Marmore

52

Während der ersten halben Stunde Fahrt hatten sie noch angeregt darüber spekuliert, was sie am Ziel wohl erwarten würde. Sie waren sich einig, dass sie kein Risiko eingehen wollten und sofort die Polizei benachrichtigen würden, wenn irgendetwas ihren Verdacht bestätigte. Irgendwann war das Gespräch ins Stocken geraten, bis sie schließlich nur noch stumm nach vorne auf die Straße gesehen hatten.

Kurz vor halb drei fuhren sie am Ortsschild von Marmore vorbei, während die Frauenstimme des Navigationsgerätes verkündete, sie hätten ihr Ziel erreicht. Matthias hatte nach der Beschreibung im Internet eine kleine Skizze mit dem Fußweg zu dem ehemaligen Kloster angefertigt. Sie würden vom Ortsrand aus etwa drei Kilometer durch einen Wald gehen müssen, immer bergauf, da der Gutshof rund vierhundert Meter höher lag als der Ort.

Die wenigen Geschäfte entlang der Via Domenico Faggetti waren unbeleuchtet, die dunklen Schaufenster wirkten wie Mäuler, zu einem stummen Schrei aufgerissen. Fast war Matthias froh, dass der Weg sie von dem Ort wegführen würde und nicht durch ihn hindurch.

»Sehr einladend«, bemerkte er, während er die Häuser betrachtete, an denen sie langsam vorbeifuhren.

»Um diese Uhrzeit sieht es überall so düster aus«, entgegnete der Commissario, als müsste er den kleinen Ort verteidigen.

Zweihundert Meter weiter fanden sie am Ortsrand einen Schotterplatz, auf dem vier Autos parkten. Varotto hatte den Motor gerade abgestellt, als sein Mobiltelefon läutete. Er sah Matthias an.

»Wenn das Alicia ist, werde ich sie anlügen müssen, sonst setzt sie sich sofort ins Auto«, sagte Varotto. »Sei also bitte leise.« Er meldete sich mit einem langgezogenen »Pronto«, so als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden.

»Francesco hier. Entschuldige, dass ich dich wecke, aber gerade ist wieder ein Toter gefunden worden.«

»Mist!«, entfuhr es Varotto. »Weiß der Chef, dass du mich anrufst?«

»Nein, ich bin zu Hause. Ich habe es selbst eben erst erfahren.«

Varotto schnaufte. »Danke, dass du mich informiert hast. Du kannst mir ja vielleicht Bescheid geben, wenn du dort gewesen bist.«

»Ja … Nein … Daniele …« Tissone zögerte. »Könntest du bitte zum Tatort kommen?«

Varotto war einen Moment zu verblüfft, um antworten zu können. Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Hast du vergessen, dass ich beurlaubt bin? Was, denkst du, wird Barberi dazu sagen?«

»Ach, Daniele, Barberi kreuzt doch nie am Tatort auf. Ich bin zum ersten Mal leitender Commissario. Ich möchte einfach sichergehen, dass ich alles richtig mache. Bitte, Daniele!«

Varotto stieß ein kurzes Lachen aus. »Und da möchtest du mich dabei haben?« Er dachte einen Moment darüber nach, ob er Tissone die Wahrheit sagen konnte, und gab sich dann innerlich einen Ruck. »Francesco, selbst wenn ich wollte, ich kann nicht an den Tatort kommen. Ich bin mit Matthias gerade irgendwo nördlich von Rom, über hundert Kilometer von dir entfernt.«

Tissone brauchte offensichtlich einige Sekunden, um diese Information zu verarbeiten, und Varotto befürchtete schon, die Verbindung sei unterbrochen worden, als sein Kollege sich wieder meldete.

»Hundert Kilometer von Rom entfernt? Um diese Uhrzeit? Und was tut ihr dort, um Himmels willen?«

»Es könnte sein, dass wir auf eine heiße Spur gestoßen sind. Du solltest jetzt zusehen, dass du zu deinem Tatort kommst. Du wirst dort alles richtig machen, da bin ich ganz sicher. Ich melde mich wieder bei dir. Sollte sich unser Verdacht bestätigen, kann es sein, dass wir hier schnell Unterstützung brauchen. Ciao.«

Bevor Tissone noch etwas entgegnen konnte, hatte Varotto den roten Knopf gedrückt und das Handy ausgeschaltet. Mit einem schiefen Grinsen sah er Matthias an.

»Wäre doch schade, wenn wir uns in bester James-Bond-Manier geräuschlos an dieses Castello anschleichen und mein lieber Kollege Tissone ruft mich in dem Moment wieder an.«

»Die nächste Station?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Ja«, seufzte Varotto und öffnete die Tür. »Aber vielleicht liegen wir ja richtig, und es war der letzte Mord … Hoffentlich.«

Matthias warf noch einen letzten Blick auf seine Skizze und steckte sie zusammengefaltet in die Jackentasche. Dann stieg er aus und ging im Schein der einzigen Straßenlaterne um den Wagen herum. Der Commissario hatte ihm den Rücken zugewandt und sah zum Waldrand hinüber, der etwa zwanzig Schritte weiter begann, eine undurchdringbar scheinende schwarze Wand.

»Ich hoffe, wir finden dieses Castello«, brummte Matthias. »Hast du die Taschenlampe?«

»Ja«, antwortete Varotto. Seine Stimme klang seltsam gepresst.

»Daniele?« Matthias trat einen Schritt näher. Als Varotto ihm das Gesicht zuwandte, bemerkte Matthias den leicht glänzenden Schweißfilm, der sich auf Varottos Stirn gebildet hatte. »Alles in Ordnung?«

Varotto zögerte einen Augenblick und sagte dann barsch: »Natürlich ist alles in Ordnung. Was soll die Frage?«

»Ich dachte nur …«

»Es geht mir gut.« Varotto steckte jetzt eine Hand ins Innere seiner Lederjacke. Sekunden später hielt er Matthias etwas entgegen. »Hier, nimm das.«

Als Matthias danach greifen wollte, sah er, dass es sich nicht um die Taschenlampe handelte, sondern um eine Pistole. Erschrocken zog er die Hand zurück.

»Was soll ich damit?«

»Für alle Fälle. Nimm sie. Ich habe auch eine.«

Matthias schüttelte energisch den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich habe mir damals geschworen, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen.«

»Aber das hier ist doch etwas ganz anderes. Nur für den Fall, dass wir uns verteidigen müssen und ich nicht mehr dazu in der Lage bin. Na los, nimm sie schon.«

Er hielt ihm die Waffe wieder hin, als Matthias aber entschieden den Kopf schüttelte, ließ er sie resigniert im Inneren der Jacke verschwinden.

»Also gut, ich kann dich nicht dazu zwingen. Ich hoffe nur, wir werden nicht in die Situation kommen, in der wir das beide bitter bereuen.«

»Ich würde es auf jeden Fall bereuen. Ich möchte nie wieder auf einen Menschen schießen«, erwiderte Matthias leise.

»Gehen wir«, brummte Varotto und zog die Stabtaschenlampe aus dem Hosenbund.

 

Auf dem schmalen Trampelpfad tanzte der helle Lichtstrahl mit jedem Schritt unruhig vor ihnen her. Die Kronen der Laubbäume standen hoch über ihren Köpfen so dicht zusammen, dass sie ein fast lückenloses Dach bildeten und das Mondlicht nur als schwacher, schmutzig silbriger Schimmer wahrnehmbar war. Mit jedem Meter schien die Stille, die sie umgab, näher zu rücken wie ein hungriges Raubtier. Gleichzeitig wuchs die Panik, die den Commissario Minuten zuvor nur gestreift hatte. Verdammt, dachte er, wann wird das endlich besser? Als er etwas auf der Schulter spürte, fuhr er zusammen. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Matthias hinter ihm. »Meinst du nicht, es wäre besser, wir warten, bis es hell wird? Selbst wenn wir dieses Castello finden sollten, werden wir nicht viel erkennen.«

Varotto drehte sich um. »Hast du etwa Angst nachts im Wald?« Es klang aggressiv und tat ihm im nächsten Moment schon wieder leid. Er wusste genau, warum Matthias diesen Vorschlag gemacht hatte; es war ihm dabei ganz bestimmt nicht um sich gegangen. »Entschuldige«, erklärte er deshalb schnell. »Es ist alles in Ordnung, keine Sorge. Ich sag’s schon, wenn ich nicht mehr weiterkann.«

Bald begann der Weg stark anzusteigen. Varotto keuchte, wollte die Lampe aber nicht an Matthias abgeben. Sie lenkte ihn von seinen Gedanken an feucht riechende Schwärze und dumpfe Stille ab, die ihm den Atem von den Lippen pflücken wollten. Eine Dreiviertelstunde waren sie schon bergauf durch den Wald gestolpert, als Varotto unvermittelt stehen blieb und die Taschenlampe ausschaltete.

»Was ist?«, flüsterte Matthias. »Hast du etwas gehört?«

Varotto schüttelte den Kopf. Erklären musste er nichts, denn nun sah auch Matthias deutlich den gelblichen Schimmer durch die Bäume.

Von ihrem Platz aus konnten sie eine etwa drei Meter hohe Mauer auf einer kleinen Lichtung erkennen, die die Größe eines Fußballfeldes haben mochte. Der obere Rand der Mauer war gleichmäßig von Schießscharten unterbrochen. Direkt hinter der Mauer ragte das Dach eines langen Gebäudes in die Höhe. Es zog sich fast über die gesamte Breite hin und wurde wohl von Bodenstrahlern angeleuchtet. Das Ganze wirkte sehr gespenstisch.

»Los, weiter, aber leise«, flüsterte der Commissario.

Ohne das Licht der Stablampe war jedoch ein halbwegs leises Vorankommen unmöglich. Immer wieder knackten kleine Zweige unter ihren Fußsohlen, was ihnen jedes Mal wie ein Donnerschlag vorkam, so dass sie erschrocken innehielten, bevor sie vorsichtig den nächsten Schritt wagten.

Plötzlich packte der Commissario Matthias mit festem Griff am Oberarm und zog ihn nach unten in die Hocke, wobei er fast hingefallen wäre.

»Schschsch …«

Mit der freien Hand deutete Varotto nach vorne, wo nun auch Matthias zwei schemenhafte Gestalten entdeckte, die vor der Mauer auf und ab gingen. Einer der beiden hatte etwas über die Schulter gehängt, das ein Gewehr sein konnte. Als sie an dem Mauerstück entlanggingen, das direkt vor Varotto und Matthias lag, betrug der Abstand zwischen ihnen nur noch etwa fünfzig Meter. Matthias hielt die Luft an und spitzte die Ohren, als etwas kalt und hart gegen seinen Nacken drückte.

»Aufstehen! Aber schön langsam«, sagte eine schneidende Stimme hinter ihnen.

Castello Cristo
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