, fast komplett zu verschwinden, habe ich meine Männer hierherbeordert. Sie haben an ausgesuchten Stellen, wie zum Beispiel unter den Museen, in der Sixtinischen Kapelle und der Vatikanischen Bibliothek, im Apostolischen Palast und natürlich im Palazzo Sant’ Ufficio und hier unter dem Dom so viel Sprengstoff gelegt, dass ich damit den gesamten Vatikanstaat in die Luft jagen kann.«
Er machte eine Pause, die sich zur Ewigkeit zu dehnen schien. Dann zog er ein Mobiltelefon aus der Tasche und sah nochmals auf seine Uhr.
»Und genau das werde ich in zwei Minuten und fünf Sekunden per Knopfdruck von diesem Telefon aus tun. Wie ich es der Presse angekündigt habe, werde ich die Welt um Punkt halb zwei von der katholischen Kirche mitsamt ihrem Oberhaupt, ihren Schätzen und allem, was sie repräsentiert, befreien. Der Vatikan wird pulverisiert. Und auch wenn Sie es nicht mehr erleben werden, kann ich Ihnen eins versprechen: Davon wird sich Ihr verlogener Verein nie wieder erholen.«
»Vielleicht hätten Sie Ihrer Mörderbande das Schießen beibringen sollen. Das Attentat auf Matthias jedenfalls ist Ihnen eindeutig misslungen.«
Bertoni fuhr herum und starrte Varotto an, der mit erhobener Pistole etwa zehn Meter seitlich von ihm stand. Sein Gesicht war ebenso wie die Kleidung total verdreckt, die Haare glänzten feucht.
Bertoni erholte sich erstaunlich schnell von dem Schreck und korrigierte seine Waffe so, dass sie direkt auf die Stirn des Papstes zeigte.
»Wie auch immer Sie hier hereingekommen sind, Commissario, lassen Sie die Waffe fallen, sonst muss ich den Papst gleich erschießen.«
Varottos Wangenknochen traten hervor. »Einen Teufel werde ich tun. Da Sie sowieso in zwei Minuten alles in die Luft jagen wollen, können Sie mir wohl kaum noch drohen. Los, geben Sie mir die Waffe und das Handy!«
Bertoni sah dem Commissario stumm in die Augen. In der rechten Hand hielt er die Waffe, mit der er auf den Heiligen Vater zielte, in der linken das Mobiltelefon. Varotto hob seine Waffe noch ein Stück.
»Wenn Sie sich auch nur einen winzigen Millimeter bewegen, verpasse ich Ihnen einen Kopfschuss.«
»Ich werde die Explosion trotzdem noch auslösen können, das wissen Sie.«
Matthias spürte, wie sich ein Schweißtropfen an seiner Schläfe löste und am Ohr vorbei zum Hals lief. Er musste Bertoni irgendwie ablenken.
»Was ist mit den letzten der entführten Jungen, Bertoni? Wo sind sie? Und wo sind Ihre Männer? Bringen Sie die auch mit um?«
Bertonis Blick blieb unverändert auf Varottos Gesicht haften.
»Im Gegensatz zu Ihnen habe ich meine Arbeit vollendet, von Keipen. Sie wissen, es gab vierzehn Kreuzwegstationen. Meine Männer haben vor wenigen Minuten den Vatikan verlassen. Sie werden mit dem Rest des Vermögens, das der Magus uns damals für unser Projekt zur Verfügung gestellt hatte, ein sorgenfreies Leben führen können.«
Ohne den Arm mit dem Telefon zu bewegen, sah er auf sein Handgelenk.
»Noch eine Minute, dann wird sich die Welt verändern.«
Matthias sah Varotto flehend an.
»Erschieß ihn, Daniele«, sagte er mit beschwörender Stimme. »Los, drück ab. Schnell!«
Varottos Gedanken rasten. Es gab nur eine Möglichkeit, und auch die war sehr riskant. Selbst wenn sein Vorhaben funktionierte, war der Papst in großer Gefahr. Und sollte er daneben schießen …
»Noch zwanzig Sekunden«, sagte Bertoni, und der Triumph war seiner Stimme deutlich anzuhören.
»Daniele, um Gottes willen, schieß!« Matthias schrie fast.
In diesem Moment nahm Varotto aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und handelte. Schnell hintereinander fielen zwei Schüsse, eine Sekunde später ein weiterer. Sowohl Bertoni als auch die drei Männer vor ihm gingen zu Boden.
Varotto stand unbeweglich da, die Waffe noch in derselben Position haltend, der Lauf zeigte ins Leere.
Erst nach einigen Sekunden löste er sich aus seiner Starre und registrierte erleichtert, dass keine Explosion erfolgt war.
Mit schnellen Schritten war er bei Bertoni und kickte dessen Waffe zur Seite. Die Hand des Alten, die das Telefon gehalten hatte, war blutüberströmt. Hektisch suchte Varottos Blick nach dem Handy und fand seine Einzelteile über den ganzen Altarboden verstreut. Befreit atmete er auf, packte den Mann an der Schulter und rollte ihn auf den Rücken. Auf der linken Brust konnte er auf Höhe des Herzens ein kreisrundes Loch erkennen. Beide Schüsse hatten ihr Ziel also getroffen. Varotto legte zwei Finger an Bertonis Halsschlagader. Der alte Mann war tot.
In diesem Augenblick hörte er ein Stöhnen hinter sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass noch ein dritter Schuss gefallen war. Mit einem Satz war er bei den drei Männern. Kardinal Voigt versuchte sich gerade aufzurichten. Ihm schien es gut zu gehen. Der Papst hingegen lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, Matthias bäuchlings über ihm. Varotto drehte den Deutschen vorsichtig um und sein Blick fiel dabei auf die weiße Soutane des Papstes, die blutdurchtränkt war.
»Er hat sich vor mich gestellt. Er hat mit seinem Körper die Kugel abgefangen, die mich treffen sollte«, stammelte das Kirchenoberhaupt mit brüchiger Stimme
Nun erst begriff Varotto, dass es nicht das Blut des Papstes war, das er sah.
»O nein!«, rief er aus und bettete Matthias vorsichtig auf den Boden. Der gesamte Bauch war dunkelrot. »Nein! Matthias!«
Als hätte er ihn gehört, schlug der Deutsche noch einmal die Augen auf. Er schien zwei, drei Sekunden zu benötigen, um zu verstehen, was geschehen war, dann zeigte sich ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesicht.
»Gott sei Dank, der Vatikan steht noch«, flüsterte er. »Was ist mit dem Heiligen Vater?«
»Es ist gut, Matthias. Es geht ihm gut.« In Varottos Stimme lag eine solche Zärtlichkeit, dass sie ihm selbst fremd erschien. »Ich rufe einen Arzt. Halt durch. Du wirst bald wieder auf den Beinen sein.«
»Nein. Mir ist kalt. Ich spüre meine Beine nicht mehr, Daniele. Hör zu, die …«
»Nun rede keinen Unsinn«, unterbrach Varotto ihn betont barsch. »Du wirst wieder gesund.«
Matthias atmete flach, das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. »Daniele, bitte, hör mir zu. Die beiden letzten Stationen. Du musst die Männer retten!«
»Welche Stationen, zum Teufel, Matthias! Ich muss jetzt dafür sorgen, dass dir geholfen wird.«
Doch der Deutsche schüttelte nur schwach den Kopf und erzählte dem Commissario, was er vermutete. Er musste immer wieder eine Pause machen. Mit den letzten Worten schlossen sich seine Augen.
Mit Tränen in den Augen zog Varotto sein Mobiltelefon heraus und schaltete es an. Dann wählte er die Nummer eines Polizisten, und bat ihn, sofort mit einer Hundertschaft auszurücken.