Ein Waldstück am nördlichen Stadtrand von Rom

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Reflexartig trat Daniele Varotto auf das Bremspedal, als der stämmige Mann im Lichtkegel seiner Scheinwerfer auftauchte. Er musste irgendwo zwischen den Bäumen gestanden haben und erst im letzten Moment auf den Waldweg gesprungen sein, der von dem Platzregen eine Stunde zuvor ganz aufgeweicht war. Wahrscheinlich hatte er, an einen Baum gelehnt, ein Schläfchen gehalten.

Wüst fluchend öffnete der Commissario das Seitenfenster des BMWs.

»Sie verdammter Idiot! Sind Sie lebensmüde?!«, blaffte er den Carabiniere an. »Fast hätte ich Sie über den Haufen gefahren.«

»Entschuldigen Sie, Commissario«, stammelte der Polizist, nachdem er mit einer Taschenlampe den Ausweis angeleuchtet hatte, den Varotto ihm entgegenstreckte. Er hatte mindestens dreißig Kilo Übergewicht und schnaufte schwer, als hätte er gerade einen Hundert-Meter-Lauf hinter sich. »Ich … ich muss jeden Wagen kontrollieren, der hier durchwill. Ich konnte ja nicht ahnen, dass …«

»Dass Sie jemandem vor den Wagen springen, der nach 24 Stunden ununterbrochenem Dienst erst gegen halb zwei ins Bett gekommen ist, aus dem ihn die Kollegen vier Stunden später wieder herausgeklingelt haben?«, wurde er schroff unterbrochen.

»Also … Gleich da vorne ist es, nach etwa vierhundert Metern, auf der rechten Seite«, antwortete der Carabiniere eingeschüchtert. »Sie werden …«

Varotto ließ ihn nicht ausreden. Er legte den ersten Gang ein und gab Gas, so dass die durchdrehenden Reifen matschige Erdklumpen nach hinten schleuderten. Mit einem Blick in den Rückspiegel sah er den Mann völlig verdreckt im schwachen Rot der Rückleuchten wild gestikulieren. Er grinste voll Genugtuung, während er auf den immer heller werdenden Lichtschein zufuhr, eine leuchtende Insel aus Scheinwerferlicht, in deren Zentrum mehrere Personen in weißen Schutzanzügen geschäftig hin und her liefen.

Hinter zwei Polizeifahrzeugen stellte er den Wagen ab und stieg aus. Einen Moment lang drehte er sich um und blickte zurück in den Wald. Die Finsternis war unergründlich. Plötzlich presste ihm eine unerklärliche Angst die Lungen zusammen. Varotto dachte an Dottore Parella und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen, als er spürte, dass der schlammige Weg unter seinen Füßen zu schwanken begann. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Hilf mir, Francesca!, flehte er im Stillen. Und wusste doch, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte. Intuitiv lehnte er sich gegen die Fahrertür des BMWs, während seine Sinne in einen Strudel gerieten, der ihn jegliches Gefühl für Zeit und Raum verlieren ließ.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Worte kamen von weit her, wie das sanfte »Guten Morgen«, mit dem Francesca ihn so oft aus seinen Träumen in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte.

»Signore! Was ist mit Ihnen?«

Zum Greifen nah waren die Worte jetzt, und Varotto griff nach ihnen wie nach einem Rettungsanker, an dem er sich hochziehen konnte, zurück in die Realität. Er öffnete die Augen, drehte aber gleich geblendet den Kopf zur Seite.

Der ältere uniformierte Mann, der ihn angeleuchtet hatte, senkte seine Taschenlampe.

»Kann ich Ihnen helfen, Signore?«, fragte er noch einmal.

Varotto schüttelte den Kopf und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Augen.

»Nein, danke, alles in Ordnung. Ich bin nur hundemüde, hab kaum geschlafen.«

Der Carabiniere trat nun einen Schritt zurück und setzte eine strenge Miene auf, da ihm die Anweisungen seines Chefs wohl wieder in den Sinn gekommen waren.

»Darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben? Können Sie sich ausweisen?«

Varotto fühlte Ärger in sich aufsteigen. Erleichtert registrierte er, dass er wieder völlig in der Wirklichkeit angekommen war.

»Ich bin Commissario Varotto«, knurrte er den Polizisten an und hielt ihm seinen Ausweis vor die Nase. »Denken Sie, ich fahre um diese Zeit zum Spaß in den Wald?«

Der Carabiniere murmelte etwas Unverständliches und zeigte dann hinter sich.

»Vice Commissario Lucciani leitet den Einsatz. Sie finden ihn gleich da vorne.«

Varotto nickte. Lucciani leitete die Polizeidienststelle ganz in der Nähe dieses Waldstücks. Er stapfte auf die von mehreren Scheinwerfern angestrahlte Stelle zu.

Der junge Oberkommissar kam ihm schon entgegen und streckte die Hand aus, noch bevor er ihn erreicht hatte.

»Buongiorno! Sie müssen Commissario Varotto sein«, sagte er freundlich.

Trotz seiner schlechten Laune bemerkte Varotto den festen Händedruck, mit dem Lucciani ihn begrüßte. Er hatte kurze schwarze Haare wie Varotto, nur dass sein Schopf mittlerweile von silbernen Fäden durchzogen war, und war auch ein paar Zentimeter größer, vielleicht 1 Meter 90. Varotto schätzte ihn auf höchstens 28. Viel zu jung für seinen Dienstgrad, dachte er mit leisem Neid gegenüber dem gut zwanzig Jahre jüngeren Kollegen; er selbst war erst kurz vor seinem 36. Geburtstag zum Vice Commissario befördert worden.

»Guten Morgen, Lucciani«, sagte er beschämt, als hätte ihn sein junger Kollege bei dem Gedanken ertappt. »Vielen Dank, dass Sie mich so schnell benachrichtigt haben.«

Lucciani nickte ernst. »Ich habe gestern von dieser bizarren Mordserie gehört und mich deshalb gleich an Sie erinnert. Kommen Sie, Commissario, ich zeig’s Ihnen.«

»Wer hat sie gefunden?«, wollte Varotto wissen.

»Ein junges Pärchen, das nach der Disco die Stelle für ein Schäferstündchen im Auto ausgesucht hat«, erklärte Lucciani. »Wir haben ihre Personalien aufgenommen, und dann habe ich sie ins Krankenhaus bringen lassen. Die beiden standen verständlicherweise unter Schock.«

»Ist die Todesursache schon bekannt?«

»Nein. Wir konnten keine äußeren Verletzungen entdecken.«

Daniele Varotto hatte schon viele Tatorte gesehen, und obwohl er zu wissen glaubte, was er hier vorfinden würde, erschien ihm das Bild, das sich ihm bot, vollkommen surreal.

Die Männer waren auf dem moosbewachsenen Boden neben einem umgestürzten Baum platziert worden. Einer – er mochte Mitte zwanzig sein – lag bäuchlings auf dem Boden, ein Bein war unter der beigen Kutte etwas angezogen, schmutzverklebte Strähnen seines langen blonden Haares wellten sich über seinen Schultern. In skurriler Haltung kniete ein älterer, dunkelhäutiger Mann vor ihm. Mit einer Hand schien er sich auf dem Boden abzustützen, während die andere unter die linke Schulter des Liegenden geschoben war. Es sah aus, als wollte er ihm helfen, sich aufzurichten. Varottos Augen blieben am Gesicht dieses Toten hängen, der trotz des stieren Blicks und einer eigenartig wächsernen Blässe irgendwie lebendig wirkte.

»O Gott«, entfuhr es ihm, »das ist ja wie im Wachsfigurenkabinett!«

Der junge Oberkommissar nickte. »Ja, wer immer das hier getan hat, war sehr bemüht, es so aussehen zu lassen, als ob sie noch atmen.«

Langsam ging Varotto um die Leichen herum, betrachtete die Szene von allen Seiten. Lucciani beobachtete ihn eine Weile, bevor er sagte: »Sie werden keine Stützen finden, die ihn in dieser Position halten, Commissario.«

Varotto zögerte einen Moment, dann streifte er sich die Handschuhe über, ging in die Hocke und tippte mit dem Zeigefinger vorsichtig an den nackten Unterarm des Dunkelhäutigen.

Lucciani schüttelte den Kopf. »Sie müssen schon richtig zupacken.«

Varotto folgte seiner Aufforderung und zuckte sofort zurück. »Himmel, das fühlt sich an wie Stein!«

»Ja. Der Mörder muss die Körper mit irgendwas behandelt haben. Was für eine Substanz das war, wird hoffentlich die Obduktion ergeben.«

Varotto richtete seine Aufmerksamkeit nun auf den am Boden liegenden Toten und schob die dichten blonden Locken ein wenig zur Seite, so dass sein Nacken sichtbar wurde. Direkt unter dem Haaransatz war eine stark verblasste Tätowierung zu erkennen. Über einem etwa zehn Zentimeter langen, nach oben gewölbten Bogen waren zwei Symbole gestochen: ein Fisch, der durch zwei gekrümmte Linien dargestellt wurde, die an einem Ende zusammentrafen und sich am anderen überschnitten und in ihrem Fortlauf die Schwanzflosse darstellten, und darüber eine Scheibe, von der strahlenförmig Striche ausgingen, so wie kleine Kinder die Sonne malten. Varotto stand auf.

»Ist es die gleiche Tätowierung wie bei den anderen?«, fragte Lucciani erwartungsvoll.

Varotto sah den Toten noch einmal an und nickte dann.

»Ja, exakt die gleiche, sogar an der gleichen Stelle. So wie’s aussieht, wurde sie gestochen, als er noch sehr jung war. Sie ist mit der Haut gewachsen.« Er machte eine kurze Pause, bevor er hinzufügte: »Genau wie bei den anderen.«

»Und haben Sie eine Vorstellung davon, was diese Szene darstellen soll?«

Statt einer Antwort ging Varotto nochmals um die Toten herum. Seine Augen suchten den Boden ab. »Wurden schon Spuren gesichert?«

Lucciani seufzte. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind dabei. Nach dem Regenguss vorhin wird’s allerdings schwierig sein, noch irgendwas zu finden. Wonach suchen Sie?«

Wieder gab Varotto keine Antwort. Er bückte sich und schob seine Hand behutsam unter das Schulterblatt des liegenden Toten, dort, wo auch die Hand des Dunkelhäutigen verborgen war. Nach wenigen Sekunden richtete er sich auf und streckte Lucciani einen kleinen Gegenstand entgegen, den dieser erst erkannte, nachdem er einen Schritt näher getreten war.

»Markus 15,21«, brummte Varotto.

Verständnislos wanderten Luccianis Augen von Varotto zu dem kleinen hölzernen Kreuz und wieder zurück. Die beiden Männer standen sich jetzt dicht gegenüber.

»Ich habe eigentlich etwas anderes erwartet … Das hier, das ist die fünfte Station des Kreuzwegs, Lucciani«, erklärte Varotto. »Simon von Zyrene hilft Jesus das Kreuz tragen.«

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