Innenstadt von Rom

35

Während der Fahrt zu Daniele rief Matthias Kardinal Voigt an, um ihn über die neueste Entwicklung zu informieren.

Der Kurienkardinal hörte sich alles geduldig an und sagte dann: »Was für ein seltsamer Zufall. Er hatte also doch richtig gelegen mit seinem Vorschlag.«

Matthias war verwirrt. »Wer er? Und welcher Vorschlag, Eure Eminenz?«

»Monsignore Bertoni. Er hat mich heute früh wieder aufgesucht und mir erklärt, er habe sich noch einmal Gedanken über die Morde gemacht. Möglicherweise solle man alle Daten, die auftauchten, überprüfen. Es sei ja nicht selten der Fall, dass darin ein Hinweis auf das Geschehene zu finden sei. Allerdings kannte er so wie ich bislang nur das Geburtsjahr des Toten, der von seiner Mutter gefunden worden war, weshalb ich der Sache keine allzu große Bedeutung beimaß. Es schien mir doch etwas zu weit hergeholt. Als dann später der Anruf aus der Questura kam und Sie kurz danach hier bei mir saßen, hatte ich die Sache schon wieder vergessen. Jetzt aber stellt sich heraus, dass die Geburtsdaten von mindestens zwei der Opfer identisch sind und zudem auf eine ungewöhnliche Sternenkonjunktion fallen. Da bekommt Bertonis Vorschlag natürlich ein völlig neues Gewicht … Und ich gestehe, es ist beängstigend.«

»Ja, Eure Eminenz, das ist es. Ich bin gerade unterwegs zu Commissario Varotto …«

»Varotto …«, unterbrach ihn der Kardinal. »Heute Morgen gab es einen sehr unschönen Artikel über den Commissario. Sie haben ihn sicher schon gelesen.«

Matthias war aber mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache. »Eminenz, ich werde mich wieder bei Ihnen melden, wenn wir bei Commissario Varotto sind. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«

»Nein, ich möchte, dass Sie vorher herkommen.« Voigts Stimme klang nun etwas ungehalten.

Matthias warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett des Fiats. Halb eins. Er überlegte kurz und sagte dann: »Ich werde um 15 Uhr da sein. Ist Ihnen das recht?«

»Ja, in Ordnung«, antwortete der Kardinal knapp und legte auf.

Matthias starrte auf die Straße. Seine Gedanken rasten. Bertoni war am Morgen bei Voigt gewesen und hatte ihm einen Vorschlag unterbreitet, der mit der Überprüfung von Daten zu tun hatte. Und das hatte der Kardinal vergessen, ihm mitzuteilen? Ihm, den der Vatikan herbeordert hatte, um bei der Aufklärung der Mordserie behilflich zu sein? Konnte einem so etwas einfach entfallen?

»Was ist los? Sie sehen aus, als ginge es Ihnen nicht gut.«

Er warf einen kurzen Blick auf das besorgte Gesicht der Journalistin. Mühsam brachte er ein Lächeln zustande. »Nein, es ist nichts, Alicia. Außer dass diese Sache immer unheimlicher wird, je mehr wir uns damit beschäftigen.«

Sie nickte wortlos. »Das alles wird wirklich immer unheimlicher. Und die Tatsache, dass ein psychisch labiler Commissario, eine Journalistin mit verkorkstem Leben und ein in einem sizilianischen Kloster lebender geheimnisvoller Deutscher ohne Vergangenheit gemeinsam an dem Fall arbeiten, macht es nicht eben einfacher.«

Matthias sah sie überrascht an. »Warum denken Sie, dass Ihr Leben verkorkst ist?«

»Warum übergehen Sie, was ich zu Ihrer Person gesagt habe?«, kam sofort die Gegenfrage.

»Sie zuerst.«

Sie lachte. »Das erinnert mich an meine Kindheit. Damals war eines meiner liebsten Argumente: ›Ich habe zuerst gefragt.‹«

Matthias konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und wurde sich bewusst, dass es guttat, mit ihr zu lachen, weil es für einen kurzen Moment die schrecklichen Geschehnisse verdrängte.

»Was vor langer Zeit gut war, kann heute immer noch Gültigkeit haben, oder? Nun sagen Sie schon, warum Ihr Leben angeblich verkorkst ist. Danach werde ich Ihnen auch ein wenig von mir erzählen.«

Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Also gut. Wenn ich nicht gerade arbeite, verbringe ich die meisten Abende in irgendwelchen Bars oder Restaurants mit irgendwelchen Bekannten und unterhalte mich mit ihnen über irgendwelche Belanglosigkeiten. Dann gehe ich nach Hause in meine Single-Wohnung. An manchen Abenden setze ich mich noch eine Stunde vor den Fernseher, an anderen gehe ich sofort ins Bett, aber ich tue es meist alleine. Am nächsten Morgen stehe ich wieder auf, arbeite und gehe danach in Bars oder Restaurants. Ein Leben, bestehend aus Arbeit und Banalitäten. Der Höhepunkt des Jahres ist die Woche, die ich mit meinen Eltern zusammen über Weihnachten bei meinen Großeltern in Spanien verbringe. Das ist wirklich immer sehr schön, aber als Jahreshöhepunkt einer 36-Jährigen …«

»Das hört sich bisher aber nicht nach einem verkorksten Leben an, Alicia«, erklärte Matthias vorsichtig.

Ihr Lachen klang dieses Mal bitter. »Wie soll man es sonst nennen? Andere Frauen in meinem Alter haben einen Mann, zwei, drei Kinder, einen Hund und einen Wellensittich. Eine ganze Menge Aufgaben warten auf sie, wenn sie von der Arbeit kommen. Die Familie will versorgt sein, Familienausflüge am Wochenende müssen geplant werden, sie müssen in die Sprechstunden der Lehrer und abends müssen sie sich schick machen, um den Gatten zu seinem Geschäftsessen zu begleiten. Sie … Sie …«

Alicia verstummte, und als Matthias den Eindruck hatte, sie würde den Satz nicht beenden, tat er es für sie. »Sie werden gebraucht.«

Wieder musste sie an einer Ampel anhalten. »Ja. Ich habe mit meinen 36 Jahren nichts von alledem. Es gibt außer meinen Eltern niemanden, der mich braucht, und es interessiert niemanden, was ich tue oder nicht tue.«

»Sie reden von Ihrem Leben, als wäre es schon vorbei. Dabei sind Sie eine intelligente, attraktive junge Frau. Die Männer drehen sich nach Ihnen um, und ich kann mir vorstellen, dass viele Sie gerne kennenlernen würden.«

Ihre Mundwinkel zitterten. »Das Problem ist nur, dass die meisten dieser Männer verheiratet sind, und sie mich nur zu einem ganz bestimmten Zweck ›kennenlernen‹ wollen.«

»Was würden Sie sich denn wünschen? Oder soll ich besser fragen, wie soll er sein?«

Sie zog die Schultern hoch. »Das weiß ich nicht so genau. Nur, dass ich mir kein ›Scusi, Signorina, Sie sind wunderschön. Möchten Sie die Nacht mit mir verbringen?‹ wünsche.«

»Aber es stimmt doch: Sie sind wunderschön«, erklärte Matthias verlegen.

Daraufhin sagte sie nichts mehr, sondern sah ihn nur mit einem seltsamen Blick an, so als würde sich gerade eine Brücke zwischen ihren dunklen Augen und ihm bilden. Und etwas war in diesen Augen, das ihn berührte, sich warm in seinem Inneren ausbreitete. Sie war schön. Nicht puppenhaft hübsch, nein, natürlich schön. Sie war … Ein unangenehmes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, Alicia neben ihm fuhr zusammen. Im nächsten Moment wurde ihnen beiden klar, dass der Fahrer hinter ihnen im Sekundentakt auf die Hupe drückte. Die Ampel stand auf Grün.

Alicia legte einen Gang ein und fuhr los. Dabei warf sie ihm einen schnellen Blick zu und lächelte verlegen. Während der restlichen Fahrt sprachen sie nicht mehr, aber Matthias spürte die ganze Zeit über das warme Gefühl in sich.

Zehn Minuten später parkten sie vor dem Haus, in dem Daniele Varotto wohnte. Während sie die Gurte lösten, sagte Matthias: »Gab es noch nie jemanden, der der Richtige hätte sein können?«

Wieder sah sie ihn an, dieses Mal jedoch war es ein vollkommen anderer Blick.

»Doch … den gab es. Wir klingeln gleich an seiner Tür … Aber das ist lange her. Er hatte sich damals schon für meine Kollegin und Freundin entschieden.«

»Commissario Varotto? Weiß er …?«

»Nein. Und ich bitte Sie inständig, das auch für sich zu behalten! Wie gesagt, es ist schon lange her. Lassen Sie uns das Thema bitte vergessen.«

Matthias nickte und stieg aus. Alicia war also in Commissario Varotto verliebt gewesen, als dieser sich schon für ihre Freundin Francesca entschieden hatte. Das war bitter für sie, aber so etwas kam sicher öfter vor. Seine Gedanken rasten, und zum ersten Mal seit Tagen drehten sie sich dabei nicht um die Toten, mit denen der Kreuzweg Jesu Christi nachgestellt wurde.

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